Archiv für den Monat: Dezember 2015

Demokalypse

Demokalypse, ein interessant sperriges Wortgetüm, zusammengesetzt aus Demografie und Apokalypse, gehört erstmalig am 24.11.2015 auf einer Veranstaltung des „Convent für Deutschland“. Zur Gestaltung des demografischen Wandels wurden vorgestellt und dabei, wie auch in der anschließenden Diskussion, Vorschläge unterbreitet, wie man einer alternden Gesellschaft Herr zu werden gedenkt. Von der Arbeitswilligkeit der älteren Bevölkerung war die Rede, von Zumutungen für junge Menschen, vor allem in ökonomischer Sicht, von Stärkung der Bildungseinrichtungen auch für die Kleinsten und Chancen und Risiken durch Abfederung des demografischen Ungleichgewichts durch arbeitsfähige Flüchtlinge.

Es war insgesamt ein durchaus unterhaltsames Potpourri an Ideen und ich würde nicht leugnen wollen, dass wir uns alle immer gerne an Ideensammlungen und ad hoc-Analysen gerne beteiligen. Vielleicht entsteht daraus irgendwann auch so etwas wie eine Konzeption, die unsere Gesellschaft überzeugt. Dafür ist es erforderlich, dass nicht Staat und Politik die Vorreiterrolle im Diskurs übernehmen, sondern die Bürger selbst die Policy entwickeln. Nur wo und wie sollte dies geschehen, wenn stets politische Zirkel die Deutungshoheit hinsichtlich eines Problems beanspruchen?

Um den erforderlichen gesellschaftlichen Diskurs z. B. auch zur demografischen Entwicklung zu führen, um dann in einem Contrat social mit den Bürgern die weitere Vorgehensweise abzustimmen, habe ich schon vor Jahr und Tag das Humboldtforum in Berlin als Gestaltungsort vorgeschlagen. Die Vorschläge sind durchaus auf Interesse gestoßen aber keiner, auch ich nicht, wagte jemals, auf die Umsetzung solcher Vorhaben zu hoffen. Der Staat und die Politik bestimmen, wo es lang geht und beim Humboldtforum eher in Richtung staatliche Ausdeutung der Vergangenheit. Mit einem solchen Verhalten lässt sich aber Zukunft nicht gestalten.

Wir müssen grenzenlos spinnen, um einen einzigen verwertbaren Gedanken zur Lösung unserer Probleme zu finden. Der Schlüssel dazu liegt nach meiner Vermutung in einer Neubewertung unserer Existenz. Was sind wir für Menschen im 21. Jahrhundert? Was ist uns wichtig? Worauf kommt es an? Die Liste der Fragen ist lang und Antworten darauf sicher nicht ad hoc zu formulieren. Mir scheint allerdings bedenkenswert, dass ich kaum den Eindruck habe, dass die Menschen ihr Leben als eine lange wunderbare Veranstaltung begreifen, welche sie mit Genuss, Zuversicht und wechselseitiger Anteilnahme für sich und mit anderen in der Gesellschaft führen dürfen. Es scheint, dass selbst Optimierung, Anpassung, Konkurrenz, Gier, Neid und Opferhaltung unser Leben wesentlich mitprägen. Das ist auch nicht verwunderlich, bedenkt man, dass die Ökonomisierung des Lebens nebst einigen religiösen Ansätzen wesentlich die Matrix des Lebens bestimmen. Warum eigentlich? Ist es denn gesellschaftlich akzeptabel, dass einige jenseits ihrer Bedürfnisse sich die Taschen vollstopfen und einherstolzieren mit der Behauptung, sie seien die Elite? Ist es denn nicht völlig gegen die Regel, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft glaubt, andere müssten bezahlen, was sie anrichten, vor allem mit sich selbst? Ist die Bildungsstute denn richtig aufgezäumt, wenn wir noch mehr staatliche Bildungseinrichtungen schaffen, statt die Eltern von ihrer Urzuständigkeit für die Bildung ihrer Kinder zu überzeugen und diese unterrichten, für ihre Kinder mehr zu tun und vor allem da zu sein, wenn sie benötigt werden? Elternbildung schafft Kinderbildung, vor allem in den ersten wichtigsten sieben Monaten nach der Geburt eines Kindes.

Es sind vor allem die weichen Faktoren, die viele ältere und junge Menschen von der Sinnhaftigkeit ihres Lebens überzeugen. Freiheit gehört dazu, aber auch Zumutung, die Zumutung innerhalb und außerhalb der Familien, Mitmenschen als ebenbürtige Partner bei dem Streben nach Glück wahrzunehmen, mit diesen zu teilen und sich anzustrengen, neben dem persönlichen Wohlergehen, auch einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Ich glaube, viele Menschen sind dazu bereit, die Verabredung zum „Ruck“ der durch unsere Gesellschaft gehen sollte, muss nur bald ausgelöst werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Aus „Befund“ des Hans vom Glück

Ich wollte einmal für die Menschen da sein, für ihre gerechte Sache streiten. Dieser Wille ist abhandengekommen. Auch wenn das kein Mensch mehr versteht, die Juristen webten nur am Netz der Gesetze und Rechtsvorschriften. Diese werden interpretiert, interpoliert und extrahiert. Die Juristen wollten nur eins: in Ruhe gelassen werden von den Menschen, ungestört bleiben in der Parallelwelt von Gesetzen, Verordnungen, Gerichten und juristischen Argumenten.

Dabei wollen die Menschen doch, dass ihnen zugehört wird, sie ihre Ansichten in die Waagschale werfen dürfen. Jeder Richter hält sich bewusst vom wirklichen Leben fern, damit er den Widerspruch zu seiner Berufswelt nicht erleben muss. An jedem Rechtsstreit, den ein Richter in eigener Sache führte, würde er verzweifeln, wenn er erführe, dass seine Ansichten für den eigenen Rechtsfall, so er in einen solchen verwickelt sein würde, ebenso passgerecht gemacht werden müsste, wie er dies täglich von seinen Prozessteilnehmern bei Gericht verlangt.

Deshalb hält der Richter das Leben auf Distanz. Der Anwalt dagegen versucht, sich mit Ablenkungen zu betäuben, denn selbst ein Erfolg ist stets ein Misserfolg. Irgendwie. Es bleibt ein Gefühl der Leere und Unsicherheit. Nicht die gerechte Sache siegt, sondern die Vorschrift. Ein beliebter Juristenspruch lautet: Bei Gericht und auf hoher See bist du allein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Viva Familia

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat in seiner berühmten Adlon-Rede 1997 gefordert, dass ein Ruck durch Deutschland gehen möge. Wir haben hier ergänzt: … durch unsere ganze Gesellschaft … Diesen Ruck müssen wir Bürger uns selbst geben und dürfen nicht darauf warten, dass andere dies tun. Aber, was soll nun dieser Ruck bewirken und wie wird er ausgelöst? Um festgefahrene Strukturen aufzubrechen, sind neue Sichtweisen auf bekannte Probleme erforderlich. So wie der Blick durch ein Kaleidoskop für Kinder immer Neues entsteht lässt, wenn wir das Sehrohr drehen, obwohl der Gegenstand der Betrachtung immer der gleiche bleibt, können wir unsere Möglichkeiten durch neue Sichtweisen erweitern.

Der Ruck macht ein bürgerliches Selbstbewusstsein erfahrbar, das sich nicht nur am Wahltag äußert, sondern aktiv die Subsidiarität staatlichen Handels einfordert auf allen Gebieten, die der Bürger selbst gestalten kann. So übernehmen die Bürger Verantwortung für ein selbstbestimmtes Leben, und zwar jeder einzelne Mensch und damit die ganze Gesellschaft. Die Regeln des Zusammenlebens, die Verabredungen des Bürgers mit dem Staat werden in einem Gesellschaftsvertrag fortgeschriebenen, der vom Staat und seinen Bürgern gleichermaßen geachtet wird. Sich einen Ruck geben, heißt also, sich selbst zu bewegen, um nicht von anderen zum Richtungswechsel genötigt zu werden. Ruck ist die beste Medizin gegen alle Formen sozialer Abhängigkeit, Subventionsmentalität und Schuldzuweisungen an andere, seien es Politiker, Wirtschaftsführer, Banker, aber auch Lehrer und Polizisten. Bei unseren Prüfungen, was wir selbst mit der Ruck – Stiftung des Aufbruchs dazu beisteuern können, um diesen Ruck durch unsere Gesellschaft deutlich merkbar werden zu lassen, mussten wir erkennen, dass es nicht hilfreich ist, allein durch einzelne Projekte, die Sinnhaftigkeit des Rucks zu zeigen, sondern es kristallisierte sich vielmehr die Überzeugung heraus, dass wir anfangen müssen, jeden einzelnen Menschen unserer Gesellschaft durch sein ganz eigenes Leben zu begleiten, um von Anfang an zu beweisen, dass der Ruck gelingt.

Jedes Leben eines Menschen beginnt mit seiner Geburt in die Familie. Deshalb haben wir uns zunächst auf das Projekt Viva Familia! konzentriert. Viva Familia! trägt zur Familienbildung bei. Familienbildung funktioniert nur dann, wenn auch die Eltern gebildet sind. Die Elternbildung bewirkt wiederum die Kinderbildung. Bildung von Anfang an heißt also, die Eltern in die Lage zu versetzen, ihre Kinder dabei zu unterstützen, die Bildungsangebote der Gesellschaft anzunehmen. Wie soll das geschehen? Durch eine Fülle unterschiedlicher Maßnahmen u. a. durch Singen und Erzählen von Familien- sowie Fantasiegeschichten durch die Eltern und andere Bezugspersonen in der Familie, zum Beispiel die Großeltern. Das ist wirkungsvoll, denn durch diese Form der Zuwendung werden die familiäre Bindung und das Grundvertrauen des Kindes und das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt und somit eine Basis für eine problemlosere Eingliederung des Kindes in unsere Gesellschaft geschaffen. Die Eltern machen durch Singen und Erzählen die Erfahrung ihrer eigenen Bildungszuständigkeit bei der Erziehung ihres Kindes, verstärken ihr eigenes Sprachvermögen und schaffen so auch wesentliche Voraussetzungen für ein besseres Sprachvermögen ihrer Kinder. Durch das Erzählen von familiären Geschichten festigen sie soziale Bindungen und gestalten zudem die Grundlage für einen in der Geschichte verwurzelten Lebensweg ihres Kindes. Eigentlich Selbstverständlichkeiten, die allerdings in unserer Gesellschaft weithin nicht mehr geläufig sind. Viva Familia! vermittelt daher diese familiäre und gesellschaftliche „Win-win-Situation“ durch die Einrichtung von Eltern-Sing- und Erzählkursen und ergänzende Elternpatenschulungen in soziale Hilfeeinrichtungen.

In die Familienbildung werden alle Bezugspersonen des Kindes mit einbezogen, die Eltern, Geschwister, Großeltern, also alle Familienangehörigen, die einen Pakt des gemeinsamen Lernens und Erfahrens schmieden.

  • Wie drückt sich dies aus?

Zunächst durch Singen. Denn Singen schon vor der Geburt und nach der Geburt des Kindes stärkt das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl, die Gesundheit durch Stärkung des Gehörs und der Stimmbänder sowie das Sprachvermögen der Kinder.

  • Was passiert dadurch?

Dadurch macht das Kind eine frühe musikalische Erfahrung, lernt Rhythmus und Töne und schafft so die Voraussetzungen für spätere soziale und schulische Kompetenzen. Das hilft bei der Verwirklichung im Beruf, baut Aggressionen ab und fördert die Kreativität.

  • Und die Wirkung?

Erzählen, insbesondere von Geschichten aus der Familie, wirkt positiv auf das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl, stärkt ebenfalls das Sprachvermögen, vermittelt geschichtliche Erfahrung, führt ein in die Wahrnehmung einer komplexen Gedankenwelt, hilft Erlerntes zu speichern und bereichert das Wissen.

  • Was bleibt?

Nach dem ersten folgen die weiteren Schritte. Die durch den Ruck ausgelösten Impulse setzen sich fort und schwingen durch das ganze Leben des Kindes, des Jugendlichen und des Erwachsenen bis hin zum Alter. Sie helfen, in jeder Lebensphase initiativ zu werden. Die ersten Schritte ermöglichen es dem Kinde, selbstbewusster sein Leben zu gestalten und offen zu sein für weitere gute Erfahrungen, die es selbst und die ganze Gesellschaft bereichern.

Viva Familia! heißt, „ich singe und erzähle für Dein Leben gern“.

Das Projektziel ist es, Viva Familia! als eigenständiges soziales Projekt so auszubauen, dass es unter entsprechender Anleitung und Anpassung an örtliche Gegebenheiten flächendeckend in Deutschland übernommen werden kann.

Das Leben eines Menschen ist eine lange wunderbare Veranstaltung, sich zu bewähren, auszubilden, Neues zu erfahren und immer wieder Impulse für Entwicklungen zu setzen. Alle, auch ältere Menschen, haben die Möglichkeit, an dieser Erfahrung teilzuhaben, indem sie wieder junge Menschen an ihren Erfahrungen teilhaben lassen, aus ihrem Leben erzählen und dazu anstiften, dass das Erfahrene wieder weitererzählt wird. So wird in dem ersten Schritt der Vermittlung von Singen und Erzählen durch die Eltern und das Kind eine Bewegung geschaffen, die sich durch das gesamte Menschenleben fortsetzt, dadurch unser eigenes Leben und das Leben aller Bürger in dieser Gesellschaft bereichert und die Menschen – ob jung oder alt, unterschiedlicher sozialer Herkunft, Flüchtlinge, Migranten und schon früher Angekommene – zusammenführt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Terror

Wir sind verunsichert. Die Anschläge in Paris. Eine Gruppe, die sich der Islamische Staat nennt, hat den Terror auch bei uns in Europa entfacht. Die Medien berichten, dass die Gruppe organisiert und planvoll vorgehe und durch ihr terroristisches Gehabe die Menschen verunsichern, unser Lebensart und Demokratie beschädigen und überhaupt so viele „Ungläubige“ wie sie treffen können, ermorden wolle. Dabei rufen sie dem Vernehmen nach „Al Akbar, Gott ist groß“ und schießen und sprengen, zuletzt sich selbst. Es wird berichtet, dass ihnen gesagt würde, das Morden sei heldenhaft und bei erfolgreich abgeschlossener Tötungsarbeit kämen sie in den Himmel.

Ich hab meine Zweifel. Wahrscheinlich kommen sie in die Hölle, wenn dies ihrem eigenen religiösen Verständnis entspricht. Es gibt keinen mehrfach geteilten Gott, sondern nur einen Gott, der einem Moslem, einem Juden und einem Christen das Leben geschenkt hat. Jeder Mensch ist in die Welt gekommen, um zu leben, Erfahrungen zu sammeln, sich auszubilden am Leben und zu gehen, wenn er zum Leben in dieser Welt etwas Sinnvolles beigetragen hat. Es ist nicht sinnvoll, anderen Menschen das Leben zu nehmen, sondern Gotteslästerung. Diejenigen, die anderen Menschen das Leben nehmen, maßen sich selbst an, Schöpfer zu sein, und wenn es das Erschaffen von Gewalt und Terror ist. Ob sie an Gott glauben oder nicht, ist dabei offensichtlich völlig gleichgültig. Der Mensch ist aber ein spirituelles Wesen, einmal abgesehen von jeder Körperlichkeit. Die Spiritualität eines Menschen anzugreifen, zerstört auch die Spiritualität des Angreifenden. Er löscht sich damit aus dem Gedächtnis der Welt und des Himmel aus.

Die Mörder, von denen ich spreche, waren alle auch einmal unschuldige Geschöpfe, die im Bauch ihrer Mutter entstanden sind, von dieser gesäugt und umsorgt wurden. Sie sind eingetreten in unsere Gemeinschaft und haben sie wieder verlassen, warum?

Einer der Gründe könnte sein, dass Familien oft verunsichert sind hinsichtlich der Bedeutung, die sie für das Kind haben. Denen möchte ich sagen, dass die Familie und die Geborgenheit in einer Familie von prägender Bedeutung für das Leben eines Kindes sind. Keine Schule, kein Kindergarten oder sonstige Einrichtungen können die frühe Erfahrung der familiären Verbundenheit ersetzen. Die familiären Gespräche, der Austausch über Erfahrungen und Geschichte sind unersetzlich. Computer und Computerspiele bieten keinerlei Ersatz. Sie sind auch nicht zur Liebe fähig.

Jeder Mensch, der auf die Welt kommt, ist voll Tatkraft, und zwar von Anfang an. Ein Mensch, dem keine sinnvolle Beschäftigung geboten wird, sucht sich selbst eine, und zwar dort, wo er Anerkennung erfährt. Der Weg zur Verführung ist daher überhaupt nicht weit, egal ob es sich um eine kriminelle wirtschaftliche Vereinigung oder eine religiöse Gruppierung handelt.

Familien sind in der Pflicht, einander immer wieder neu kennenzulernen, miteinander zu sprechen und die Grundlage zu schaffen für ein sinnerfülltes Leben des Kindes. Die Gesellschaft ist in der Pflicht, jungen Menschen Beschäftigungen zu bieten, in denen sie sich selbst und anderen beweisen können, dass sie wer sind. Wir benötigen eine Anerkennungskultur für junge Menschen. Wir benötigen aber auch diejenigen, die junge Menschen immerwährend daran erinnern, dass das Leben eine schöne Veranstaltung ist, in der sie Gelegenheit haben, sich auszubilden, weltliche und religiöse Erfahrungen zu sammeln, Liebe zu erfahren und Liebe zu geben, damit sie sich als Segen für uns alle erweisen. Jeder hat eine Chance, sich zu prüfen und ob das, was er tut oder getan hat mit seiner Integrität und seiner Spiritualität übereinstimmt. Im Zweifel sollten wir alle nochmals als Suchende beginnen und prüfen, ab und in welchem Umfang wir bereit sind, die Verantwortung für unser Handeln vor Gott und den Menschen zu übernehmen. Al-akbar!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Life in Venice

Es schüttete wie aus Kübeln auf die Brücken, Straßen und Kanäle dieser Stadt. Der Wind fegte über den Markusplatz und verfing sich in den Ecken und Winkeln der Gassen, pfiff durch die Brückenmünder und trieb kurios verrenkte Schirme aller Konstruktionsarten und Farben vor sich her. Ein menschenlebendiges Sauwetter ohne Tourismus. Keiner weit und breit, der Markusplatz war wie leergefegt, sogar die Tauben hatten sich verkrümelt. So gefiel mir Venedig. Und es war das erste Mal.

Am noch trockenen Vortage sind wir den Horden ausgewichen nach Castello, sahen uns hungrig an Fassaden, Parkanlagen und normalem venezianischen Leben im Quartiere Sant Elena. Am Tage vor dem großen Regen fuhren wir mit einem Vaporetto zur Isola di San Michele, der einzigartigen Wohnstätte nicht mehr Lebender Venedigs. Darunter berühmte Namen und protzige Neuvenezianer, die mit Laubenpiperheimen aus Stahl und Glas um persönliche Anerkennung in alle Ewigkeit werben. Der Architekt Chipperfield unterstützt sie dabei, indem er für sie ein grandioses neues Grabfenster entworfen hat. Man muss die Toten bemitleiden, die nicht die Chance haben, in Venedig beerdigt zu werden.

Stadtteile sollte man nicht gegeneinander abwägen. Alle haben ihren Reiz. Ob Dorsoduro, Santa Croce oder Cannaregio, ganz zu schweigen natürlich von San Marco und der Rialtobrücke, die allerdings derzeit wegen Bauarbeiten teilweise verhüllt ist. Bei unserem Besuch war sie ertüchtigt worden durch lautstarke Demonstranten, begleitet von Polizisten mit Schild und Sturmhaube. Am folgenden Abend bei Starkregen und Sturm an gleicher Stelle heulten die Sirenen und Teile der die Brücke umgebenden Stadt verfielen vorübergehend der gänzlichen Schwärze. Seelige Momente für Banditen.

Venedig, ganz sicher keine gewöhnliche Stadt, sondern ein Geflecht von Schatzinseln. Wir haben fast alles geschafft: den Palazzo Ducale, die Basilika de San Marco, San Zaccaria, Palazzo Querini Stampala Pinacoteca, Santa Maria della Salute, Galleria dell‘ Accademia, das Guggenheimmuseum, Palazzo Zenobio, Scuola Grande di San Rocco, San Pantalon, San Rocco und noch etliche Kirchen mehr. Bellini, Tizian, Tintoretto, Carpaccio, Veronese, Canaletto, Strozzi, das Werk dieser Meister in verrückter Üppigkeit und anmaßender Opulenz. Na und? Wer lässt denn heute noch so malen und für welchen Zweck sollte dies dann sein?

Wir, die armseligen Touristen hetzen durch die grandiosesten Säle der Menschheit mit Spiegeln, die wir vor uns hertragen, damit wir die Decken und ihre Bildbotschaften entziffern können. Im schummrigen Licht versuchen wir, die Geschichten zu erfahren und die bildgewordenen Erzählungen nachzuempfinden. Ich bekenne, ich bin diesem Angebot kaum gewachsen. Ich verstehe, dass die Mächtigen ihrer Zeit diese Bilder brauchten, um ihren Bedürfnissen nach Erbauung und Zerstreuung einen Ausdruck zu verleihen und andere zu beeindrucken durch schiere Monumentalität.

Was habe ich dem entgegenzusetzen außer schnellgeschossene I-Phone-Bilder und Selfies? Manche der kulturbegierigen Wegbegleiter aus der touristischen Szene in Venedig werden Wochen brauchen, um die über Smartphones gewonnenen Bilderschätze zu verarbeiten. Ich bleibe cool. Kein einziges Bild, das ich knipse. Doch die Bilder sind auch im Kopf kaum zu speichern. Aber es bleiben die Eindrücke von Bedeutung, Erhabenheit, Stolz und Ernsthaftigkeit, welche diese Stadt einmal ausgezeichnet haben. Tempi passati. Alles vorbei. Alles? Mit Sicherheit nicht. Venedig ist eine Stadt des Lebens und der Genüsse: unbeschreiblich schmackhafter Tintenfisch, Muscheln, Scampi und Hauswein, der aus riesigen Plastikbottichen in Flaschen und unsere Gläser abgefüllt wird. So lässt es sich leben trotz Tourismus und Regen. Die Venezianer zeigen es uns.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schuleingangsuntersuchung

Machen Sie Ihr Kind fit für die Schule! Die ESU ist Pflicht. Zum vorgeschriebenen schulärztlichen Untersuchungstermin sind Fragebogen, Impfbuch, Vorsorgeuntersuchungsheft, wichtige ärztliche Befunde und eine evtl. vorhandene Brille sowie – auf freiwilliger Basis – das Ergebnis eines Kita-Sprachtestes mitzubringen. Das Ganze ist nicht freiwillig, sondern Gesetz. Die Fragebögen als Grundlage der Untersuchung beinhalten eine umfassende Aufnahme aller relevanten Familiendaten und des Lebensumfeldes. Alle Daten verbleiben beim Arzt des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes, also einschließlich sämtlicher personenbezogener Daten und die des Lebensumfeldes.

Allein zu statistischen Zwecken werden die Daten anonymisiert weiterverarbeitet durch andere Einrichtungen. Das Kind wird bei der Einschulungsuntersuchung körperlich sowie auf seine geistigen und motorischen Fähigkeiten hin geprüft. Damit wird einerseits der schulische Entwicklungsweg prognostiziert zum anderen ein Profil angelegt, auf welches der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst jederzeit, z. B. bei der Vorbereitung einer Sorgerechtsentscheidung, Umgangsrecht etc. zurückgreifen kann. Das Lebensumfeld ist so zumindest etwaigen Gutachtern und Ärzten auch bekannt, und zwar sowohl was die Befähigung der Eltern angeht als auch der Fernseh-, Computer- und Spielekonsum innerhalb der Familie. Die Angaben zum Lebensumfeld sind zwar freiwillig aber wer nichts zu verbergen hat oder die Bedeutung dieser Fragen falsch einschätzt, macht sie gutwillig oder arglos.

Früher einmal gab es eine Zeit, da haben Menschen gegen den Mikrozensus auf der Straße gestritten, sich verweigert und demonstriert. Mithilfe der Einschulungsuntersuchung und ihres Fragebogens, der auf den ersten Blick einen so vernünftigen Eindruck erweckt, wird der Mensch auf seine soziale Rolle festgelegt. Es widerspricht sämtlicher Lebenserfahrung, dass Daten, die ein Mensch jemals abgeliefert hat, auf Dauer anonym bleiben werden. Ein falscher Klick, eine undichte Stelle, ein Mitarbeiter, dem der Kragen platzt, oder auch der Zufall spielt mit und alle Daten eines Menschen sind in der Welt, ausbeutbar von Schule, Ärzten, Krankenkassen, Arbeitgebern und Gegnern.

Wir tun uns keinen Gefallen mit allzu großem behördlichem Einsatz zum Wohle des Kindes. Wichtiger ist es, Familien zu fördern, damit sie im Interesse ihrer Kinder Zuständigkeitskompetenzen im Bildungs- und Sozialbereich nutzen können.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Grenzwege

Niersbach, Hoeneß, Beckenbauer … und viele andere mehr. Sie alle gehen bzw. gingen an die Grenzen ihrer rechtlichen und moralischen Belastbarkeit, oft nicht nur aus niedrigen, selbstsüchtigen Motiven heraus, sondern weil sie zu Grenzgängern gemacht wurden oder dies sein wollten. Bis an „seine“ Grenze zu gehen ist in unserer Gesellschaft eine Selbstverpflichtung jedes Erfolg suchenden Sportlers, Geschäftsmanns oder Künstlers. Das hat mit Anerkennung zu tun aber auch mit dem implizierten Scheitern, das jedem Grenzgänger Angst macht. Hoffentlich kommt nicht heraus, wie alles war.

Der Leistungsdruck ist enorm und wir, die Grenzgänger, sind zum eigenen Schutz zunächst temporär vergesslich. So setzen wir auf die Ahnungslosigkeit anderer. Es stimmt aber nicht. Alles kommt irgendwann an den Tag und Opfer ist der Verstrickte, zuweilen noch vor dem Täter. Der Täter, der Abgasmanipulation an Autos zum Beispiel zu verantworten hat, forderte seine Mitarbeiter nicht auf, dies zu tun, sondern er verlangte einfach eine Maßnahme, die zwangsweise wegen fehlender Alternativen zur Manipulation führte. So haben sich auch in allen Unrechtsstaaten die Täter freizuwaschen versucht. Dies kann und darf aber nicht gelingen.

Der Grenzgänger aus eigenem oder fremdem Antrieb ist eine Gefahr für sich und für uns, da das Entdecktwerden auch fremder Tat gesamtgesellschaftlich beschädigend wirken kann. Dabei ist zu denken an die hohen Verluste, auch Steuerverluste bei VW und die Skandalbelastungen rund um die FIFA und den Deutschen Fußballbund. Aber alle, die die Gunst der Stunde zu einer Abrechnung mit Grenzgängern nutzen wollen, mögen in den eigenen Spiegel schauen und auch bedenken, dass Grenzgänger meist auch an Wundern mitwirken, wie dem deutschen Fußballsommermärchen. Über dies wird hier noch lange gesprochen, wenn von den Drahtziehern, Hintermännern und Grenzgängern kaum einer mehr bekannt ist.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Familie

Nach Artikel 5 des Grundgesetzes genießt die Familie den besonderen staatlichen Schutz. Was bedeutet dies und welche Konsequenzen sind hieraus abzuleiten? Gesetzlich ist das zunächst gelöst. Vom Elterngeld bis zum Sorgerecht sorgt der Staat dafür, dass die Durchführung des familiären Experiments gewährleistet ist. Doch ist zu fragen, ob der Staat auch bereit ist, die Autonomie der Familie zu respektieren, insbesondere ob unsere Gesellschaft überhaupt die grundgesetzliche verankerte Achtung der Familie immer zu verteidigen bereit ist. Ich habe da meine Zweifel. Dies nicht deshalb, weil es die unterschiedlichsten Familienmodellen gibt, sondern weil das Selbstverständnis, welches der Familie eigentlich innewohnt politisch konturlos erscheint. Der Begriff „Familie“ wirkt zudem antiquiert, unzeitgemäß, spießig und kategorisch. Richtig ist, dass mit dem Begriff „Familie“ Schindluder getrieben wurde, und zwar dadurch, dass ihm interessierte Kreise etwas nur auf Vermehrung gerichtetes, Wertkonservatives oder Versorgungstechnisches anhefteten.

Auch wenn der ein oder andere vorgenannte Aspekt durchaus nicht geleugnet werden kann, so ist Familie dennoch etwas ganz Besonderes. Sie beruht auf der Verabredung von Menschen, ein gemeinsames Unternehmen zu gründen, das es ihren Kindern ermöglicht, sich in diese Gesellschaft hinein zu entwickeln. So ist die Familie das Start-up-Unternehmen für jedes Baby. Was in der Familie misslingt, kann auch kaum mehr erfolgreich durch Kindergarten und Schule ausgebügelt werden. Die Nähe des Kindes zu seinen Eltern schafft das Lebensvertrauen, das Kinder überhaupt erst in die Lage versetzt, sich diejenigen Fähigkeiten anzueignen, mit deren Hilfe sie in Integrität und Zuversicht künftig ihr Leben gestalten können.

Dabei kommt es bereits auf die pränatale Vorbereitung und die ersten sieben Monate eines Kindes an, denn was dort nicht angelegt wurde, kann auch später nicht nachgeliefert werden. Es kommt zudem darauf an, dass die Eltern an die Kinder Liebe, Güte, Bildungsbereitschaft, Zuversicht , d. h. all diejenigen Fähigkeiten weitergeben, die ihre Kinder als Rüstzeug des Lebens dringend benötigen.

Das Kind interessiert sich für seine Eltern, deren Sprache, Geschichten, Rituale und Berührungen, deshalb ist es so wichtig, Eltern auszubilden, denn Elternbildung schafft Kinderbildung. Sowohl im tatsächlichen als auch im übertragenen Sinne. Zur Familie gehören selbstverständlich neben den Eltern auch Großeltern, Geschwister und Verwandte mehrerer Generationen. Freunde und nahe Bekannte sind wichtig für das Kind. Sie alle sind primäre Paten einer günstigen Zukunftsprognose für das Kind und schaffen gemeinsam die Voraussetzungen dafür, dass mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule die Familie nicht ausgeschlossen ist, sondern weiterhin den Hintergrund für selbstbewusste Erfahrungen des Kindes bieten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski