Archiv für den Monat: Mai 2013

Udo Lauer – provokant

Dass Ausstellungen der Porträts und Gesichtslandschaften, die Udo Lauer geschaffen hat, als öffentliche Präsentationen stattfinden, überrascht mich überhaupt nicht. Udo Lauer hat es immer verstanden, alles miteinander zu verknüpfen. Er ist ein Networker im besten Sinne des Wortes. Er ist halt neugierig auf Menschen, aber auch auf Natur, Technik und auf Landschaften. Lauer liegt immer auf der Lauer. Schon als kleiner Bub in Bielefeld hat er den Erwachsenen die Erklärung nicht abgenommen, dass die Milch vom Milchhändler kommt. Er bestand darauf, die Kuh selbst zu treffen. So ist er hinausgefahren aufs Land, um Kühe zu studieren. Er hat ganz früh das Beobachten gelernt, das langatmige Begreifen der Erscheinung einer Sache und ihrer Bewegung. Dabei entdeckte er auch die vielfältigen Zusammenhänge zwischen der Erscheinung und ihrer Funktion. Niemals bildet der Fotograf Lauer ein Geschöpf, einen Gegenstand oder eine Landschaft nur als ästhetisches Phänomen ab, sondern er vermittelt mithilfe des Objektivs, objektiv, d. h. auch technisch den Gegenstand seiner Betrachtung. Dadurch bleibt der Sinn, die funktional-ästhetische Zusammengehörigkeit, mithin das Ganze erhalten. Lauer zerlegt nicht, sondern bewahrt das Erlebte in seinen Bildern. Er weckt bei seinem Betrachter Verständnis für das, was er selbst beim Betrachten verstanden hat, und zwar das Wesen des von ihm ausgesuchten, angepeilten und übertragenen Eindrucks seines „Object of Desire“.

Er unterzieht sich dieser Übung aus grenzenloser Schaulust und hingebungsvoller Pflicht gegenüber den Betrachtern seiner Bilder. Sie sind ihm unersetzlich wichtig. Uns will er Geschichten erzählen von fremden Ländern, die er bereist hat, von großen Ereignissen, Entdeckungen auch im kleinsten Raum. Es lohnt sich, bei Lauers Fotografien sehr genau hinzuschauen, um zum Beispiel die Reaktion des Porträtierten auf den Fotografen selbst zu entdecken.

Lauer zieht es vor, Dialoge nicht mit Worten zu bestreiten, sonst wäre er – wie er immer mal wieder sagt – Redner geworden, sondern er erzählt mit seinen Bildern, die er seinen Betrachtern anvertraut.

Um dies zu ermöglichen, haben seine Bilder stets einen sinnvollen Aufbau. Dieser wird bestimmt durch Abstand, Respekt, klare Struktur und Wärme. Lauer ist ein lebensfroher Mensch und das wissen nicht nur seine engen Freunde. Das merkt man, selbst wenn man ihn nicht näher kennen sollte, an der Farbe seiner Bilder und ihrem Ausdruck. Die Wirklichkeit strahlt in unterschiedlicher Dichte Wärme ab, deren Quelle er in seinen Abbildungen sichtbar macht. Udo Lauer lässt seine Betrachter teilhaben, lädt sie ein, zu begreifen, ohne sie zu bevormunden. Er erzählt uns lange Geschichten der Porträtierten, bis wir zuhören wollen, und freut sich wie ein Schneekönig darüber, wenn wir anfangen, uns selbst und anderen davon zu erzählen, was wir mit ihm und seinen Bildern erlebt haben.

Lauer will, dass wir uns vorbereiten auf seine Bilder, uns Zeit lassen mit dem Betrachten und auch die Muße pflegen. Jeder sollte daher innehalten, genauer hinschauen, anstatt seine Bilder im Galopp zu erledigen. Der nur flüchtige Betrachter wird die Tiefe seines eigenen möglichen Einverständnisses mit den Abgebildeten sonst nicht erfahren.

Die Abbildung selbst hat verschiedene Ebenen und Schichten. Dies beruht darauf, dass Lauer stets den richtigen Moment sucht und auch findet, das Objekt der Betrachtung von seiner Vergänglichkeit entkoppelt und so verdichtet in seiner einzigartigen Präsenz. Um dies zu erreichen, ist viel Geduld vonnöten. Schon früh hat Udo Lauer mit seiner Agfa-Box – mehr Kiste als Fotoapparat – Blende und Zeit so lange studiert, bis er deren entscheidende Zusammenhänge begriffen hatte. Stets ist ihm der Umgang mit seinem Handwerkszeug außerordentlich wichtig. Er hat alles – wie die Berliner so sagen – „von der Pike auf“ gelernt. Er ließ sich als Aushilfe in einer Drogerie anstellen, um Filme entwickeln zu dürfen. Disziplin, Fleiß und ein unbeirrbarer Glaube an die Notwendigkeit seiner Aufgabe haben ihn zu einem verlässlichen Fotografen gemacht. Was bedeutet uns aber – den Betrachtern – die uns anvertraute Fotografie? Lauer sagt: „Das Foto ist der Triumph über die Vergänglichkeit“, nicht nur: „cogito ergo sum“, sondern „ich bilde ab, ich halte fest, also bin ich.“ Die fundamentalen Fotografie-Erlebnisse des Udo Lauer sind Prozesse von Stunden und halten doch nur Momente der Ewigkeit fest. In den Archiven der Ewigkeit sind inzwischen Tausende von Bildern, die Udo Lauer in der Zeit seines Lebens gemacht hat, und weitere kommen hinzu. Er hat damit nicht nur seinem Beruf genügt, sondern unsere Wirklichkeit, unsere Träume und Sehnsüchte vielfältig dokumentiert. Er hat sich dabei stets zurückgehalten und blieb im Hintergrund, und dabei ist er nicht nur Fotograf, sondern ein engagierter Tausendsassa, der am 28.08.1942 auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof zur Welt gekommen ist. Udo Lauer, der Weltenbummler, der Seemann, der Heiler, der Geschichtenerzähler und der Netzwerker.

Seine Menschlichkeit hat Udo Lauer stets bewiesen durch seine Fürsorge für andere Menschen, seine heilende Tätigkeit, die Adoption gefährdeter Kinder, sein Gespür für Mythen und Geschichten, seine Freundschaft, seine scheue Bewunderung für Angehörige aller Völker dieser Welt, die er während seiner langen Reisen als Seemann und Fotograf hat kennenlernen dürfen.

Die gesamte Persönlichkeit des Udo Lauer ist in einem rätselhaft klaren Satz zusammengefasst:

„Lerne ohne Pfeile Bogenschießen.“

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Unordnung

Jeder von uns kennt das Gefühl der Ohnmacht, wenn ein lange geplanter Ter­min platzt, und dies womöglich schlimmerweise noch kurz vor dem Ereignis. Die Absage erfolgt oft variantenreich mit dem bedauernden Hinweis einer plötzlichen Erkrankung. Sie sei höchst unangenehm und peinlich. Man bitte aber um Verständnis und werde sich um einen weiteren Termin bemühen. Die Absage ist natürlich erst eine halbe Stunde vor dem anberaumten Termin erfolgt. Lästig. Denn weitere Gesprächspartner haben sich auf diesen Termin eingestellt, andere Termine verschoben, überhaupt ihre ganze Tagesdisposition entsprechend ausgerichtet. Wenn krankheitsursächlich eine halbe Stunde vor dem Termin abgesagt wird, besteht keine Möglichkeit mehr, den Gewinn an leerer Zeit anderweitig positiv zu nutzen. Zu groß sind die Enttäuschung, der Ärger und das Denken an die Mühen, welche die Verabredung eines weiteren Termins erzeugen würden.

Die Absage ein, zwei Tage vor dem Ereignis wäre kein Problem gewesen. Flexibel müssen wir Menschen heute natürlich sein. „Unangenehm und peinlich“ ist an diesem Vorgang nichts. Vermutlich sollen die geäußerten Emotionalitäten die „Luft rauslassen“, den Absagenden durch offenbarte Empfindsamkeiten entlasten. Dabei vermittelt ein derartiges Verhalten nur Kläglichkeit und provoziert die weiteren Beteiligten der verabredeten Gesprächsrunde, schon die nächste nicht mehr so ernst zu nehmen, sondern geradezu darauf zu lauern, selbst einen eigenständigen Grund für die Absage des nächsten Termins zu haben. Diese Form des Umgangs miteinander ist inzwischen übertragbar auf sämtliche zwischenmenschlichen Lebensbereiche. Sie sind von Unordnung bestimmt. Eigentlich ein scharfer Kontrast zu der Ordnung, die PCs und Handys vorgeben. Der sprachliche Inhalt von E-Mails ist oft wirr und kraus. Keiner schreibt, wenn er zu Ende gedacht hat, sondern fügt in kurzen zeitlichen Abständen ggf. auch widersprüchlich seine Gedanken zusammen und versendet diese nach Belieben an beliebige Menschen. Es ist etwas gesagt. Ob dies inhaltlich stimmig ist, hängt vom Einzelfall ab. Alles vermittelt den Eindruck der Zufälligkeit und der Vorläufigkeit, wobei unsere tiefe Sehnsucht nach Ordnung und Verlässlichkeit dennoch weiter besteht. Wie wird dies in Zukunft noch zusammenzuhalten sein? Die fortschreitende Überlastung des Menschen durch überflüssige Informationen kann die Kapitulation vor Aufgaben einleiten.

Der Mensch neigt nicht dazu, das eigene Fehlverhalten einzusehen, sondern zieht es vor, noch hartnäckiger andere Menschen daran zu erinnern, dass es ihre Pflicht und Schuldigkeit sei, zu funktionieren und sein Versagen auszugleichen. „Ich selbst bin immer die Ausnahme.“ Natürlich können wir Ordnung schaffen, aber das setzt vor allem voraus, dass wir nicht in der Selbstbetrachtung unserer Zeit, unserer Ansprüche verharren, sondern den Anliegen anderer Menschen Priorität einräumen. Dann gelingt es. Mit allen, für alle.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Noli me tangere

Berühr mich nicht … eine Ermahnung, ein Befehl oder auch eine verklausuliert ausgedrückte Sehnsucht. Menschen wollen berührt werden, aber gleichzeitig befürchten sie die implizite Verletzung. Empathie zu zeigen, andere Menschen an sich heranzulassen und auch für deren Anliegen offen zu sein, entspricht einer Erwartungshaltung, die nicht einschränkungslos bedient wird. Warum fällt es uns schwer, für andere Menschen da zu sein und uns ihnen zu öffnen? Warum fällt es anderen Menschen schwer, auf uns zuzugehen, teilzunehmen an dem, was uns bewegt? Einer der Schlüssel zum Verstehen des zwischen den Menschen bestehenden Unverständnisses ist die Angst des Menschen vor Verlust. Der Mensch, der Anteil nimmt an dem Schicksal anderer oder auch einen sehr problematischen Ausschnitt seines Lebens darbietet, muss befürchten, dass der Nachschub an Zuwendung ausbleibt.

Dieses Angstgefühl ist aber nur ein Aspekt. Weitere Aspekte sind die Sorge um die Ausgewogenheit zwischen den Angeboten und deren Kompensation. Wenige Menschen investieren mehr, als sie zurückbekommen. Soweit die Kompensation mit Tauschmitteln oder Geld möglich ist, geht die Rechnung auf, aber rein menschliche Bereiche entziehen sich dieser merkantilen Betrachtung. Es findet dort ein Auswahlprozess statt. Zum Beispiel bestehen eingeschränkte Erwartungshaltungen hinsichtlich kompensatorischer Maßnahmen innerhalb der Familie. Dort ist der Mensch eher bereit, Risiken einzugehen. Außerhalb dieses Bereiches tut er das nur, wenn das Belohnungssystem auf andere Art und Weise funktioniert, institutionell oder in der kalkulierten Erwartung von Freude, Dankbarkeit und Zuwendung.

In diesem Bereich sieht sich der Mensch unter Umständen in der Pflicht. Außerhalb des Pflichtenkreises ist die Aufmerksamkeit, die Menschen anderen Menschen schenken, meist zufällig und wird davon bestimmt, ob die eigene Neugierde befriedigt, ein Prozess in Gang gesetzt, Ungleichgewichte provoziert oder Lästigkeiten beendet werden. Hinzu tritt, dass uns außerhalb des Müssens jede Anstrengung vermeidbar erscheint. Wir erledigen schnell, was uns nichts kostet, und vermitteln dabei das Gefühl der gesteigerten persönlichen Zuwendung, ohne diese außerhalb der verbalen Bestätigung tatsächlich wirksam werden zu lassen. Wir sind, was uns selbst anbetrifft, ausgesprochen empfindlich, aber berechnend und zuweilen auch rigoros, was die Interessen anderer betrifft. Am besten wird eher der Prozess der Begegnung überhaupt nicht in Gang gesetzt, denn wenn ich es untersage, selbst berührt zu werden, muss ich selbst nichts unternehmen, um andere zu berühren.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Unterforderung

In der Unterforderung des Menschen liegt der Schlüssel zu seiner Überforderung. Das mag wie ein Paradoxon klingen, ist es aber nicht. Der unterforderte Mensch drückt sich dadurch aus, dass er seine Fähigkeiten, selbst aktiv in Erfahrungsprozesse einzugreifen, reduziert, zumeist sogar verkümmern lässt. Der Grund ist eine Übersättigung mit Angeboten im visuellen und sprachlichen Bereich, ein medialer Overflow gigantischen Ausmaßes: Werbung, Internet, Fragebögen und Ansprüche. Der Mensch kommt nicht mehr zur Ruhe.

Dem gefühlten Zeitverlust folgt die Lethargie. Der Mensch fühlt sich unfähig, außerhalb des reduzierten Reaktionsmodus noch Informationen aufzunehmen oder gar Bildungsangebote zu verarbeiten. Der Mensch liest nur noch das, was er muss. Er ist bereits durch das wenige wirklich Wichtige in den Medien und in Büchern, aber auch im Internet und in den Gesprächen mit anderen überfordert. Er hastet von einer Anstrengung zur nächsten und hofft, dass es ihm gelinge, ungefährdet in Distanz zu jeglicher Herausforderung diese schwierige Prüfung seines Selbstwertgefühls zu überstehen.

Noch behauptet er seine Aufgeschlossenheit gegenüber Kunst, Kultur, dem Leben, aber erkennbar zieht der Mensch schon insgeheim jeden kurzweiligen visuellen Eindruck dem zu lesenden Text, der Lyrik oder gar einem Roman vor. Er hat in seinem Bedürfnis nach umfassender Bildung aber nicht nachgelassen und ahnt den Verlust. Der Mensch versucht, diesen zu kompensieren durch eine Überfülle von Sprachfetzen, Telefonaten, E-Mails, Handyfotografien und Musikschnipseln. Unterfordert durch die fehlende Wahrnehmungsfähigkeit eines Augenblicks oder eines wichtigen Gefühls bzw. Gedanken ist der Mensch überfordert durch die Totalität sämtlicher Eindrücke, Bilder und informatorischen Impulse. Diesem Menschen würde es helfen, einmal abzuschalten, einen einzigen Gedanken aufzunehmen, diesem nachzuhängen und darauf zu bestehen: Ich habe Zeit. Ich habe Zeit für mich, ich habe Zeit für meine Gedanken und ich habe Zeit für die Gedanken und Gefühle anderer Menschen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski