Er pocht auf seine Fehler, denn Fehler bedeuten Freiheit. Eine Freiheit, die er sich nicht zubilligt, denn wenn er Fehler machte, wäre er nicht mehr frei, sondern gefangen in seinem Unwohlsein. Es stimme etwas nicht. Was stimmt denn nicht? Es stimme die Textur der Bilder nicht. Es stimme was nicht mit dem Spiel von Licht und Schatten. Es stimme etwas nicht, wenn man sich mit der Lupe dem Bild nähere oder Abstand halte, das ganze Werk aus der Ferne betrachte. So könnte es sein für ihn. Scharein. Ein Maler, der in Berlin lebt, frei, aber noch ganz Kunsterzieher. Einer, von dem man zu wissen glaubt, dass er sich selbst erzieht. Er hat sich in die Pflicht genommen, täglich akribisch Punkte zu machen. Punkte über Punkte auf einer unendlich gefräßigen Fläche.
Man stelle sich nur für einen Moment den einzigen ersten Punkt auf einer Leinwand vor. Allein schiene er auf diesem unendlichen Feld, und doch genetisch selbstbewusst, da er das ganze sich einmal vollendende Werk in sich birgt. Der Punkt ist getan für die Großtat. In Tagen, Wochen, Monaten, Jahren wird sich das Feld beleben, sich Punkt zu Punkt gesellen, sich vertragen müssen, zusammenraufen oder manchmal sogar fliehen wollen. Der Charakter jedes einzelnen Punktes birgt die Ordnung des Ganzen. Das Punktesystem Schareins könnte mit der staatlichen Ordnung von Bienen und Ameisen verwandt sein. So kommt es mir in den Sinn, wenn ich seine Bilder betrachte. Meine Hände streichen über die Erhabenheit von Strukturen. Meine Finger entziffern den Code der Punkte, suchen in den Tälern das Verborgene, ertasten Schicht für Schicht wie ein Blinder. Selbst das Unsichtbare spüre ich. Es teilt sich mir in der Unerbittlichkeit desjenigen mit, der hier gehandelt hat. Man ahnt nicht nur, sondern weiß, dass hier Schicht auf Schicht entstanden ist, um Farbe einen Sinn zu geben. Beim Betrachten der Farbfelder erschließt sich meinen Augen der Stoff, aus dem alles gemacht ist.
Der akribische Punktemaler ist ein verantwortlicher Mensch, aber die Färbung seiner Leinwände hat er als Zuchtmeister nicht durchgängig alleine bewirkt. Die Natur der Farben hat sich seiner Aufgaben bemächtigt. Ich habe ein schwarzes Gelb gesehen und auch ein lichtes Gelb, als habe der Pinsel selbst mit den Spektralfarben gespielt. Es gibt ein Schwarz, das die Farbe so in sich verschlingt, als habe ein ganzes Sternensystem einen neuen Raum gewonnen. Scharein hat dem Wesen der Dinge Spiegel hingestellt. Es ist nicht die Farbe des Offensichtlichen, sondern das Wesen der Farbe, welches in großer Tiefe angelegt ist. Es sind auch die Momente des Lichts, wenn es frei ist von aller Bestimmtheit und in seiner Willkür das Eigentliche verdeutlicht. Das Eigentliche mag die Schöpfung selbst sein. Die Religiosität des Schaffens ohne Glaubensgebundenheit. Schareins Werke sind Andachtsbilder. Er verweist auf den Isenheimer Altar als Inspiration zu seiner „Hommage á Meister Mathis“. Das erschließt sein eigenes Gespür. Auch ich als Betrachter nehme mit ihm Platz in diesem Ruheraum. Scharein, der stille Kommunikator, ein Mensch, der vergnügt viel Widersprüchliches gleichzeitig zu erzählen hat und doch Tag für Tag Ordnung schafft. Punkt für Punkt, in Ruhe und Zuversicht seiner persönlichen Bestimmung. Er hält Frieden mit sich, den Dingen und den anderen Menschen.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski