Geteiltes Leid sei halbes Leid, so will es ein sehr bekanntes Sprichwort wissen. Ist das auch so? Wir müssen das herausfinden! Wir geben also unserem Gesprächspartner ein Stichwort, indem wir zum Beispiel auf unsere eigenen Rückenschmerzen verweisen. Was dann passiert, ist oft erstaunlich. Anstatt sich mitfühlend mir und meinen Rückenschmerzen zuzuwenden, erzählt der Angesprochene seine eigene Leidensgeschichte, und zwar angefangen vom Rücken bis zum Magen, von der Schulter bis zur Hüfte. Werden damit mein Leid und meine Leiden geteilt?
Ich glaube nicht, das Leid wird nicht geringer, sondern nur durch das Erzählen profanisiert. Das Leid wird verdoppelt und sogar bei mir und meinem Gesprächspartner vervielfacht. Abgewogen wird allerdings das Maß des Leids und dies kann die Genugtuung verschaffen, dass man selbst ja noch recht gut dabei weggekommen sei. Auf diese Art und Weise entlastet das Leid der Anderen – auch wenn es als aufgedrängt empfunden sein sollte. Je umfassender so die Kenntnis vom Leid anderer ist, desto entlastender wirkt es sich auf jeden Leidenden aus. Die Gemeinschaft des Leids kann daher im sozialen Kontext den sprichwörtlichen Anspruch erfüllen.
Wirkliches Leid aber ist etwas höchst Privates und kann von niemandem geteilt werden und dies auch dann nicht, wenn es allgemein bekannt ist.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski