Der Krieg war aus und vorbei, die Menschen hatten es wieder zu etwas gebracht. Sie stellten Kerzen ins Fenster für die Brüder und Schwestern in der Zone (sowjetische Besatzungszone bzw. „DDR“). Ganz Deutschland existierte im Kopf noch in den Grenzen von 1938, auch wenn die Westdeutschen nur noch ein Teilchen davon besaßen. Weil das Angebot an Arbeit mehr war, als wir verkraften konnten, hatten wir im Westen „Gastarbeiter“ im Land und starke Gewerkschaften. Rationalisierungsmaßnahmen wurden beschlossen, Überstunden gemacht, die Samstagsarbeit abgeschafft und die Freizeitangebote wuchsen. Zu Gogo und Isetta gesellten sich Kadett und Opel Rekord. Die Gesellschaft legte los, Häuschen wurden gebaut und der Lebensstandard stieg. Dies verdankte Deutschland seiner fetten Mittellage. Abgesehen von erfolgreichem Reparationshandel, der der BRD den Aufschwung brachte, blieben Fragen zu Kriegsschuld und Holocaust ausgegrenzt. „Die Gnade der späten Geburt“ erfasste auch diejenigen, die zunächst nichts sagen wollten zu ihren frühen Naziberührungen. Die Alten schwärmten von ihrem Krieg und ihren Heldentaten. Ein Volk von Tätern gab es nicht, sondern allenfalls Verführte. Die „leichte“ Schuld drückte aber dennoch schwer. Es war einfach schlecht, ein Deutscher zu sein, und doch war man deutsch durch und durch. „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht“, der 60er-Jahre-Hit von Drafi Deutscher, Peter Kraus und Conny Froboess’ „Pack die Badehose ein…“, Peter Alexander und der Frankenfeld, Höfers „Frühschoppen“ und das Testbild. Es ging uns rund um gut. Als Pfahl im Fleisch der DDR war Berlin ohnehin die Insel der politischen Glückseligkeit. Alles was Berlin an Waren erreichte und streifte wurde veredelt mit einer Berlinzulage, die gesamte Berliner Infrastruktur vom Bund gezahlt. Unsere Schutzmächte passten auf uns auf und der 1. Mai war nicht der Kampftag der Arbeiterklasse, sondern das Bekenntnisforum: „Wir sind das Inselvolk.“ Wir, die Deutschen, die wir eigentlich nur Glück gehabt hatten, dass wir vom Kalten Krieg profitieren durften, betrachteten uns plötzlich sogar als die „sieben Aufrechten“ der westlichen Welt. Spätestens seit dem Mauerbau 1961 und schon seit den unvergesslichen Ansprachen der Bürgermeister Reuter und Brandt war jedem verantwortlichen Berliner Bürger klar, wo er stehen musste, wollte er seinen Status als aufrechter Insulaner nicht verlieren. Sozusagen die Betriebszeitungen dieses Berlins waren Bild und BZ, die Morgenpost, aber auch Die Welt. Dort wurde zum Ausdruck gebracht, was der Berliner dachte und das von ihm nicht Gedachte mitgedacht, sodass eine behagliche Einheit entstand zwischen den Medien und dem Berliner Volk, seiner Verletztheit in der Mitte eines erstarrten Kommunistischen Meeres und seinem Frontwillen: „Die Festung wird nicht geräumt.“
Den Feind hatte der Bürger damals klar im Visier. Die bessere Welt des Westens wurde gestählt durch die Reden Eisenhowers, Kennedys, Johnsons und Nixons. Alle waren auf der Hut vor Leuten wie Chruschtschow und Breschnew. Nur wenige Kilometer von der Mauer entfernt gab es in Ostberlin noch die Stalinallee. Der linke Geist lebte. Die Bundesrepublik Deutschland hatte andererseits das Privileg, trotz bestehender Bundeswehr keine Kriege mehr führen, sich nicht beteiligen zu müssen an den Schlachten und Gemetzeln in der Welt, sondern in völliger Ruhe nur dem Frieden verpflichtet zu sein. Alles lief gut, das Unternehmen Bundesrepublik Deutschland konnte so nur durch Saboteure herausgefordert werden.
Der Angriff kam völlig unerwartet aus Liverpool. Die Beatles. Die Beatles mit ihren Liedern, die kraftvoll jede Harmonie zerstörten, einem Anspruch Ausdruck gaben auf eine provokante, vielfältige und verletzliche Identität. Die Haare, ein lächerlicher Umstand. Sie wuchsen erst durch die Züchtigung der Gesellschaft zu einem markanten Symbol der Selbstbefreiung. Diejenigen mit langen Haaren waren plötzlich Individuen, die nicht mehr mitmachten im allgemeinen, deutschen Streben nach Prosperität und Selbstbehauptung, sondern sich absonderten von einer Gesellschaft, die in Ost wie West kollektivistisch angelegt war. Entweder bist du einer von uns oder gegen uns. Die Rechnungen wurden meist ganz einfach aufgemacht. Derjenige, der plötzlich Cordhosen trug und lange Haare hatte, war ein anderer, war ohne spezifischen Vorwurf ausgegrenzt und konnte aufgrund der so gewonnenen Freiheit seine eigenen Ansprüche formulieren. Es gab die ganz Freien, die sich einem solchen – wie Camus in „L’Homme Révolté“ – der persönlichen Rebellion zur Verfügung stellten. Andere Individuen dagegen suchten zu ihrem Schutz ein neues Kollektiv und fanden z. B. in Sartre und Mao ihre Lehrmeister. Da sie das Kollektiv der Bürger ausgegrenzt hatte, mussten andere Gruppierungen das Vakuum füllen. Man stürzte sich auf bis dato fast unbekannte Helden wie die Anarchisten Bakunin, Netschajew und Durruti oder auf Fidel Castro und Che Guevara. Im Kopf entstand so der historische Kampf. Lieder von Ernst Busch tauchten auf. „Halt’ stand, rotes Madrid.“ Der Überfall der Legion Condor auf Guernica wurde plötzlich thematisiert, Tabus brachen auf und die Eltern begannen sich zu fürchten vor den Fragen ihrer Kinder. Noch aber war die Szene nur angerissen, die wechselseitigen Vorwürfe nicht ausformuliert. Argwohn und Misstrauen gegenüber den Konsequenzen dieses Wissensdurstes ihrer Kinder entstanden in der Elterngeneration. Wegen ihres unbekannten Verhaltens, ihrer Aufsässigkeit und wegen der langen Haare wurden Schüler ermahnt, sogar der Schule verwiesen. Es gab schlechte Zensuren und Versetzungsschwierigkeiten. Es waren noch die Probleme Einzelner, die Gesellschaft insgesamt davon noch nicht erfasst. Wie es in den Wald hineinschallte, so rief die Jugend zurück. Es schien sich am Anfang um Proteste zu handeln, wie es auch die „Halbstarken“ Anfang der 50er Jahre artikulierten. Die Bedeutung des Aufruhrs war noch nicht belastet. Die Lebensplanung war im Großen und Ganzen noch familiär vorbestimmt. Dies sowohl auf Arbeiter- als auch auf bürgerlicher Ebene. Die einen wohnten traditionell im Wedding oder in Neukölln, die anderen in Studentendörfern in Zehlendorf oder zu Hause bei ihren Familien. Viele fühlten sich durch Leben und Studium privilegiert, hatten berufliche Karrieren im Visier. Manche hielten sich in Berlin auf, weil sie den Bund schwänzten, d. h. nicht zur Bundeswehr wollten. So gab es ein paar Drückeberger und durch den freien Teil Berlins geformte Studenten an der Freien Universität Berlin, welche im amerikanischen Sektor lag, geprägt durch den Henry-Ford-Bau und großzügig unterstützt vom Bund und den Alliierten, einige sogar in Dahlemer Villen untergebracht, beschaulich und einladend, effizient und neotraditionell: Das war die Freie Universität Berlin.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski
Mehr davon gibt es im nächsten Beitrag …