Straßen sind gefährlich. „Schau nach links und schau nach rechts, bevor du über die Straße gehst“, so lautet die Ermahnung der Eltern an ihre Kinder. Verkehrserziehung. So lautet der Sammelbegriff aller Maßnahmen zum Schutz des Menschen.
Und die Wirklichkeit? Die Autofahrer, die eigentlichen Damen und Herren der Straße. Sie fahren wie immer schnell und zügellos, wenn sie nicht durch Ampeln und Verkehrseinschränkungszeichen gebremst werden. Dasselbe gilt für Motorradfahrer. Und für Fahrradfahrer. Im Rudel oder sehr individuell schießen sie aus allen denkbaren Ecken in den Verkehr hinein, von vorne, von hinten, von links, von rechts, egal wie die Straße verläuft oder die Fahrtrichtung. Weder Verkehrszeichen noch Ampelanlagen halten sie auf. Flächen ihres sportlichen Engagements sind aber nicht nur Straßen, sondern auch Gehwege und Plätze. Der Protest des Fußgängers bleibt nicht aus. Was der Fahrradfahrer kann, kann ich schon lange. Ampeln werden ignoriert, aber vor allem der Verkehr insgesamt. Individuelle Straßenquerung als Zeichen des Selbstbewusstseins. Sollen die Kraftfahrzeuge doch damit zurechtkommen. Und wenn etwas geschieht, dann ist doch ohnehin der Kraftfahrer schuld, denn in seinem Fahrzeug ist die Gefahr beheimatet. Ein gefährliches Werkzeug. So sagen die Gerichte.
Die Kommunen stimmen zu, legen verkehrsberuhigte Straßen an, verstümmeln sie mit Pollern und sonstigen Fahrhindernissen, heben Fußgänger, Radfahrer in die Ebenbürtigkeit mit Kraftfahrzeugen oder erteilen schließlich sogar Fahrrädern den Vorrang vor jeder anderen Art der Fortbewegung: die Fahrradstraße. Und? Werden die Straßen sicherer? Wohl nicht. Aber der Verunfallte hat seinen Kontrahenten, den anderen Verkehrsteilnehmer, von dem er immerhin möglicherweise Schadenersatz verlangen kann. Dadurch erhöht sich leider die allgemeine Unvorsichtigkeit und wird nicht gemindert. Verkehrsteilnehmer rechnen nicht mehr miteinander, sondern sie rechnen miteinander ab. Sie rechnen nicht damit, dass jemand sie überfährt, weil sie den Verkehr ignorierend die Straße gekreuzt haben. Sie orientieren sich nicht am Verkehr, sondern gehen davon aus, dass schon nichts passiert, weil Gesetze und Rechtsprechung ihnen das versprechen. Ein früher Merkspruch lautete: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Ist heute die Gefahr gebannt, weil verkannt? Der Prozess der Verdrängung des Verkehrs als Gefahrenquelle geht einher mit jeder Form der Wirklichkeitsverdrängung in unserer Gesellschaft. Dabei mag die Hoffnung Pate stehen, es passiere ja nichts, und wenn etwas passiere, gäbe es dafür wieder eine Entschuldigung oder Schadenersatz.
Das Leben aber ist eine Risikogemeinschaft, der mit Verdrängung nicht beizukommen ist. So wie die Verkehrsteilnehmer den Straßenverkehr zu verdrängen trachten, indem sie ihn aus ihrer Beobachtung nehmen, verdrängen viele Menschen heute die Gefahren ihres Essverhaltens, des Konsums der medialen Langeweile und der mangelnden Bildungsbereitschaft. Sie wähnen sich in der Sicherheit der sozialen Verschränkung mit anderen und bedenken meist nicht, dass sie trotzdem wachsam sein müssen und ihre Vorsicht bei der Überquerung der Straße von keinem anderen übernommen werden kann. Wenn ein Mensch überfahren wird, so ist er tot oder schwerverletzt. Die Frage der Verantwortlichkeit und des Schadenersatzes ist dabei nebensächlich. Ein verantwortlicher Mensch schaut genau hin, was passiert. Im Verkehr genauso wie im restlichen Leben.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski