Archiv für den Monat: Juni 2014

3. Bildung als ganzheitliche Erfahrung des Menschen

Ich will aufzeigen, dass Bildung keine abstrakte Herausforderung der Gesellschaft gegenüber dem Menschen darstellt, deren einziger Zweck allein darin besteht, institutionell erfasst und verarbeitet zu werden. Bildung ist vielmehr eine konkrete Herausforderung, eine Chance für jeden einzelnen Menschen, der er sich in seinem Leben mit Genugtuung stellen kann. Bildung ist nicht Selbstzweck. Sie ist nicht bestimmten Menschen und bestimmten Schichten zugehörig. Sie erfreut und erbaut nicht nur, sondern ist entscheidend verantwortlich für Lebensmuster. Der gebildete Mensch muss sich nicht jegliche spirituelle und materielle Erfahrung selbst erarbeiten, sondern kann vielfältige Bezüge zu anderen Menschen und deren Gedanken schaffen und seine Möglichkeiten, ein sinnerfülltes Leben zu führen, dadurch verstärken. Unabhängig von diesem sehr individuellen Aspekt ist Bildung aber auch diejenige Matrix, die es den Menschen erlaubt, gemeinsam geistige Erfahrungen zu verarbeiten, d. h. gemeinsam davon zu profitieren, dass Philosophen, Sprachwissenschaftler, Kulturschaffende, Künstler, Theaterleute und viele andere Menschen einen Fingerzeig für neue Schöpfungen gegeben haben und diese bewahren.

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Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

2. Bildungsbewusstsein

Jeder Mensch ist an sich bildungsbewusst. Bildung ist kein Phänomen, welches der Mensch von vornherein ablehnt, sondern dies geschieht nur dann, wenn er den Eindruck hat, er könne nichts damit anfangen, sie sei ihm feindlich gesonnen, überfordere ihn oder bringe ihn nicht weiter. Die Öffnung der Bildung für alle Menschen beginnt daher nicht mit Bildungseinrichtungen, sondern mit der Feststellung, welche Voraussetzungen überhaupt geschaffen werden müssen, damit der Mensch von sich aus Bildung beansprucht.

Bildungsnachfrage jedes einzelnen Menschen kann dadurch stimuliert werden, dass dem einzelnen Menschen und der Gruppe insgesamt folgende Bildungsmerkmale nahe gebracht werden:

  •  Erweiterung der kreativen Freiräume
  •  Begreifen von Vorgängen
  • ƒ Erleichterung bei Problemlösungen
  • ƒ bessere Selbstverwirklichungschancen
  • ƒ Stärkung der Kommunikationsfähigkeit
  • ƒ Wissensverarbeitung als Ergänzung zur Wissensakkumulation
  • ƒ ständige Dialogfähigkeit mit gespeichertem Wissen und Erkenntnissen
  • ƒ erweiterte berufliche und gesellschaftliche Chancen
  • ƒ Anerkennung und Überlegenheit
  • ƒ Lehrfähigkeit und Übermittlung eigener Erkenntnisse
  • ƒ Genuss von Form und Inhalten.

Auch wenn die vorgenannte Liste nicht vollständig ist, signalisiert sie gleichwohl, dass jeder Einstieg in die Bildungsdiskussion  mit den Bedürfnissen  jedes einzelnen Menschen nach Bildung und der Bildungsverpflichtung unserer Gemeinschaft zu tun hat. Diese Herausforderung müssen wir neu definieren, entsprechende Bildungsanreize schaffen und das Notwendige konkret und kompetent in Bildungsangeboten mit geeigneten Einrichtungen und Fachleuten umsetzen.

Dies bedeutet die Schaffung des „Systems Bildung“.

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Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

I. ASPEKT BILDUNG

1. Bildungsprovokation
Was unter Bildung zu verstehen ist, wissen wir recht genau. Eine Neubewertung der Bildung halten wir gleichwohl für erforderlich, weil wir wissen, dass wir im Begriffe sind, in der Unbildung zu ertrinken. Deshalb erweitern wir den Bildungsbegriff auf all diejenigen Fähigkeiten des Menschen, die nicht unmittelbar mit den notwendigen täglichen Verrichtungen zu tun haben. Lesen, Schreiben, Rechnen, Bild-, Ton- und Wortaufnahme erklären wir zu Bildungsexponaten, obwohl sie diese Auszeichnung allein stehend nicht verdienen. Bildung ist die Fähigkeit, unter der Fülle von Wissensangeboten  eine Auswahl zu treffen, diese zu verbinden, Eindrücke zu gestalten und sie gegebenenfalls auch sinnstiftend einzusetzen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich mit mehr auseinanderzusetzen, als mit dem was z. B. Medien, Computer, Fernsehen aber zuweilen auch Erzählungen oder Theaterstücke vorrätig halten. Bildung beruht auf Erkenntnissen, seien diese geschichtlich, künstlerisch oder sprachlich bedingt. An dieser Hürde gemessen, sind wir inzwischen ein ungebildetes Volk, dessen Interesse mehr auf Konsum und Unterhaltung und weniger auf Erkenntnisse, d. h. das tiefe Eindringen in die Dinge, ausgerichtet ist.

Mit Lesen, Schreiben, Rechnen lässt es sich sicher komfortabel leben. Derartige Fähigkeiten sind auch unverzichtbar für die Aufrechterhaltung unserer Zivilisation. Sie reichen allerdings nicht aus, um unser Gemeinwesen unter Bildungsgesichtspunkten zu evaluieren. Es ist mehr vonnöten als das Pflichtpensum  an Schulen und „convenient living“. Wichtig ist es, einen Grundkonsens bezüglich des Lebens auszugestalten. Das Leben ist nicht Spaß, sondern Ernst. Das Leben bestimmt sich nicht nach Einschaltquoten, an denen gemeinhin auch Bildung gemessen wird, sondern an seiner Gegenwart, seinem Schöpfungsreichtum und seiner Vergänglichkeit. Das Beharrungsvermögen der Bildungsverweigerer mag an Anzahl der Personen und deren Hartnäckigkeit groß sein, jedoch ist es möglich, aufzuzeigen, dass die Wasser abfließen und eine ausgetrocknete Bildungslandschaft auch den Profiteuren der verantwortungslosen Spaßgesellschaft keine Lebensgrundlage mehr bietet. Wir müssen die Lyrik, die darstellende Kunst und das Theater, Opern und Konzerthäuser pflegen, damit die materielle Gier und die geistige Verwahrlosung diese letztendlich nicht selbst gefährdet. Ich setze darauf, dass eine Peripetie dadurch eingeleitet wird, dass infolge der Abflachung unseres Bildungsniveaus der Abstieg unseres Landes im internationalen Bildungsvergleich wahrnehmbar zu verzeichnen ist und daher der Wille zur Selbstbehauptung eine nachhaltige Umkehr bewirken wird. Statistiken sind nur dort verlässliche Gradmesser, wo sie Anhaltspunkte für eine sachorientierte Interpretation liefern.

Die Vermittlung von Bildung beginnt nicht erst im vierten Lebensjahr, schon gar nicht alleine durch sogenannte Bildungsinstitutionen. Der Bildungsauftrag kann weder an Schulen noch an Eltern delegiert werden. Bildung, die Vermittlung von Bildung an Kinder und junge Menschen ist eine Aufgabe unserer ganzen Gesellschaft. Dessen waren sich frühere Gesellschaften durchaus bewusst. Anregungen und Impulse bekamen Kinder und Jugendliche früher nicht nur aus dem eigenen Elternhaus, sondern auch von Dritten aus Erzählungen, Vorhaltungen usw. Ein potenzielles Korrektiv wäre wünschenswerterweise das Fernsehen gewesen. Dieses kann aber seiner Rolle nicht gerecht werden. Fernsehen vermittelt keinerlei Bildungsinhalte, sondern provoziert zum Abschalten. Konsumverhalten ist heute gefragt statt eigener kreativer Reaktionen. Es ist sicher richtig, dass eine große Verantwortung für die Bildung des Menschen bei den Schulen liegt. Es ist aber völlig irrig anzunehmen, dass hierbei wesentlich die Unterscheidung zwischen Privatschule und öffentlich-rechtlicher Schule eine Rolle spielt. Entscheidend ist die Lehrbereitschaft. Um Maßstäbe zu schaffen, haben wir Schule nicht nur zunehmend verrechtlicht,  sondern auch Standards festgelegt, die einerseits eine befriedigende Leistungsabgrenzung ermöglichen, zum Anderen aber gerade dasjenige vergesellschaften, was eigentlich evaluiert werden müsste, und zwar die Fähigkeit jedes Einzelnen, sich zu bilden.

Schule an sich institutionell ist völlig irrelevant. Relevant ist der ausbildungsfähige und ausbildungsinteressierte junge Mensch einerseits und der Lehrer andererseits. Beide müssen zusammenkommen. Üblicherweise wird dies heute so gestaltet, dass Kinder oft lange Schulwege auf sich nehmen, um in ein Schulgebäude einer Zentralschule zu gelangen. Welche verhängnisvolle Behinderung! Wäre es nicht eher sinnvoll, Bildungsangebote dort zu unterbreiten, wo Kinder und Jugendliche sind, damit sie sich in ihrem Gemeinwesen wohl fühlen, in ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt bleiben und dort ihr Leben führen? Was spricht dagegen, Lehrer auf die Wanderschaft zu schicken, ihnen Gelegenheit zu geben, mit Intensität Kleinst- oder Kleingruppen, gegebenenfalls auch im Schichtbetrieb auf dem Lande, in Dörfern oder Kleinstädten zu unterrichten, anstatt Kinder und Jugendliche von ihrem natürlichen Lebensumfeld zu entfremden? Offenbar sind wir nicht in der Lage, Bildung als ein umfassendes Menschenrecht und eine Verpflichtung zu begreifen, die nicht nur institutionell und zentral, sondern auch lebendig an den erforderlichen Stellen angeboten wird. Lehrer, die sich auf Wanderschaft begeben würden, könnten auch zusätzlich in mobilen Volkshochschulen ältere Menschen, gegebenenfalls auch für nicht berufsbezogene Ausbildungsinhalte, begeistern. Insgesamt glaube ich, dass wir zu den Anfängen zurückkehren und wieder neu und mit besserer Begründung unsere Schritte beginnen müssten.

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Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

SYSTEM LEBEN

Das Leben als ein System zu bezeichnen, stellt eine Selbstherausforderung dar, der ich mich gerne stellen werde. Das Leben umfassend beschreiben zu wollen, wäre vermessen. Es spiegelt sich wider in den Gesetzen der Natur, unserer Fähigkeit zur freien Entscheidung und gegebenenfalls auch in dem, was wir überhaupt nicht wissen, allenfalls ahnen und was möglicherweise auch mit der Spiritualität des Menschen zu tun hat. Mein Anliegen ist, bestimmte Aspekte des Lebens zu benennen und sie untereinander in einen Beziehungszusammenhang zu stellen. Dies zum Einen, weil es jedem Einzelnen von uns die Gelegenheit bietet, sich darin zu reflektieren, andererseits auch deutlich wird, dass eine Orientierung, d. h. die Ausrichtung an einer systematischen Ordnung unseres Denkens und Handelns geeignet sein kann, Lebensfreude, Neugier und Bewältigungswillen für unsere Probleme zu schaffen. Eine umfassende Darstellung ist weder gewollt, noch kann sie geleistet werden, sondern jeder ist berufen, durch eigene Gedanken, Erfahrungen, Forschungen und gedanklichen Austausch mit anderen dazu beizutragen, dass das Leben im Sinne aller Menschen, sowohl der kommenden als auch der alten Menschen, ein herausforderndes, aber vor allem erfülltes Leben ist.

Zunächst benenne ich den Aspekt Bildung. Bildung setzt bei dem noch nicht geborenen Leben an. Eltern und unsere ganze Gesellschaft müssen sich auf das kommende Leben vorbereiten, dessen Erwartung begreifen und schon vor der Geburt bereit sein, sich auf die Ausbildung des neuen Lebens einzulassen. Es sollte ferner ein persönliches Interesse an der Gesundheit bestehen. Im Sinne der Erhaltung des Lebens ist aber auch die gesamte Gesellschaft aufgerufen, die Bedingungen für die Gesundheit systematisch zu überdenken und Fehleinstellungen sowohl im allgemein präventiven Bereich als auch im medizintechnischen oder vor allem im persönlichen Bereich zu korrigieren. Die Stärkung des Lebenswillens des Menschen und dessen Heilung ist ein komplexes Thema und hat entscheidend mit unserer Einstellung zum Leben zu tun. Wie wir leben, ist ein weiterer Aspekt im Rahmen dieser Betrachtung. Wir leben in Räumen als müssten wir uns gegen einen Feind verteidigen. Im Englischen heißt es konsequent: „My home is my castle.“ So ist es geblieben, wir haben die Schotten dicht gezogen, obwohl die Ansprüche einer sich verändernden Welt eigentlich  Einfluss auf die Plätze unserer Begegnungen  haben müssten. Welchen eigenen Weg wir finden, um unser Leben zu meistern, bleibt uns überlassen. Wir alle können uns gegenseitig nur Angebote machen, die wir beherzigen wollen, verändern oder ablehnen. Das Wunderbare am Leben ist seine Vielfältigkeit. Diese zu stärken und zu erhalten, ist das Anliegen der hier vorliegenden Studie.

Viel Vergnügen!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Der Philosoph

Gladiolus Tolschelinko entschloss sich, Philosoph zu werden. Doch wie? Er studierte seine Mitmenschen und stellte gewisse Unterschiede fest. Das war die erste Entdeckung. Es folgten weitere, teils aus eigener Beobachtung, teils aus Hinweisen im Fernsehen. Es traf sich gut, dass er – war es Zufall? – einen Bettler aus Aserbaidschan traf, der ihm sein Leben erzählte. Das genügte. Seiner Zimmerwirtin sagte er, sie solle ihn in Ruhe lassen, und auch von seinem Zimmernachbarn verbat er sich jede Störung. Er ordnete seine Gedanken und schrieb sie alle auf, dann subtrahierte und addierte er nächtelang – wobei ihn Sergej Iwanowitsch doch noch manchmal störte – bis er vor sich selbst erschauderte. Das Resultat war einfach überwältigend: Nichts ist, wie es ist, aber wenn es ist, kann es nicht so sein wie das Nichts, denn nichts ist nichts ohne alles und Alles ist nichts ohne Nichts. Er konnte nicht mehr schlafen ohne diese Gedanken, aber auch nicht mit ihnen. Er starrte an die Zimmerdecke.

HINWEIS:
Hiermit beende ich den Auszug aus „Beinahe russische Geschichten“.
Die „Beinahe russischen Geschichten“ erhalten Sie in jedem gutsortierten Buchladen und auf Amazon. Viel Spaß damit!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Medienschelte

Leo Plugoff wusste noch bis vor kurzem, was ihm die Stunde geschlagen hatte. So ungefähr Anfang November war der Jahrestag der Oktoberrevolution, ungefähr im Januar war Weihnachten und später begann das neue Jahr. Und dann geschah eine Veränderung, die aus dem Radio zu vernehmen war. Das schien ihm aber für das Leben nicht so wichtig zu sein, denn – so wusste Leo Plugoff – die Radiouhren tickten ohnehin anders. Eine Radiostunde war regelmäßig etwa halb so lang wie eine Plugoffstunde. Plugoff ärgerte sich immer über diese Eile und war daher überhaupt nicht verwundert, als man im Radio urteilte, Weihnachten sei jetzt im Dezember und das Jahr beginne künftig Anfang Januar. Plugoff staunte nur, dass die Leute im Radio sich so beeilt hatten, dass es ihnen sogar möglich wurde, ganze Wochen einzusparen. Für Plugoff, der die Gedanken an diese ungeheure Zeitersparnis allmählich wieder verlor, blieb zunächst alles beim Alten: seine Stunden länger, länger als die Nacht und der Tag. Plugoff vergaß und nichts wäre ihm wieder in den Sinn gekommen, wäre nicht plötzlich die Katze seines Nachbars verschwunden, wobei alles Suchen nichts half und das Jammern und Weinen seines Nachbars kaum auszuhalten war. So wünschte sich Plugoff, dass seine Zeit schneller vergehe, und erinnerte sich an die Radioberichte. Nach ungefähr zwei Wochen – so rechnete Plugoff aus – würde der Nachbar soviel geschrien, geweint und gelärmt haben, dass ihm keine Stimme mehr bliebe und alles wieder seine Ordnung hätte. Der kühne Gedanke war da, aber es fehlte noch die Verbindung zwischen dem Gedachten und dem Gewinsel des Nachbarn. Das Radio musste auf äußerste Lautstärke gestellt werden. Vielleicht überholt sich dann die Zeit. Und der Jammer.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

nach und nach Amerika

Über den Verkauf der günstig gelegenen 1-Zimmer-Wohnung wurden sich Alexeij Tichonow und Boris Jablonski einig. Alexeij Tichonow wollte endlich nach Amerika und Boris Jablonski endlich eine Wohnung, denn er hatte keine. Der Preis war ausgehandelt, auch der Makler war bedacht, und schon nach einer Woche war der Termin beim Notar. Das herzliche Einvernehmen der beiden wurde nur von einem Problem überschattet. Alexeij Tichonow brauchte das Kaufgeld, um sich die Flugkarte nach Amerika zu kaufen und auch um alle Vermittler zufrieden zu stellen. Boris Jablonski wollte aber erst bezahlen, nachdem er in die Wohnung eingezogen sein würde. So biss sich die Katze in den Schwanz und beide waren sehr betrübt über diese missliche Situation. Sie dachten beide getrennt und auch zusammen nach. Die Situation erschien ausweglos. Sie hatten aber Berater, deren Klugheit man wirklich nur preisen kann. Der kühnste Vorschlag überzeugte beide. Alexeij Tichonow sollte nach und nach ausziehen, Boris Jablonski nach und nach einziehen, bis alles sein Gleichgewicht fände, der eine verschwunden und der andere da sei. So sollte es auch mit dem Kaufgeld sein; es sollte nach und nach in die Tasche von Alexeij Tichonow fließen. Man wollte sich an die Gezeiten erinnern: Ebbe bei Boris Jablonski und Flut bei Alexeij Tichonow. Der grandiosen Idee folgte sofort die Tat. Alexeij Tichonow machte in seiner Wohnung Platz für Boris Jablonski.

Ein Regal war schnell geräumt, auch ein weiterer Stuhl fand seinen Platz, der Tisch wurde geteilt und über die Benutzung von Küche und Bad wurde man sich auch noch einig. Selbstverständlich benutzten sie nicht dieselbe Zahnbürste.

Leider war kein Platz für ein weiteres Bett. Der spontane Entschluss, das Bett abwechselnd zu nutzen, erwies sich als Fehlschlag, denn das bedeutete für Alexeij Tichonow Auszug und Einzug und für Boris Jablonski Einzug und Auszug. Die Situation war an dieser Stelle unklar und brachte Alexeij Tichonow kein Geld und Boris Jablonski keine Besitzerruhe. So befolgten sie den Rat der noch klügeren Ratgeber und legten sich gemeinsam in das Bett. Zunächst Alexeij Tichonow an der Innenseite und Boris Jablonski an der Außenseite, dann Boris Jablonski an der Innenseite und Alexeij Tichonow an der Außenseite. Im wohl kalkulierten beiderseitigen Interesse drängelte Boris Jablonski Alexeij Tichonow allmählich aus dem Bett, bis der auf den Boden fiel, und warf eine Anzahlung des Kaufgeldes hinterher. Dann sägten sie gemeinsam den Stuhl von Alexeij Tichonow kürzer und halbierten den Tisch. Jedes Mal gab es Geld. So ging das zehn Tage.

Die Wohnung ist nun eingeebnet und Boris Jablonski liegt seelenruhig in der Badewanne und schläft. Alexeij Tichonow ist schon fast in Amerika, hat er doch kluge Vermittler und Ratgeber, und wenn er müde wird, schläft er in der Wartehalle des Flughafens ein bisschen ein und träumt davon, dass es bald losgeht.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Formulare

A füllte Formulare aus. Das misslang. Es missfiel ihm aber nicht. Er blieb geduldig. Solange er Formulare ausfüllte, kamen die anderen Gedanken nicht, zum Beispiel, dass er eigentlich noch auf den Markt gehen müsste. Er hatte somit beides: eine Aufgabe und eine Ausrede. Er hoffte, dass es noch lange dauern würde, und die Länge der Formulare gaben ihm recht. So war ihm eigentlich alles kommod. Er war zufrieden mit sich und warf ab und zu einen kleinen dankbaren Blick in Richtung des Beamten, der die Ausgabe der Formulare überwachte. Die sich häufenden Fehler beim Ausfüllen der Formulare wurden von dem Beamten zunächst gleichmütig, aber dann mit persönlichem Interesse registriert. Ob es die Angst war, dass die Formulare ausgehen könnten, oder der Argwohn, auf Seiten As läge Absichtlichkeit vor, der Beamte sah allmählich doch mit wachsend strenger Aufmerksamkeit A beim Ausfüllen der Formulare zu, öffnete leicht den Mund bei jeder schwierigen Entscheidung und klappte ihn zu, wenn sich zwischen der Beantwortung einer Frage und der Anspannung bei Lösung der nächsten eine Pause ergab. So ging das eine ganze Weile. Verpatzte A eine Frage und machte dadurch den ganzen Fragebogen wertlos, konnte man im Gesicht des Beamten beobachten, wie mit der Zeit Ärgerlichkeit in Trauer und Verzweiflung umschlug. Das Verhalten von A entsprach ganz seiner persönlichen Situation. Von Sabotage konnte keine Rede sein. Das musste also nun gemeinsam durchgestanden werden. Der Beamte widmete sich den Fragen, beriet A, dem er sich jetzt völlig zuwandte und die Formulare dabei fast achtlos zum Verbrauch einsetzte. Jede gelungene Beantwortung wurde zum gemeinsamen Sieg, jeder Fehlschlag brachte sie einander näher. Der Beamte griff selbst hin und wieder ein, korrigierte und formulierte Antworten. Es gab Fragen, die beide in tiefe, ernsthafte Gespräche verwickelten und solche, deren gelungene Lösung einem gemeinsamen Triumph gleichkam. Unangenehm waren Meinungsverschiedenheiten. Man einigte sich darauf, eine andere, zufällig anwesende Person als Schiedsrichter anzurufen, ohne natürlich zu versäumen, dem Schiedsrichter aufgrund des gewonnenen Erfahrungsvorsprungs ebenfalls gute Ratschläge zu erteilen. Schwierig wurde es bei Fragen, die keiner von beiden verstand. Sie wurden zurückgestellt, wobei die weißen Stellen, die die fehlende Antwort markierten, etwas beunruhigten. Man kam immer wieder darauf zurück. Eine Antwort war erkennbar nicht zu greifen, deshalb fingen sie an, die Fragen zu interpretieren. Schließlich konnte man ja alles so oder so sehen. Nicht, dass sie es gewagt hätte, den Fragebogen grundsätzlich infrage zu stellen, aber doch die Einstellung zu den Fragen. Dass dabei Vorwürfe gegen den Fragesteller selbst laut wurden, war zunächst eher unabsichtlich und beiläufig, später allerdings deutlich – sie kamen nicht mehr darum herum, die Fragen zu korrigieren, anders zu stellen, um die leeren Felder zu beseitigen. Es verwirrte A, dass es der Beamte in einem Anflug von Unbeherrschtheit selbst war, der eine ganze Frage plötzlich strich und sie als überflüssig tilgte. A bestand darauf, dass man es sich nicht so einfach machen dürfe und alles, was gedruckt sei, schließlich einen Sinn habe. Es entwickelte sich eine Diskussion, die prinzipiell geführt wurde. Festzuhalten bleibt, dass es dem Beamten gelang, sich durchzusetzen. War es zunächst nur eine Frage, die er strich, kannte seine Kühnheit bald keine Grenzen mehr. Ganze Komplexe wurden geschwärzt, Sätze gestrichen; ein Blick genügte. A widersprach nicht mehr, gab sich geschlagen. Und als schließlich der Beamte den ganzen Fragebogen durchstrich und mit Unterschrift und Stempel bescheinigte, dass damit alles erledigt sei, befiel A eine tiefe Trauer. Er zweifelte an der Kompetenz des Beamten und befürchtete, dass es der Beginn einer neuen Zeit sein könnte, in der er, statt Fragebögen auszufüllen, auf den Markt zu gehen hätte und ihm weder geistige Aufgaben noch Ausreden blieben. Seine Situation war trostlos, grußlos verließ er die Amtsstube.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski