Archiv für den Monat: November 2014

Nach 1968 (Teil 2)

Die Alt-’68er sagen, wir wollten etwas bewegen, Dinge inhaltlich verändern. Dies ist zum Teil richtig. Der andere Teil entsprach aber nicht einem überwältigenden Erkenntnisgewinn, sondern dem Drang, etwas zu wagen und dadurch im eigenen Leben neue Impulse zu setzen. Die Lebensvorstellung, wie die Eltern der Kriegsgeneration den Nachkriegsaufschwung zu verwalten und weiterzuentwickeln, schien den Jugendlichen trostlos. Paradox daran war allerdings, dass gerade die Gesellschaft aufgrund ihrer im Grundgesetz verankerten Bereitschaft, Handlungsoptionen zuzulassen, entscheidend dazu beitrug, dass die vielfältigen politischen und persönlichen Ausdifferenzierungen der Studentenbewegungen gelangen. Zwar hat die Springerpresse gehetzt und Politiker haben Studenten als Wirrköpfe bezeichnet, aber letztlich war jede Form des Protestes möglich, die Demonstrationsfreiheit blieb geschützt und die Proteste führten auch zunächst nicht zu großen sozialen Verwerfungen. Vielmehr unterstützten Kreise der Bevölkerung gerade diese Protestbewegungen zumindest heimlich, wahrscheinlich weil sie selbst Angst hatten, an der Biederkeit und Rechtschaffenheit dieser Gesellschaft zu ersticken. Selbst zu Zeiten der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ war diese Form der Unterstützung noch spürbar, wobei es den Protagonisten dann nicht mehr gelang, eine Solidarisierung unter den Studenten aufrechtzuerhalten, sondern jeder versuchte auf seine Art und Weise das Geschehen zu erklären und die Eskalation mit seinem eigenen entwickelten Weltbild abzugleichen. Das war außerordentlich schwierig, ging die Betrachtung doch einher mit dem Eingeständnis, diese Form der Gewalt nicht erwartet zu haben, letztlich politisch gescheitert zu sein. Die RAF war nicht die Fortsetzung der studentischen Proteste mit anderen Mitteln, sondern offenbarte, wie anfällig eine Gesellschaft auf Provokateure des linken oder rechten Spektrums reagieren muss. Keiner wollte verführbar sein, sich eingestehen, dass eine Ensslin, ein Baader oder eine Meinhof genauso ihre intellektuellen Fähigkeiten und aggressiven Möglichkeiten genutzt haben, um sich durchzusetzen, wie z. B. auch jede faschistische Schlägertruppe dies bis heute tut. Nicht von ungefähr ist daher zu mutmaßen, dass Horst Mahler sich niemals in einem linken oder rechten Lager bewegte, sondern sich selbst treu blieb in seinen Beherrschungsfantasien. Wir, die Studenten, sind den Entwicklungen auf den Leim gegangen und haben später versucht, durch Differenzierungen wie „Gewalt gegen Sachen und nicht gegen Menschen“ uns abzusetzen von den furchtbaren Entgleisungen. Um uns nicht eingestehen zu müssen, völlig auf dem Holzweg gewesen zu sein und den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten, sprachen wir nicht nur bei Benno Ohnesorg von Mord an einem Studenten, sondern bei der Erschießung von Ratthey auch vom „Berliner Blues“, etwas wie ein Mysterium staatlicher „Hinrichtungen“ in Berlin. Als sich nach der gescheiterten Entführung der Lufthansamaschine nach Mogadischu die Häftlinge in Stammheim töteten, war dies „Staatsmord“. So blieb noch länger etwas von der Identität der ’68er, nachdem diese Bewegung bereits schlimm gescheitert war.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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Nach 1968 (Teil 1)

Die Zeit um ’68 hat unsere Gesellschaft verändert. Dies ist aber kein Verdienst Einzelner, sondern, so wie Dutschke meinte, ein dialektischer Prozess, der unausweichlich ist, um eine Gesellschaft voranzubringen. Die Vielfältigkeit hat sich erhalten. Monolithisches ist aufgebrochen und unsere Gesellschaft gleichmütiger und offener für Veränderungen geworden. Es hat aber auch eine Entsolidarisierung unserer Gesellschaft stattgefunden. An der gesellschaftlichen Kehrwoche sind nur noch diejenigen beteiligt, die im Souterrain wohnen, und nicht mehr die im Penthouse. Die gesamtgesellschaftliche Kontrolle wurde im Zuge der „Nach-68er-Bewegung“ abgeschafft. Die Bürgergesellschaft erwarb keinen inneren Zusammenhang, sondern verkörpert bis heute Zweckmäßigkeit mit Anspruchsdenken.

Das Leben als Bühne – und jeder Einzelne von uns hatte in der Zeit um ’68 die Gelegenheit, sich selbst zu beteiligen, im Scheinwerferlicht zu stehen. Eine herrliche Zeit, alles auszuprobieren, vom Sex bis zum rüdesten politischen Gedanken. Entscheidend aber war, dass niemals der Zwang bestand, selbstverantwortlich für diesen Gedanken und die daraus abzuleitende Handlung zu sein. Marx und Lenin standen zur Verfügung, aber auch Trotzki oder gar die Anarchisten. Die persönliche Revolte fand ihre Verklärung durch Che Guevara und für einige gab es sogar die sozialistischen Beispiele vor der eigenen Haustüre. Die DDR musste zu Rechtfertigungen herhalten aber vor allem die fernöstlichen Regimes wie Nordkorea, Nordvietnam und natürlich China. Die Rechtfertigungslogik für das eigene Verhalten war allgegenwärtig. Nicht der eigene Gedanke war von entscheidender Kraft, sondern die Möglichkeit, aus den Gedanken Anderer, angefangen von Habermas über Reich bis Betty Freeman, die eigenen Handlungsoptionen abzuleiten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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1968 (letzter Teil)

Dutschke war ein Vorgebildeter, einer, der schon was wusste, als keiner der Studenten auch nur die blasseste Ahnung von Marx, Lenin und der gesamten Arbeitergeschichte hatte. Es wurde ihm daher leicht gemacht, die Themen zu besetzen und Studenten unter seine Fittiche zu nehmen. So er kann, geht jeder Mensch den bequemen Weg. Was Dutschke verkündete, musste nicht mehr überprüft, geschweige denn nachgelesen werden. Es war halt so wie er es sagte. Da die Mehrheit applaudierte, war es den Meisten auch recht. Es leuchtete vielen aber auch ein, was er sagte, denn die Zustände in Deutschland waren verdächtig, angesichts des gesellschaftlichen Phlegmas, der Verschärfung der Arbeitsbedingungen in Fabriken und Betrieben und der Eindeutigkeit der weltpolitischen Machtansprüche der Führungsmacht USA. Die Beschreibung des Unterdrückungsszenarios überzeugte und die Gutmenschhaltung, für die Arbeiter- und Unterdrücktenklasse selbst dann etwas tun zu wollen, wenn dies von ihr überhaupt nicht erbeten wurde, war festgemacht an der angeblich fehlenden Aufklärung der Arbeiter über ihre ausgebeutete Situation. Es war die Selbstsuggestion, sich dem Werteverfall entgegenzustemmen, die schließlich dazu führte, dass sämtliche Werte implodierten, als sich erwies, dass die Phrasen der Wirklichkeit nicht entsprachen, sondern von den Handelnden selbst konterkariert wurden. Deutlich, wie immer ging es auch bei dieser Auseinandersetzung nur um Macht und deren Verteilung, ob in Straßenkämpfen in Frankfurt am Main, in Berlin oder Hamburg.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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1968 (Teil 5)

Genau dies war auch die politische Motivation für die Notstandsgesetzgebung unter der Ägide des Regierenden Bürgermeisters Klaus Schütz. Eigentlich kam der Druck von der Straße und wurde politisch aufgenommen und umgesetzt. Die damals handelnden Sozialdemokraten nach der Willi-Brandt-Ära standen einem Noske der Weimarer Republik in keiner Weise nach. Es waren die Neumanns und Frankes, Sickerts und Dünnsings. Deren Unvermögen zuzuhören, etwas infrage zu stellen, zu zweifeln und das eigene Verhalten zu korrigieren, haben schließlich zu der Radikalisierung studentischer Proteste und dann auch mit zu Gewaltübergriffen geführt.

Gewalt war als Mittel der Auseinandersetzung nicht geplant. Dies verdeutlicht sich an ganz hilflosen Floskeln wie: „Gewalt gegen Sachen und nicht gegen Personen.“ Zurecht ist diese Differenzierung später scharf verurteilt worden, als man gesehen hat, dass die Baader-Ensslin-Methode der Brandstiftung im Frankfurter Warenhaus und deren Verharmlosung zur Hemmungslosigkeit der RAF führte. Es gab eine Zeit von 1965 bis Ende 1967, in der wurden studentische Anliegen nicht wahrgenommen. Die Handelnden in den Universitäten und die politisch Verantwortlichen glaubten, das Phänomen der studentischen Proteste aussitzen zu können. Rektor und akademischer Senat verweigerten sich. Diese Hartleibigkeit angesichts der schon weltweiten Empörung in Amerika und Frankreich erhitzte mehr als die eigene Interessenlage die Gemüter und führte zu einer Verschärfung des Protestes.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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1968 (Teil 4)

Abgesehen von den eindringlichen Bildern der „Fox tönenden Wochenschau“ schärften Filme unser Bewusstsein für die gesellschaftlichen Konflikte. Filme spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer Haltung, die sich im Widerspruch zu den gängigen gesellschaftlichen Klischees befand. Überhaupt waren die Medien der eigentliche Motor der studentischen Bewegung. Ohne das Fernsehen wären Menschen wie Dutschke, Baader und Meinhof unentdeckt geblieben, allenfalls lokale Phänomene. Die mediale Abbildung der Krawalle auf dem Kurfürstendamm, die fast öffentliche Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg, die spätere Blockade der Springer-Gebäude und Brandstiftungen sind erst dadurch in das Licht der Öffentlichkeit gerückt worden, dass Film, Fernsehen, Rundfunk und schließlich auch die vielfältige Presse darüber berichteten. Jeder Student besorgte sich den „Abend“, um mit Begierde darüber zu lesen, was am Vortag geschah, insbesondere, wenn er selbst an einem Vorkommnis beteiligt war. Die Möglichkeit der Selbstbespiegelung in einer erstarkenden medialen Welt beförderte die Sucht nach immer gravierenderen Anlässen der Selbstbestätigung. Die Presse tat das Ihre dazu, insbesondere natürlich die Springerpresse, die ihre Auflage zu steigern wusste, indem sie sich zum Einen als Opfer stilisierte, zum Anderen die Stimmung aufheizte, um weiter gute Geschäfte zu machen. Die Springerpresse zog in diesen asymmetrischen Krieg mit der Behauptung, sie sei der Wahrer der eigentlichen bürgerlichen Anständigkeit und des Gemeinsinns. Mit ihrer Auflagenstärke mobilisierte sie den Kleinbürger, gaukelte ihm vor, sein Besitzstand, seine Moral seien in Gefahr und schickte ihn auf die Straße, um gegen studentische Anmaßung zu protestieren und deren Rädelsführer auszuschalten. Das ist dann auch gut gelungen, wenn man bedenkt, dass es bei Protestkundgebungen dazu gekommen war, dass Bürger auf Studenten einprügelten und schließlich durch öffentliche Unterstützung der prügelnden Schah-Standarte vor dem Schöneberger Rathaus mit das Klima geschaffen wurde, das zur Gewalteskalation in der Krummen Straße nahe der Deutschen Oper und zur Erschießung von Benno Ohnesorg sowie dem erfolgreichen Attentat auf Rudi Dutschke führte. Heinrich Albertz hatte dies politisch zu verantworten, nahm seinen Hut und bereute. Er, der als Sozialdemokrat und bekennender Christ, Gollwitzers Freund, Widerständler gegen die Nazis und sicher ein aufrechter Demokrat war, wurde verführt durch die Suggestion der Bilder und Worte, vor allem die Angst, dass die Errungenschaften Nachkriegsdeutschlands im wirtschaftlichen und sozialen Bereich wieder zur Disposition gestellt werden könnten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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1968 (Teil 3)

Unser Leben war aber im Großen und Ganzen normal. An den Protesten konnten wir teilnehmen oder nicht, uns eine Meinung darüber bilden, ob wir Alexander und Gesine Schwan als reaktionär empfinden sollten oder nicht, eintauchen in bürgerfremde Lebenswelten, wie Kommune I. Wahrscheinlich mussten wir dies alles nicht erleben, weil Andere es für uns taten. Das Bild der Kommune I wurde durch die Stadt gereicht. Nie hätte ich mir vorstellen können, nackt mit Anderen und die Beine gespreizt an der Wand zu stehen. Andererseits reizte die sexuelle Freizügigkeit und war wohl der Motor für viele Aktivitäten, auch wenn dies kaschiert werden sollte. Trotz Oswald Kolle gab es sexuelle Freizügigkeit in der deutschen Gesellschaft überhaupt nicht und schon gar nicht zum Ende der 60er Jahre. Die von Studenten geforderte sexuelle Freizügigkeit war kein für die Frauen emanzipatorischer Akt, sondern eher eine notdürftig legitimierte Betätigungsvariante für junge Menschen. Verführung, politische Verbrämung des Interesses an hemmungsloser Lust entsprach der studentischen Obsession. Plötzlich war es möglich, erotische Spielvarianten aufzurufen, ohne sich mit etwaigen Vorbehalten auseinandersetzen zu müssen. Von sexueller Befreiung der Frau daher keine Spur, sondern nur Gestaltungsmöglichkeiten der Lust des Mannes ohne Reue. Um das Abweichen von der Normempfindung nicht schmerzhaft werden zu lassen, wurden von Mitscherlich bis Reich Rechtfertigungsepisteln geschrieben. So wurde trocken konstatiert, dass ein häufiger Partnerwechsel gesellschaftlich günstig wäre, in der Natur der Sache liege und auch politisch vernünftig sei. Alles war erlaubt. Keiner durfte oder konnte im eigenen Interesse gegen das sein, was nun gefordert war, sondern musste seine eigenen Vorbehalte entweder überwinden oder zumindest in gewissen Kreisen nicht offenbaren. Diese damals angelegte Schizophrenie zwischen Wahrnehmung, eigenen Vorbehalten, Wirklichkeit und politischen Ansprüchen wirkte sich auch später sehr zum Nachteil von Familien und ihren Kindern aus. Ewige Bindungen, die doch sehnlich gewünscht waren, wurden von den Partnern im Sog eines sogenannten gesellschaftlichen Prozesses verraten und eingetauscht gegen eine schmerzhafte Libertinage. Unter Aufgabe der Individualität vergesellschafteten die Protagonisten ihren Körper, ihren Geist und ihre Sinne und schufen so den Boden für den späteren Irrsinn, der im Terrorismus seinen stärksten Ausdruck fand. Fast bedeutsamer ist dabei, dass sich eine Spaltung in unserer Gesellschaft vollzog, und zwar zwischen denjenigen Menschen, die staatliche Autorität forderten, und denjenigen, die sich vom Staat abwandten. Der Staat hatte, so scheint es mir jedenfalls, diese Chance für sich auch erkannt und seine Autorität nicht nur im Bereich der Sicherheit zum Ausdruck gebracht, sondern in den 70er Jahren auch die Gelegenheit ergriffen, die staatliche Fürsorge auf alle Bereiche des aus sich selbst bestimmten Handelns seiner Bürger auszudehnen. Dem braven Bürger ging es in den 70er Jahren gut. Er verlor nach und nach die Lust am eigenen Handeln und denunzierte diejenigen, denen das staatliche Handeln nicht passte, als Störenfriede, als „Ratten“ gar, „die man zurück in die Löcher treiben“ müsse.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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1968 (Teil 2)

Die Zwangsexmatrikulation nach dem 12. Semester war das eine, das andere die Revolte anheizende Thema war das Engagement der USA in Vietnam. Dieses Thema beflügelte wie kein anderes die Fantasie der Studenten und gab Gelegenheit zur Solidarität mit einem völlig unbekannten Volk in Asien, verschärfte aber entscheidend den Solidarisierungseffekt unter den Studenten. Es ging von Anfang an gegen die USA. Die USA waren Schutzmacht in Berlin und wurden von den staatlichen Autoritäten sehr hofiert. Die FU selbst erschien dabei als amerikanisches Konstrukt. Über kurz oder lang wären die Amerikaner daher wegen ihrer Präsenz in Berlin fällig gewesen, und zwar auch dann, wenn es nicht Vietnam, sondern irgendein anderes Ereignis gegeben hätte, in welches sie verstrickt waren. Aber der Protest war keine deutsche Erfindung, sondern das, was in den USA begonnen hatte, war in Berlin höchst willkommen. Je staatstragender verkündet wurde, was die Berliner den Amerikanern verdankten, umso höhnischer fiel die Replik der Studenten aus. Amerika hatte schwer zu schaffen mit der Konversion einer Segregationsgesellschaft in eine gemischte Gesellschaft von weiß und schwarz, musste das aufkeimende Bewusstsein gegenüber der Urbevölkerung, den Indianern erleben, Abschied nehmen vom Mythos „God’s own Country“ und unseligerweise auch in die asiatische Katastrophe schlittern. Japan, Laos und Kambodscha entsprachen bereits der amerikanischen Fehlkalkulation, Vietnam kam hinzu. Dort hatten die Franzosen versagt. Es war ihnen nicht gelungen, das korrupte Regime gegen Ho Chi Minh erfolgreich in Stellung zu bringen. Die Amerikaner fühlten sich gerufen und begannen 1963, ihre Möglichkeiten zu erproben. Elegant für die Franzosen, sich zurückzuziehen, und ein Debakel für die USA. Außenpolitische Erfolge waren gefragt und Kennedy hätte nicht gezögert, Zeichen zu setzen, wäre ihm das Risiko nicht selbst zu hoch erschienen. Nun waren die USA nolens volens Kriegspartei in Vietnam und Dank einer zunehmend medialen Öffentlichkeit Projektionsfläche öffentlicher Proteste auch an der Freien Universität Berlin. Napalm, brennende Dörfer, vor allem aber das augenscheinliche Missverhältnis zwischen an Footballplayer erinnernden Soldaten und ihren Counterparts mit Strohhüten, verwitterten Gesicherten und langen Pfeifen schärften das Gerechtigkeitsgefühl. Dieser Suggestion der Bilder vermochte sich niemand zu entziehen. Neben inneruniversitären Problemen hatten die Studenten so ein weiteres Thema, welches Solidarisierungen gestattete, und zwar über kontroverse politische Ansichten hinweg.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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1968 (Teil 1)

Etwas ehrfürchtig betrat ich den Campus der Freien Universität. Nicht, dass ich schon viel über diese Universität gehört und mich daher ihre wissenschaftliche Bedeutung beeindruckt hätte, nein, es war der Statusgewinn, nunmehr als Student der Freien Universität zu gelten, der mich reizte. Verblüfft war ich daher, als mein Studium im Frühjahrssemester 1966 mit einem Sit-in begann. Als Austauschschüler in den USA waren mir diese passiven Widerstandsformen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung aus den Jahren 1963 und 1964 durchaus geläufig gewesen, diese aber auch in Berlin erprobt zu sehen, schien mir doch außergewöhnlich. Es machte die Freie Universität etwas amerikanisch, ein Sit-in im Henry-Ford-Bau daher als Streikform auch für mich durchaus aufregend modern und akzeptabel. Anders verhielt es sich mit dem Anlass dieses Sit-ins. Es ging um die Zwangsexmatrikulation nach dem 12. Semester. Für mich, der gerade mit seinem Studium beginnen wollte und keineswegs vorhatte, ewig zu studieren, sondern – wie ich damals dachte – irgendwann Diplomat werden wollte, war der Grund für diese Erregungen eher lächerlich. Nebenbei erfuhr ich, dass es viele altgediente Studenten an der Freien Universität gab, die sich durch ihren Rausschmiss bedroht sahen. Es ging vor allem aber ums Kräftemessen mit dem akademischen Senat, insbesondere mit dem Rektor unserer Universität. Natürlich wogen wir das Für und Wider der Argumente ab, versuchten, die Gründe für den Aufruhr zu verstehen, entscheidend war aber das großartige Versammeln der Studenten zu einem Thema an sich und die Möglichkeit, eine gesteigerte Wahrnehmung des studentischen Anliegens zu erzwingen. Den Nutzen dieser Übungen sollten wir sehr schnell bei anderen Themen wie z. B. Vietnam und den Notstandsgesetzen erfahren. Diese Vorübungen der großen Kämpfe an der FU verschafften auch den politischen Talenten Landowsky, Dutschke, Rabehl, Nevermann und Mahler rhetorische Möglichkeiten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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Mittenmang (vor 1968)

Der Krieg war aus und vorbei, die Menschen hatten es wieder zu etwas gebracht. Sie stellten Kerzen ins Fenster für die Brüder und Schwestern in der Zone (sowjetische Besatzungszone bzw. „DDR“). Ganz Deutschland existierte im Kopf noch in den Grenzen von 1938, auch wenn die Westdeutschen nur noch ein Teilchen davon besaßen. Weil das Angebot an Arbeit mehr war, als wir verkraften konnten, hatten wir im Westen „Gastarbeiter“ im Land und starke Gewerkschaften. Rationalisierungsmaßnahmen wurden beschlossen, Überstunden gemacht, die Samstagsarbeit abgeschafft und die Freizeitangebote wuchsen. Zu Gogo und Isetta gesellten sich Kadett und Opel Rekord. Die Gesellschaft legte los, Häuschen wurden gebaut und der Lebensstandard stieg. Dies verdankte Deutschland seiner fetten Mittellage. Abgesehen von erfolgreichem Reparationshandel, der der BRD den Aufschwung brachte, blieben Fragen zu Kriegsschuld und Holocaust ausgegrenzt. „Die Gnade der späten Geburt“ erfasste auch diejenigen, die zunächst nichts sagen wollten zu ihren frühen Naziberührungen. Die Alten schwärmten von ihrem Krieg und ihren Heldentaten. Ein Volk von Tätern gab es nicht, sondern allenfalls Verführte. Die „leichte“ Schuld drückte aber dennoch schwer. Es war einfach schlecht, ein Deutscher zu sein, und doch war man deutsch durch und durch. „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht“, der 60er-Jahre-Hit von Drafi Deutscher, Peter Kraus und Conny Froboess’ „Pack die Badehose ein…“, Peter Alexander und der Frankenfeld, Höfers „Frühschoppen“ und das Testbild. Es ging uns rund um gut. Als Pfahl im Fleisch der DDR war Berlin ohnehin die Insel der politischen Glückseligkeit. Alles was Berlin an Waren erreichte und streifte wurde veredelt mit einer Berlinzulage, die gesamte Berliner Infrastruktur vom Bund gezahlt. Unsere Schutzmächte passten auf uns auf und der 1. Mai war nicht der Kampftag der Arbeiterklasse, sondern das Bekenntnisforum: „Wir sind das Inselvolk.“ Wir, die Deutschen, die wir eigentlich nur Glück gehabt hatten, dass wir vom Kalten Krieg profitieren durften, betrachteten uns plötzlich sogar als die „sieben Aufrechten“ der westlichen Welt. Spätestens seit dem Mauerbau 1961 und schon seit den unvergesslichen Ansprachen der Bürgermeister Reuter und Brandt war jedem verantwortlichen Berliner Bürger klar, wo er stehen musste, wollte er seinen Status als aufrechter Insulaner nicht verlieren. Sozusagen die Betriebszeitungen dieses Berlins waren Bild und BZ, die Morgenpost, aber auch Die Welt. Dort wurde zum Ausdruck gebracht, was der Berliner dachte und das von ihm nicht Gedachte mitgedacht, sodass eine behagliche Einheit entstand zwischen den Medien und dem Berliner Volk, seiner Verletztheit in der Mitte eines erstarrten Kommunistischen Meeres und seinem Frontwillen: „Die Festung wird nicht geräumt.“

Den Feind hatte der Bürger damals klar im Visier. Die bessere Welt des Westens wurde gestählt durch die Reden Eisenhowers, Kennedys, Johnsons und Nixons. Alle waren auf der Hut vor Leuten wie Chruschtschow und Breschnew. Nur wenige Kilometer von der Mauer entfernt gab es in Ostberlin noch die Stalinallee. Der linke Geist lebte. Die Bundesrepublik Deutschland hatte andererseits das Privileg, trotz bestehender Bundeswehr keine Kriege mehr führen, sich nicht beteiligen zu müssen an den Schlachten und Gemetzeln in der Welt, sondern in völliger Ruhe nur dem Frieden verpflichtet zu sein. Alles lief gut, das Unternehmen Bundesrepublik Deutschland konnte so nur durch Saboteure herausgefordert werden.

Der Angriff kam völlig unerwartet aus Liverpool. Die Beatles. Die Beatles mit ihren Liedern, die kraftvoll jede Harmonie zerstörten, einem Anspruch Ausdruck gaben auf eine provokante, vielfältige und verletzliche Identität. Die Haare, ein lächerlicher Umstand. Sie wuchsen erst durch die Züchtigung der Gesellschaft zu einem markanten Symbol der Selbstbefreiung. Diejenigen mit langen Haaren waren plötzlich Individuen, die nicht mehr mitmachten im allgemeinen, deutschen Streben nach Prosperität und Selbstbehauptung, sondern sich absonderten von einer Gesellschaft, die in Ost wie West kollektivistisch angelegt war. Entweder bist du einer von uns oder gegen uns. Die Rechnungen wurden meist ganz einfach aufgemacht. Derjenige, der plötzlich Cordhosen trug und lange Haare hatte, war ein anderer, war ohne spezifischen Vorwurf ausgegrenzt und konnte aufgrund der so gewonnenen Freiheit seine eigenen Ansprüche formulieren. Es gab die ganz Freien, die sich einem solchen – wie Camus in „L’Homme Révolté“ – der persönlichen Rebellion zur Verfügung stellten. Andere Individuen dagegen suchten zu ihrem Schutz ein neues Kollektiv und fanden z. B. in Sartre und Mao ihre Lehrmeister. Da sie das Kollektiv der Bürger ausgegrenzt hatte, mussten andere Gruppierungen das Vakuum füllen. Man stürzte sich auf bis dato fast unbekannte Helden wie die Anarchisten Bakunin, Netschajew und Durruti oder auf Fidel Castro und Che Guevara. Im Kopf entstand so der historische Kampf. Lieder von Ernst Busch tauchten auf. „Halt’ stand, rotes Madrid.“ Der Überfall der Legion Condor auf Guernica wurde plötzlich thematisiert, Tabus brachen auf und die Eltern begannen sich zu fürchten vor den Fragen ihrer Kinder. Noch aber war die Szene nur angerissen, die wechselseitigen Vorwürfe nicht ausformuliert. Argwohn und Misstrauen gegenüber den Konsequenzen dieses Wissensdurstes ihrer Kinder entstanden in der Elterngeneration. Wegen ihres unbekannten Verhaltens, ihrer Aufsässigkeit und wegen der langen Haare wurden Schüler ermahnt, sogar der Schule verwiesen. Es gab schlechte Zensuren und Versetzungsschwierigkeiten. Es waren noch die Probleme Einzelner, die Gesellschaft insgesamt davon noch nicht erfasst. Wie es in den Wald hineinschallte, so rief die Jugend zurück. Es schien sich am Anfang um Proteste zu handeln, wie es auch die „Halbstarken“ Anfang der 50er Jahre artikulierten. Die Bedeutung des Aufruhrs war noch nicht belastet. Die Lebensplanung war im Großen und Ganzen noch familiär vorbestimmt. Dies sowohl auf Arbeiter- als auch auf bürgerlicher Ebene. Die einen wohnten traditionell im Wedding oder in Neukölln, die anderen in Studentendörfern in Zehlendorf oder zu Hause bei ihren Familien. Viele fühlten sich durch Leben und Studium privilegiert, hatten berufliche Karrieren im Visier. Manche hielten sich in Berlin auf, weil sie den Bund schwänzten, d. h. nicht zur Bundeswehr wollten. So gab es ein paar Drückeberger und durch den freien Teil Berlins geformte Studenten an der Freien Universität Berlin, welche im amerikanischen Sektor lag, geprägt durch den Henry-Ford-Bau und großzügig unterstützt vom Bund und den Alliierten, einige sogar in Dahlemer Villen untergebracht, beschaulich und einladend, effizient und neotraditionell: Das war die Freie Universität Berlin.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

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