Archiv für den Monat: November 2013

NATO

Dieser Begriff ist respektheischend. Er vermittelt Entschlossenheit und Durchsetzungskraft. Die Mitglieder des nordatlantischen Bündnisses verpflichten sich, zusammenzustehen, Feinde abzuwehren, bedrängten Mitgliedern zu helfen und gemeinsam strategisch auf Herausforderungen in definierten Teilen der westlichen Hemisphäre zu reagieren. Als de Gaulle die NATO verließ und der Sitz dieser Organisation von Fontainebleau nach Brüssel verlegt wurde, bestand die Gefahr, dass die NATO implodiere. Das Gegenteil war der Fall. Nun lautete die Parole: „Jetzt erst recht.“ Weniger Rücksichtnahme auf die „Force de Frappe“ des französischen Grandseigneurs und Kämpfers der Résistance und mehr Geschlossenheit im Bündnis. Die Verzahnung der Militäreinheiten durch Stationierung auf dem Gebiet der Bündnispartner und gemeinsame Manöver verstärkten diesen Eindruck der Geschlossenheit.

Der Zerfall der Sowjetunion und die Möglichkeit, den Einflussbereich zu arrondieren, schufen Begehrlichkeiten. Die NATO erweiterte sich bis hin zur russischen Grenze und selbst den dortigen Machthabern wurde bei der NATO zur Besänftigung noch ein Beobachterstatus eingeräumt. Jetzt, so schien es jedenfalls, hatte die NATO alles unter Kontrolle, zumal selbst Frankreich wieder unter den Schutzschild dieser Organisation zurückfand. Aber war das noch die NATO, die wir kannten? Schon vor geraumer Zeit forderte der französische Präsident Sarkozy ein europäisches Verteidigungsbündnis, natürlich möglichst unter seiner Führung. Da kamen ihm die Konflikte in Nordafrika, Tunesien, Libyen und Ägypten gerade recht. Wenn es keine europäische Armee gibt, so doch die NATO. Jetzt kann sie zeigen, was sie drauf hat. Aber nanu? Einer macht nicht mit. Schon wieder ein Fontainebleau? So weit ist es noch nicht gekommen. Der, der nicht mitmacht, hält sich die Option offen, doch dabei zu sein oder auch nicht, je nachdem, wie sich der Wind im eigenen Lande dreht. Eine NATO, die Geld kostet, eine NATO, die keinen Feind mehr hat, eine NATO, die dem Bürger erklärt werden muss, eine NATO, die konsequent handeln soll. Wie soll das zusammenpassen? Vielleicht ändert sich morgen die Welt? Vielleicht gewinnt Gaddafi doch noch? Vielleicht brauchen wir libysches Öl oder sein Geld? Vielleicht ist es gut, für Atomkraftwerke zu sein, oder vielleicht dagegen, für und gegen das Klima und seine Veränderungen, sich für den finanziellen Rettungsschirm für in finanzielle Bedrängnis geratene Staaten in Europa auszusprechen oder deren Liquidator zu werden. Deutschland befindet sich in einer Vorreiterrolle. Alternativlos hat Deutschland den Weg für Möglichkeiten geöffnet, die alle Optionen wahren, je nachdem, welche Opportunität auf der Tagesordnung steht. In diesem Sinne hat Sarrazin völlig recht: Deutschland schafft sich ab. Aber die NATO wird, das zeigt das Beispiel von Fontainebleau, dadurch auch ohne Deutschland stärker.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Genau und konkret

„Was meint der Autor damit genau?“ oder „Jetzt sagen Sie mal konkret!“ Das sind heute oft vernommene, in Frageform gekleidete Aufforderungen an Gesprächspartner in Funk und Fernsehen. Was könnten Hintergründe sein für diese Suche nach Exaktheit? Es besteht kein Zweifel daran, dass Politiker den an sie gestellten Fragen ausweichen, langatmige Antworten geben, wo kurze gefordert sind, und versuchen, heikle Themen zu meiden. Dadurch wird der Unterhaltungswert eines Frage- und Antwortspiels nicht infrage gestellt, sondern durch die nichterreichte Präzisierung ergibt sich die Möglichkeit weiterer Nachfragen und neu geschichteter Antworten.

„Genau und konkret“ gibt es überhaupt nicht. Das wissen die Fragesteller ebenso wie die Befragten. Sie protestieren aber nicht, sondern gehen scheinbar auf die „konkret“ gestellte Frage ein und beantworten sie so konkret, wie sie gestellt wurde. Jede Frage hat einen Hof, einen Umkreis, der von der Frage her erklärungsbedürftig ist. Im gleichen Maße gibt es auf eine Frage auch nie eine einzige konkrete Antwort, sondern auch sie hat im Umkreis ihres Kerns eine vage Eventualität, die jede Genauigkeit als fragwürdig erscheinen ließe. Mit angeblichen Lügen, Widersprüchen und nicht hinreichend Erklärtem werden so die medialen Opfer von der vierten Gewalt „vorgeführt“, wobei die Fragesteller in einer entschiedenen und furchtlosen Rüstung erscheinen möchten, die Befragten dagegen sollen als windige Hunde gebrandmarkt sein. Doch seltsamerweise scheinen diese die ihnen zugedachte Rolle auch zu genießen. Das Spiel funktioniert und der Unterhaltungswert, der in Einschaltquoten bemessen wird, gibt dieser Form der Inquisition recht. Der schneidige Interviewer hat nur auf den ersten Blick die besseren Karten.

Zweifel, gar Selbstzweifel, nicht zu Ende gedachte Gedanken, Abwägungen und vorläufige Ansichten sind „out“. „In“ ist, was sprachlich explodiert, innerhalb der Zeitnorm Raum für weitere Fragen und Konflikte schafft, Ansatzpunkte für Geschichten bietet und/oder endgültig von der Tagesordnung verschwindet. „The Story sells“.“ Weil es um Geschichten geht, kann jeder an ihrer Ausformung mitwirken. Eine beliebte Angewohnheit von Moderatoren ist, Probanden zu befragen, was sie glauben, z. B. was geschähe, wenn das Rentenalter heraufgesetzt würde oder ein Atomkraftwerk explodiere. Diese Frage nach dem Glauben eines Gesprächspartners berührt Bereiche der Metaphysik. Im gleichen Maße wie ich an Gott glaube, glaube ich an Vorkommnisse, die mit der Heraufsetzung des Rentenalters und explodierenden Kernkraftwerken zu tun haben. Das Schöne an dieser Glaubensfrage ist es, dass damit ein weiteres Geschichtenfeld eröffnet wird, denn in Glaubensfragen kann jeder seine Verantwortlichkeit abstreifen, muss nicht mehr nach irgendwelchen Fakten schielen, sondern befragt sich selbst, sein Gefühl, seinen Verstand, seinen Bauch, seine große Zehe. Besteht ein Konsens in Glaubensfragen, wird er schnell zur Meinung der Mehrheit und damit zur Handlungsmaxime jenseits jeder vernünftigen wirtschaftlichen, naturwissenschaftlichen oder sonstigen systemischen Betrachtung. Aus dem Glauben des Einzelnen wird somit eine gesellschaftliche Gewissheit, die nur noch den Widerspruch von fragwürdigen Einzelgängern zulässt. Die Beherrschung der Instrumentarien deckt konkrete und genaue Gefühltheit und verschafft der vierten Macht das Verführungsterrain, welches sie benötigt, um ihre Einschaltquoten zu erhöhen. Darum geht’s, oder?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Selbstgespräche

„Jeder ist sich selbst der Nächste“, heißt ein gängiges Sprichwort, welches wohl aber anders gemünzt ist, als ich es hier verwenden will. Der Egoismus des Menschen ist begreiflich, denn sein Erhaltungstrieb ist darauf gerichtet, im eigenen Glanze zu jagen und zu sammeln. Gegen alle Erwartung ist sich der Mensch aber selbst nicht sehr nahe und bekannt in all seinen Gedanken und Empfindungen. Die eigene Fremdheit gegenüber sich selbst ist eine erstaunlich verletzende und gleichermaßen selbst motivierende Empfindung des Menschen. Manchmal verstehen wir uns selbst nicht, zu dicht ist das Gewebe an Lug und Trug und Erwartungshaltungen, an Enttäuschungen und Selbstgerechtigkeiten. Damit der Mensch wieder mit sich selbst ins Reine kommt, ist es erforderlich, dass er in die Lage versetzt wird, sich selbst von einer Außenposition her zu betrachten. Der Spiegel ist ein Medium der Selbstbetrachtung, der viele äußerlich geprägte Erlebnisse zulässt. Die Selbstbetrachtung des Menschen geschieht aber vorwiegend im Selbstgespräch. Der Mensch führt dauernd Selbstgespräche, ein Frage- und Antwortspiel auf hohem Niveau und mit ungewissem Ausgang. Die Regeln der für diesen Menschen oft selbst verborgenen inneren Gespräche bestimmt er selbst. Da die Regeln außer dem Menschen selbst keiner kennt, werden sie angepasst und verändert, je nachdem, welche günstigeren Ergebnisse sich der Mensch aus diesem Frage- und Antwortspiel erhofft.

Das lautlose Zwiegespräch erfordert keine Sprache. Diese Form der Kommunikation ist ungegenständlich und nimmt keine Rücksicht auf Schlaf oder Wachsein. Gedanken und Gefühle sind in ständiger Bewegung. Der Verstand bestimmt das Maß der Veröffentlichung.

Zuweilen wählt der Mensch aber auch eine andere Form des Zwiegesprächs, und zwar das offene Wort. Das offene Wort, wie es gepflegt wird zwischen Fremden, ermöglicht eine verbindliche Kommunikation zwischen den verschiedenen Ichs. Die Stärke des Gesprächs mag unterschiedlich sein, der eine bewegt nur die Lippen, der andere bezieht seine gesamte Umgebung mit ein.

Signifikant dabei ist, dass die Sprache Anteil nimmt am seelischen und gedanklichen Geschehen. Ein Teil der Kommunikation hat den Menschen verlassen und macht sich im öffentlichen Raum selbstständig. Das ausgesprochene Wort ist nicht mehr ohne Weiteres zurückzunehmen, es ist da und wartet auf die Konfrontation mit einer Entgegnung, um sich dann im Dialog zu festigen und vielleicht sogar in einer Aktion zu sublimieren. Selbstgespräche verschleiern nicht die Absicht, sondern schaffen Klarheit im Rahmen der immer sehr begrenzten eigenen Möglichkeiten. Spätestens wenn der Sprechende einen deutlichen Punkt gesetzt hat und die weitere Entwicklung den Ichs außerhalb seiner Gestaltungssphäre anvertraut. Das gesprochene Wort hat an Bedeutung zugelegt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Freundschaft

„In aller Freundschaft.“ Je nach Wortwahl und Bewertung kommt diese Freundschaft gefällig daher oder mit einem drohenden Unterton. „Ich sage dir das jetzt in aller Freundschaft“ oder „In aller Freundschaft bleiben wir uns verbunden“. Was ist Freundschaft? Freundschaft hat viele Gesichter. Sie schafft einen vertrauten Menschen, mit dem man persönliche Dinge erörtern und teilen kann. Denn wir alle wissen, dass, trotz aller Soap-Opern, die im Fernsehen laufen, unsere Mitmenschen herzlich wenig am Schicksal anderer Menschen interessiert sind, soweit sie nicht selbst direkt oder indirekt davon betroffen werden. Freundschaft kann hier etwas anderes sein: Aushalten, dass der Freund uns Dinge anvertraut, die außerhalb dieser Freundschaftswelt zum Wertverlust, insbesondere zur Aberkennung sozialen Prestiges führen würden. Freundschaft bedenkt soziale Geborgenheit, zumindest auf Zeit. Freund ist der, der zuhören kann, die gleiche Sprache spricht, über die gleichen Witze lacht und meist ansprechbar ist, wenn man ihn braucht.

„Freundschaften muss man pflegen.“ Lebensweisheiten haben immer einen tiefen Sinn. Sie bedenken, dass der Mensch dem anderen Menschen fremd ist und nur die zuwendende Verabredung diese Fremdheit lockert, Freundschaft ermöglicht. Freundschaft ist aber nicht nur Freundschaft. Freundschaft hat Aspekte und spezielle Gründe. Sie kann auf wirklichem Interesse an einem anderen Menschen beruhen oder auf einer Erwartungshaltung, durch einen anderen Menschen eine Bereicherung zu erfahren. Allerdings wird eine Freundschaft, die in erster Linie auf einem Anspruchsverhalten beruht, scheitern, sobald deren Mechanik vom anderen „Freund“ durchschaut wird. Wahre Freundschaften sind nicht oberflächlich, sondern tief inniglich. Freundschaften brauchen das Gespräch, zuweilen auch die Nähe eines anderen Menschen, zumindest die Gewissheit seiner Nähe. Im Idealfall sind die Freunde so getaktet, dass sie einander auch ohne große Worte verstehen. Manchmal genügt es, schon von dem anderen zu wissen, dass es ihn gibt. Der Freund ist ein Garant für die Möglichkeit, zu leben. Denn wie ein verlässlicher Bürge hat er für den anderen Freund Mitverantwortung übernommen. In aller Freundschaft ist dies nur die eine Seite der Medaille. Denn wie viel Lug und Trug braucht das Leben? Wir machen uns ständig etwas vor, heucheln und bluffen. Das gehört zu unserer Entwicklungsgeschichte, zeichnet unser Leben aus. Verlassen sind wir uns selbst überlassen, der Freund tarnt unsere Absichten. Er ist das Alter Ego, der Wunschkandidat unseres Ichs oder auch der Fremde in uns. Zu ihm, dem eigenen Freund, befinden wir uns in exklusiver Nähe, in Konkurrenz und stetiger Habachtstellung. In aller Freundschaft nützt er uns aus und unter dem Deckmantel der Freundschaft bemächtigt er sich unserer Gefühle und will uns zum Vasallen haben. Freundschaft ist anstrengend, weil sie von den Freunden verlangt, jederzeit auf sie verzichten zu können, wenn die Unabhängigkeit gefährdet ist. Freundschaft ist nur möglich zwischen souveränen und integeren Menschen. Sonst ist Freundschaft in aller Freundschaft nur Selbstzweck oder Kalkül.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Die Erfahrung der gesunden Ernährung

Oft lassen wir es uns richtig gut schmecken. Am besten schmeckt, was viel Fett, Salz und Glutamat enthält, aber auch das Auge isst mit. Wir haben eine Vorstellung, wie Essen aussehen muss. Es muss nicht nur frisch sein, lecker duften, sondern uns auch schon optisch verführen. Wenn es dann auch so schmeckt, wie wir es gesehen haben, dann ist der Genuss vollkommen. Was wir dann an Zusatzstoffen und beigefügten Aromen zu uns genommen haben, ist zumindest für den Augenblick eher nebensächlich. Zuweilen verspüren wir eine kleine Erschütterung im Magen, fühlen uns nach dem Essen müde und abgespannt. Aber schon nach der nächsten Herausforderung sind wir wieder einsatzbereit. Das Essen soll unseren Hunger vertreiben, uns aber auch trösten und ein gutes Gefühl der Geborgenheit verbreiten. Das wollen Eltern nicht nur für ihre Kinder, ihre Heranwachsenden, sondern ebenso für ihr Baby. Das Kleinstkind soll satt werden, sich geborgen fühlen, sich am Essen erschöpfen und möglichst wieder einschlafen. Der mütterliche Milchsegen reicht oft bald nicht mehr aus und die Eltern beginnen, ihrem Kind Fertignahrung zu verabreichen. Zunächst in der Flasche und später wird dann vorwiegend aus gebrauchsfertigen kleinen Gläsern das Essen gelöffelt. Auf Säuglingsnahrungen aus Gläsern strahlen alle Kinder um die Wette, die Gläschen und Tiegel zeigen frisches Obst, Haferflocken vom wogenden Feld und jede Zutat wirkt frisch und appetitlich. „Frisch auf den Tisch“ gilt allerdings für Säuglingsnahrung nicht.

Auch wenn das Fläschchen oder das kleine Gläschen noch so harmlos aussieht, es ist Teil einer Massenproduktion von Kindernahrung, die in gigantischen Kesseln hergestellt wird. Teils automatisch, teils mit Hand werden tonnenweise Obst und Gemüse verarbeitet, Qualitätskontrollen werden selbst-verständlich durchgeführt, aber der Wettbewerb um die Nachfrage bestimmt den Preis. Die Kalkulation ist entsprechend. Der Aufwand wird weitergegeben an den Kunden. Der Kunde will seinen Kindern selbstverständlich etwas Gutes tun und verfüttert ihm die durchaus teuer erworbene Nahrung bis zum Bodenrest. Das Kind protestiert nicht, sondern gewöhnt sich an die ihm zugeführte Menge. Bei Verlust der gewohnten Mengen schreit es. Das Kind stellt sich ein auf einen bestimmten Geschmack. Wird ihm dieser vorenthalten, so schreit es. Hat sich das Kind an Fertignahrung erst einmal gewöhnt, wird es kaum mehr bereit sein, sich auf Selbstgemachtes der Eltern einzustellen. Aber nur beim Selbstgemachten besteht die Gewähr dafür, dass die Eltern zuvor zunächst selbstständig untersucht haben, ob die Zutaten etwas taugen, die von ihnen hergestellte Speise dem Kind auch bekommt und ob die zugeführte Menge an Essen auch aufnahmefähig und bekömmlich ist. Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass die maschinell hergestellte Essensware der eigenen Auswahl und Zubereitung durch die Eltern überlegen ist. Es ist nur eine Frage der Gewohnheit und unserer Bequemlichkeit, was unser Kind zu essen bekommt. Es ist nicht die Menge des zugeführten Essens für das Kindeswohl maßgeblich, sondern dessen Gehalt. Dieser Gehalt drückt sich nicht nur aus in Kalorien und Joule, sondern in der Nachhaltigkeit der zugeführten Energie. Einen derartigen Energiekompass habe ich bei Fertiggerichten bisher nicht feststellen können. Selbst hergestellte Babynahrung ist nicht nur für Kleinkinder schmackhaft und bekömmlich, sondern erfahrene Eltern bangen stets, ob von der Kindermahlzeit noch etwas für sie selbst übrig bleibt. Sie schmeckt ja so gut!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Die Erfahrung des Singens

„Nun singet und seid froh.“ So lauten Ermunterungen, die mit dem Singen zu tun haben. Und in der Tat, Singen bereichert unser Leben, erreicht unser Herz und unsere Sinne, fördert zudem unsere Empfindungen und unser Sprachvermögen. Alle Menschen singen oder haben zumindest das Bedürfnis, es zu können. Meist scheitern sie an der fehlenden Ausbildung. Und diese Ausbildung sollte bereits im frühkindlichen Stadium beginnen. Wenn die Eltern singen können und einigermaßen liedfest sind, überträgt sich diese Fähigkeit auch auf ihre Kinder, die später das ganze Potenzial ihrer Möglichkeiten, ebenfalls zu singen, ausschöpfen können. Deshalb hat die Ruck – Stiftung des Aufbruchs mit dazu beigetragen, dass Kurse eingerichtet werden, in denen erfahrene Musik- und Gesangspädagogen Eltern das Singen beibringen. Dabei erlernen Eltern nicht nur Liedtexte, sondern gewinnen Selbstsicherheit im Umgang mit ihrer eigenen Fähigkeit zu singen, werden angeleitet, diese Fähigkeit ihren Kindern weiterzugeben, indem sie diesen das Singen ebenfalls beibringen usw. Eltern werden in diesem Prozess begleitet, ihnen werden Ratgeber an die Hand gegeben und sie haben jederzeit auch Gelegenheit, mit erfahrenen Experten Rücksprache zu nehmen, um das Erreichte und Erlernte nicht zu verlieren, sondern ggf. auch noch weiter zu formen und zu bestätigen.

Die von der Ruck – Stiftung des Aufbruchs initiierten Kurse finden im Umkreis von Entbindungsstationen statt, werden aber auch in besonderen ausgewählten Heimen und Begegnungsstätten angeboten. Damit soll die Sing- und Erzählkultur wiederbelebt werden und Eltern sollen an Sicherheit im Umgang mit ihren Kindern gewinnen. Der sprachliche Austausch zwischen Eltern und Kindern, auch über das Singen, ist nicht zu ersetzen, weder wohlmeinend durch eine CD mit Kinderliedern noch gar durch Fernsehen. Bis etwa zum Eintritt des dritten Lebensjahres sind Kinder bezüglich der Medien nicht aufnahmefähig, sondern auf eine ständige Interaktion mit ihren Bezugspersonen angewiesen. Das Kind ahmt nach, unter anderem auch die Mundstellung seiner Eltern. Diese Vorteile können bei der rein mechanischen Wiedergabe von Liedern und Musik z. B. auf CD nicht genutzt werden.

Auch ist es wichtig, Lieder ständig mit dem Kind zu wiederholen, damit es Gelegenheit hat, sich alle Einzelheiten zu merken und einzuprägen. Der Volksmund sagt: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“ Der Volksmund hat recht: Wenn die Eltern beharrlich dabei bleiben, ihre Kindern das Singen zu lehren, haben sie selbst viel Spaß dabei und natürlich die Kinder auch. Das ist dann ein starkes gemeinschaftliches Erleben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Die Erfahrung von der kindlichen Vielfältigkeit

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Es ist auch für Eltern oft sinnvoll, dem Volksmund Gehör zu schenken. Tatsächlich beginnt bereits der Fötus zu lernen, der Geburtsvorgang selbst ist eine wichtige Lernerfahrung und alle kommenden Begegnungen mit der Umwelt sind prägend für die Ausbildung der kindlichen Vielfältigkeit. Ich bin davon überzeugt, dass meine erste Begegnung nach der Geburt als Berühren einer kühlen Unterlage, zum Beispiel eines Kissens, stattgefunden hat. Noch heute versuche ich oft im Bett eine etwas kühlere Stelle, einen Bettzipfel oder dergleichen zu erhaschen. Dann erinnere ich mich an meine Geburt. Es muss ein sehr heißer Tag gewesen sein und die Diakonissen auf der Entbindungsstation sollen „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen, der große Dinge tut an uns und allen Enden …“ gesungen haben. All das, aber auch die frühe Zuwendung meiner Mutter, ihre Ansprache, war prägend für mein Interesse an Sprache, Musik und Gesang. In atemberaubender Schnelligkeit adaptiert sich jedes neugeborene Kind an seine Umwelt, nimmt diese Eindrücke auf, verarbeitet sie und legt sie lebenslang in seinem Erinnerungsspeicher ab. Der Erinnerungsspeicher steuert das Verhalten, provoziert die Erprobung verschiedener Möglichkeiten und koordiniert die Reaktionen hierauf. Werden keine Angebote unterbreitet, schaltet sich der junge Mensch ab oder nimmt das Fehlen von Angeboten als das übliche Daseinsmuster wahr. Die Vielfältigkeit reduziert sich auf das bloße Überleben, wobei sich die Unsicherheit gegenüber dem richtigen Maß und den eigenen Chancen verfestigt. Vielfältig stimulierende Angebote an das neugeborene Kind bestärken dieses sehr bald in seiner Erfahrung, dass man beweglich sein darf, um seine Ziele zu erreichen. Die in Ansatz vorhandene Vielfältigkeit des Kleinkindes folgt damit einem Lebensentwicklungs- und Erhaltungstrieb.

Durch Singen und Erzählen, überhaupt ständiges Reden mit dem Kind kann es das ganze Potenzial seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten entwickeln. Die Pflege des häufigen körperlichen Kontakts mit dem Kind, indem man es berührt, stimuliert seine Erkenntnisfähigkeit. Durch Begreifen wird das Kind selbstbewusster. Bereits in der frühkindlichen Phase ist es möglich, die Kreativität eines Kindes zu fördern, es durch kneten, malen und basteln Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten entwickeln zu lassen. Alle Impulse, welches das Kind durch körperliche Betätigung, Musik und Sprache erfährt, verharren nicht nur in ihren jeweiligen Disziplinen, sondern wirken sich interdisziplinär auf die Entwicklung der anderen Fähigkeiten aus.

Das in seiner Vielfältigkeit erkannte und geförderte Kind hat später vermutlich weniger Schwierigkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden und seine Talente zu nutzen.

Barrieren stellen für diese Menschen keine unüberwindbaren Schwierigkeiten dar, sondern sind Herausforderungen zu noch größeren Leistungen, um diese zu meistern.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski