Archiv für den Monat: Juni 2018

Unkenrufe

Trotz aller Unkenrufe, unsere Zukunft ist rosig! Wieso? Ganz einfach! Wir haben die Zukunft vor uns. Wir können sie gestalten. Die Zukunft ist wie eine Leinwand, die darauf wartet, bemalt zu werden oder wie ein grober Stein, der sich auf sein Behauen werden freut oder ein zartes Pflänzchen, das trotz Wind und Wetter zur robusten Pflanze erstarkt. Die Zukunft kann uns nichts anhaben. Sie ist nicht die vorweggenommene Vergangenheit, die wir bereits ausgenutzt oder verwüstet haben.

Aller Anfang ist neu. Wir haben allen Grund, zuversichtlich zu sein. Wären wir dies nicht, wäre es unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen, zu lieben, zu genießen und sich zu freuen. Es wäre dann besser, alle Aktivitäten einzustellen, das Jetzt zu verbrauchen, zu packen und von dieser Erde zu verschwinden. Wir können ohne Zukunft nicht leben und es gibt keinen Grund, diese schwarz zu malen. Das zu tun, ist vor allem unverantwortlich gegenüber unseren Kindern, denen wir eine rosige Zukunft versprechen müssen, um sie nicht zu entmutigen, denen wir Kraft und Gelegenheit geben müssen, alles ein bisschen besser zu machen, als wir es getan haben, sei es bei Klimaschutz, der digitalen Entwicklung und der Menschlichkeit.

Wenn uns die Zukunft Angst machen sollte, dürfen wir dieses Muster nicht verabsolutieren. Unsere Angst beruht auf unserer Erfahrung, unserer Einschätzung und Vorbehalte. Wer sagt denn, dass unsere Kinder dies genauso sehen müssen? Möglicherweise haben sie Rezepte, die weit besser geeignet sind, mit Schwierigkeiten umzugehen als wir sie haben. Ich vertraue da ganz auf meine Kinder und Enkelkinder und sehe in ihren Augen und Verhaltensweisen eine große Neugier auf eine Welt, die sich ihnen öffnet und auch mir eine Chance gibt, sie bei ihrem Tun zu beobachten. Auf eine rosige Zukunft!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Rebellion

Seitdem der frühere katalanische Präsident Puigdemont den Versuch unternommen hatte, die Katalanen in die Unabhängigkeit von Restspanien zu führen, hat sich unser Bewusstseins eines weiteren Begriffs bemächtigt: Rebellion. Natürlich sind uns sämtliche Spielarten der Rebellion gegenwärtig, und zwar immer im Zusammenhang mit dem Aufbegehren eines Volkes oder Volksteils oder Bevölkerungsgruppen oder Einzelner gegen einen Unterdrücker. Aber gerade das hatten wir in Katalonien nicht vermutet.

Barcelona gehörte für uns genauso zu Spanien wie Sevilla oder Madrid. Die Zentralregierung in Madrid war mit dem Vorgehen des katalanischen Präsidenten Puigdemont nicht einverstanden, warf ihm Verfassungsbruch vor und wollte ihn verhaften. Er entzog sich diesem Zugriff durch seine Flucht nach Belgien, um schließlich bei der Durchreise in Deutschland verhaftet zu werden.

Der gegen ihn ergangene spanische Haftbefehl wegen Rebellion findet keine Entsprechung im deutschen Strafrecht, so dass man Herrn Puigdemont zunächst einmal wieder freigelassen hat. Es wurde viel gemutmaßt, was Rebellion bedeutet, vielleicht Aufwiegelung, Landesverrat, Hochverrat, aber etwas wirklich Passendes, dem deutschen Strafrecht adäquates Tatbestandsmerkmal konnte nicht festgestellt werden. Und wer rebelliert hier eigentlich? Rebellieren die Katalanen?

Das konnte ich bei einem Besuch in Barcelona ebenso wenig feststellen, wie aus der Medienberichterstattung. Eine Mehrzahl der Katalanen ist überhaupt nicht für eine Abspaltung vom spanischen Mutterland. Zudem wäre eine derartige Abspaltung verfassungswidrig, wirtschaftlich und europäisch unsinnig. Dennoch stehen fast 50 % der Katalanen hinter Puigdemont, wollen nicht, dass er verhaftet und nach Spanien ausgeliefert wird. Ist das vielleicht eine Rebellion?

Es ist jedenfalls keine Rebellion im Sinne des spanischen Strafrechts und schon gar nicht aus deutscher Sicht. Dagegen zu sein, dass etwas passiert, ist demokratisches Recht, manchmal sogar Pflicht. Also ist es die Rebellion eines Einzelnen, des früheren katalanischen Präsidenten. Warum tut er das wohl? Vielleicht hat er nicht genügend Anerkennung, vielleicht hat er aus der Geschichte gelernt, dass forsches Auftreten Anhängerschaft generiert und man dadurch Macht gewinnt. Was würde der Machtgewinn für ihn und die Bürger Kataloniens bewirken? Puigdemont will mit der Zentralregierung verhandeln, aber wieso und worüber?

Genau das, worum es eigentlich geht, bleibt völlig im Dunkeln. Wollen die Katalanen mehr Geld, bessere Schulen, Mitspracherechte? Kaum einem Deutschen wird dies medial vermittelt. Es sieht aber eher so aus, als handele es sich um eine Eulenspiegelei. Damit haben die Belgier und die Deutschen Erfahrung, die Spanier auch etwas, aber das ist eine andere Geschichte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Selfie

Nein, ich mache da nicht mit, weiß aber durchaus, dass via Instagram ständig Millionen, vielleicht sogar Milliarden an Bildern durch die Welt segeln, die einen Hintergrund aufweisen und davor jemanden, der sich selbst vor diesem Hintergrund fotografiert hat. Diese Selfies sind Normalität geworden. Vor allem junge Menschen tauchen vor irgendwelchen bekannten Bauwerken, wie dem Brandenburger Tor auf, halten sich das Smartphone vor die Nase, schneiden Grimmassen und drücken ab. Dann beobachte ich meist auch junge Menschen in der U-Bahn oder S-Bahn, die in Endlosschleifen Bilder auf ihrem Handy ablaufen lassen, diese Flut gelegentlich anhalten, und dann weiter laufen lassen.

Mir scheint das langweilig zu sein. Den meisten Menschen aber offensichtlich nicht, sonst würden sie es auch nicht machen. Sie „liken“ und werden „gelikt“. Das ist der ganze Spaß und die Wertschätzung, die sie erfahren. Davon kann man offenbar nicht genug haben, also hat Instagram eine goldene Zukunft.

Merkwürdig finde ich allerdings den Begriff Selfie, nicht wegen des Amerikanismus, sondern wegen seiner Aussage. Selfie heißt, es geht um mich selbst. Es geht um mich selbst vor irgendetwas oder irgendwem. Ich stehe im Vordergrund. Es geht um mich. Mich sollen die Leute sehen. Ich bin so wichtig. Vor wem oder was ich dieses Bild als Hintergrund gemacht habe, völlig belanglos, sondern bestätigt wird nur, dass ich in der Lage bin, das Bild von mir dort zu machen. Naheliegend, dass in kurzer Zeit der Hintergrund nicht mehr authentisch ist, sondern Fake und ich echt. Kann ich da so sicher sein?

„Erkenne dich selbst!“ So forderte Chilon von Sparta. Wie soll ich mich Grimassen schneidend auf einem Selfie für Instagram noch erkennen? Das Bild ist auch nicht für mich, sondern für andere bestimmt. Erkenne ich mich selbst und mache dabei eine eigene gute Erfahrung, wenn Tausende das von mir gepostete Bild liken?

Ich vermute, dass ein Gefühl der Unvollkommenheit, des Verlustes und des Unbehagens bestehen bleibt, weil keines der Bilder mich so zu zeigen vermag, wie ich selbst bin, wie ich mich empfinde und wie ich eigentlich als Mensch mit all meinen Sinnen von anderen aufgenommen werden möchte. Aber vielleicht irre ich mich da, oder?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

CVJM

„Auf und mach´ das Banner Licht, ob das Wetter niederbricht, frisch hinausgeschritten, denn wir bleiben immer da, Christi junge Kämpferschar, er in unserer Mitten!“ So singend zogen wir als junge Kerle durch unsere Welt, organisierten Zeltlager, überfielen Pfadfinder, raubten ihnen ihren Wimpel. Diese überfielen wieder uns und raubten uns den Wimpel. Wir machten Kanufahrten und beteten, spielten miteinander, zelteten, unternahmen Fahrradtouren.

Wir waren Kameraden und hatten uns verabredet, zudem noch gute Christen zu sein. Es war eine herrliche Zeit. Die Lieder, die wir damals sangen, kommen mir heute komisch vor. Wir hatten Uniformen und Parolen. Wir sangen auch: „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord …“. Es gab durchaus Lieder, die bereits bei der Hitlerjugend gesungen wurden.

Dies waren auch Vorbehalte, die zumindest in Deutschland gegen Jugendgruppen vorgebracht wurden. Natürlich sind sie nicht von der Hand zu weisen. Die Begeisterungsfähigkeit von Kindern und jungen Menschen kann immer missbraucht werden, von Ideologien und Religionen. Aber das Andere ist auch wichtig zu betonen, dass Gemeinschaften gerade jungen Menschen Gelegenheit geben, sich gemeinsam zu vergewissern, an Lebensstabilität zu gewinnen und außerhalb des elterlichen Einflussbereiches sowie der Schule, Erfahrungen zu sammeln und zu sehen, was das Leben so bietet. Deshalb haben Kinder- und Jugendgangs eine große Anziehungskraft, die derjenigen von religiösen Kinder- und Jugendgemeinschaften sehr ähnlich ist. Sie vermitteln Halt und Anerkennung. Sie sind aber auch leicht manipulierbar durch Erwachsene, die Begeisterungsfähigkeiten in die für eigene Interessen nützliche Bereiche lenken. Dem kann man nur bedingt durch Verbote begegnen.

Sinnvoll ist es vielmehr, die Organisationskraft und Möglichkeit von Kindern und Jugendlichen zu stärken, ihnen nicht nur im Bereich Sport, sondern auch in allen sonstigen Bereichen noch mehr Möglichkeiten zu eröffnen, als dies heute geschieht. Wenn wir der Verführbarkeit von Kindern und Jugendlichen entgegenwirken wollen, müssen wir Begegnungsstätten stärken, in denen Kontroversen ausgetragen werden können. Die Zeit im CVJM war für mich sehr wichtig. Zum Gotteskrieger bin ich aufgrund meiner Erfahrungen nicht geworden, aber es war schön, für etwas einstehen zu dürfen und daraus eine pragmatisch integre Haltung für den Alltag abzuleiten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ereignisse

Ereignisse sind Bestandteil unserer Lebenskultur. Es sind vor allem traurige und schlimme Er­eignisse, von denen in den Medien berichtet wird. Da uns alle diese Ereignisse gegenwärtig sind, kann ich darauf verzichten, Beispiele zu nennen. Die Darstellung der Ereignisse be­schränkt sich in der Regel nicht auf die Schilderung eines Sachverhalts, sondern wird ange­reichert durch Bilder und Bewertungen. Und das scheint mir ein Problem. Kann ein Ereignis objektiv beschrieben werden? Und was verstehen wir unter objektiv? Eine Distanzaufnahme im wörtlichen und bildlichen Sinne?

Wenn dies möglich wäre, folgte dann nicht sofort der Vor­wurf mangelnder Empathie durch den Empfänger der Nachricht des geschilderten Ereignisses? Das gilt für die schlechte Nachricht. Für die gute Nachricht gilt, dass ein großes Maß an Anteilnahme auch verdächtigt wird, zum Beispiel im verächtlichen Sinne als Gutmenschentun, wenn ich hier nur das Beispiel der Willkommenskultur für Flüchtlinge benennen darf. Es ist sehr zweifelhaft, ob ein Ereignis überhaupt einer objektiven Beurteilung zugänglich ist, weil nicht nur das Ereignis selbst meist mehrere Facetten aufweist und die Wahrnehmung eines Ereignisses vor allem abhängt vom Wahrnehmungshorizont des Adressaten.

Und da setzt oft eine gedankliche und emotionale Piraterie durch Andere ein, ob das die Medien, Politiker, Theologen oder Verschwörungstheoretiker sind. Jedes öffentliche Vorkommnis erfährt so eine kollektive Bemächtigung durch Einzelne oder Gruppen, die das Ereignis sezieren, filtrieren und manipulieren, so dass die vermeintlichen Wahrnehmungsadressaten keine Einschätzung des Ereignisses durch Selbstermächtigung mehr haben können.

Der Verstand und das Gefühl, die beide um das Verstehen eines Ereignisses in seinem Kerngehalt ringen, sind nun angehalten, ihrerseits die angebotene Schilderung zu überprüfen, abzugleichen mit Einstellung, Erfahrung und programmatischer Sicht. Nach den ganzen intellektuellen Anstrengungen, die damit verbunden sind, erscheint schlussendlich das Ereignis selbst nur noch eine Metapher dessen zu sein, was wir nicht mehr verstehen wollen oder können. Die Hilflosigkeit gerinnt in einem Satz wie diesem: „Die einen sehen es so, die anderen so.“

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gegengesellschaft

Karl Marx und Friedrich Engels werden als Zeugen dafür aufgeboten, dass die Produktionsverhältnisse des Kapitalismus den Menschen zum Objekt degradieren. Der Mensch ist nicht mehr der selbstbestimmt Handelnde, sondern als Warenproduzent und Konsument gleichermaßen Konsumer. Was nach Marx´ Ansicht für den maschinenbestimmten Kapitalismus gilt, scheint auch für den durch Digitalisierung getriebenen Kapitalismus gleichermaßen zu gelten.

Es hat sich nichts geändert. Wurde früher nach Marxscher Ansicht der Mensch durch Maschinen ausgebeutet, so erfolgt nunmehr seine Ausbeutung durch eine digitalisierte Gesamtverfassung der Wirtschaft. Das Ergebnis sind wenige Profiteure, sich selbst versorgende Maschinen und eine überwiegende Anzahl an Menschen, denen weder Arbeit geboten wird, noch eine Grundversorgung, die ihnen Leben ermöglicht.

Trotz rapide steigender Bevölkerungszahlen sinkt das Angebot an erwerbsgerichteter Arbeit und verstetigt sich das Phänomen Marxscher Kultur- und Wirtschaftskritik. Wir haben kein erprobtes Gesellschaftsmodell, um die Zentrifugierung unserer Gesellschaft aufzuhalten. Wir benötigen das Modell einer Gegengesellschaft, die trotz aller Anerkennung bisheriger Errungenschaften nicht nur Neues erprobt, sondern überhaupt uns Menschen zu neuem Denken geleitet, das global anerkennungsfähig ist.

Ein zentrales Anliegen einer solchen Gesellschaft müsste es sein, nicht mehr den Gelderwerb, sondern die Beschäftigung des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Ein tätiger Mensch verwirklicht so den Lebenssinn und schafft Nutzen für sich und andere, ohne dass er sich permanent in den Wettbewerb zu einem anderen Menschen stellt, indem er seine Verdienste berechnet oder es zulässt, dass Andere ihn beneiden. Nicht Erwerbsarbeit, sondern Beschäftigung im Zusammenhang mit fortschreitender Verbesserung unserer Möglichkeiten ist auf der Lebensspur jedes Menschen vorbezeichnet. Lernen und dadurch zur Lebensverbesserung beizutragen, ist nicht nur ästhetisch, sondern auch unter Nützlichkeitsgesichtspunkten weit vorteilhafter als individuelle oder kollektive Arbeitsstrukturen.

Wieso sollte soziale Anerkennung mit Anhäufung von Geld verbunden sein? Wieso sollen Eigentumsverhältnisse mehr zählen, als die Verfügbarkeit über Gegenstände auf Zeit. All dies ist nur eine Frage der gesellschaftlichen Verabredung und nicht eines Gebots, weder religiös noch weltlich. In einer Gegengesellschaft lautet das Motto: „Ich arbeite für mein Leben gern.“ Es ist eine Frage der Souveränität eines jeden Menschen, dies zu tun und eine Frage an uns Menschen, ob wir in der Lage sind, mehr aus uns zu machen, als der Kapitalismus erlaubt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Erstarrung

Erstarrung? Die Welt ist in Bewegung, die Netze überlastet, Flugverkehr und Hochgeschwindigkeitsverhandeln von Finanzprodukten via Internet rund um die Uhr. Immer geschieht etwas und sei es auch an entferntester Stelle dieser Welt. Wir wissen es sofort und doch wirkt das uns überlassene Bild oft merkwürdig erstarrt.

Kriege, Krankheiten, alles präsent wie auf unserem Smartphone in tausenden, nein in millionsten Variationen und doch immer wieder die gleiche Pose, weltweit. Wie unsere Verhaltensweise erstarrt in globaler Gleichmacherei, erstarrt auch unsere Kultur.

Museen hinterfragen nicht unsere Einstellung, sondern zeigen uns das Gewesene. Konzerte und Opernaufführungen sind auch keine kulturellen Verbrauchsprodukte, sondern feine Speisen, die uns gelegentlich zur Erbauung vorgesetzt werden. Kunst und Kultur sind nicht in Aufruhr, sondern erstarren in Opportunitäten, Kommerz und Selbstbespiegelung. Die ökonomische Sinnhaftigkeit alles menschlichen Tuns untersagt ein Verhalten, das sich außerhalb der Norm stellt, ob im religiösen oder säkularen Bereich. Die Religion nicht infrage zu stellen, um Konfrontationen zu vermeiden, verhindert vielleicht eine gesteigerte Einsichtsfähigkeit in das Göttliche.

Kulturelle Dogmen nicht zu überwinden, gestattet auch ein flexibleres Denken nicht, das heißt ein Denken, dass über die eigene Perspektive hinausgreift. Es wäre vielleicht hilfreich für unsere eigene kulturelle Entwicklung in Europa, uns von afrikanischen Kulturen herzudenken und dabei Durchmischungen in der Interpretation und Hörweise von Musikwerken zuzulassen. Vielfalt verstört nicht, ist sicher anstrengend, aber lohnend.

Erstarrungen führen zu Besitzstandswahrungen, die Verlustsängste wachrufen. Man kann auf dieser Art und Weise Kulturen zu Tode verteidigen, bis von ihnen nichts mehr bleibt als die in sich erstarrte Selbstbehauptung. Diese Kultur erklärt nichts mehr, fordert uns nicht mehr heraus, sondern vergrößert allenfalls noch unsere Macht, einen Tauschwert für Anderes zu erlangen, das uns mehr bringt als Kultur: Eigentum und Besitz.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Nudging

Wir ahnen es, fühlen und spüren, dass etwas nicht stimmt mit uns und der Welt. Auch Menschen, denen es gut geht, die gesund sind und keine wirtschaftlichen Nachteile im Moment befürchten müssen, haben das Gefühl der Unstimmigkeit. Dieses Gefühl macht misstrauisch, ängstlich und teilweise auch aggressiv. Wir wissen nicht, was los ist, keiner kann uns den Zustand der Welt und unser eigenes Befinden erklären. Es gibt zwar Sachbücher zu Hauf, wissenschaftliche Abhandlungen und Erklärungsformate im analogen und digitalen Bereich, aber eine schlüssige Antwort darauf, was uns beunruhigt, gibt es nicht. Schön wäre es, ich hätte sie. Das ist aber nicht so.

Ich spüre allerdings den Grund für alle berechtigten Sorgen. Ich spüre, dass wir Menschen gerade dabei sein, uns der Kontrolle zu entledigen, und zwar der Eigenkontrolle. Diese Kontrolle besteht darin, dass wir selbst wissen, was richtig und falsch ist, aber auch der sozialen Kontrolle, die dann eingreift, wenn die Eigenkontrolle zu versagen scheint. In einer globalisierten Welt und insbesondere in der Verborgenheit des Internet tritt an die Stelle der sozialen Kontrolle die anonyme Abrechnung mit anderen Menschen.

Der Abrechnende muss dabei kein Gesicht zeigen, sondern kann sich im Netz verstecken. Im Netz verstecken sich auch die Einflüsterer und Verkaufssirenen. War Wachstum früher eine normale Begleiterscheinung menschlichen Wirkens, ist Wachstum heute ein sich schnell verbreitender Fetisch sowohl im Finanz- als auch Warenverkehr. Wachstum, Wachstum über alles, über alles in der Welt! Es wachsen nicht mehr Unternehmen, es wachsen Renditen. Es wachsen nicht mehr Wälder, sondern Sojafelder. Es wachsen nicht mehr Blumen, sondern Rinder. Fetisch Wachstum. Dabei geht es gar nicht darum, Wachstum zu verteufeln, sondern Wachstum in eine Beziehung zum Menschen zu setzen. Äußeres Wachstum muss sich im inneren Wachstum des Menschen spiegeln. Wächst die menschliche Integrität, seine Einsichtsfähigkeit und Verantwortung, hat auch das gestaltende Wachstum dieser Welt eine annehmbare Bedeutung. Warum aber verzichtet der Mensch auf das Wachstum seiner eigenen Fähigkeiten?

Vielleicht hat er dessen Nützlichkeit noch nicht erkannt, die Kraft der Integrität und des übersichtlichen Handelns. Es ist daher wichtig, dass wir uns selbst und anderen einen Anschubser (Nudging) verpassen, um in eine andere Richtung zu gehen, als die, die wir bisher eingeschlagen haben, damit wir selbst herausfinden, ob dieser andere Weg nicht weitere Vorteile für uns bietet. Belehrungen und Ermahnungen fruchten da gar nichts, sondern nur das Neugierigmachen auf gewinnversprechende Alternativen sowohl im persönlichen, zwischenmenschlichen und natürlich auch wirtschaftlichen Bereich.

Das kann im Gespräch oder auch in der Selbstreflektion mit dem Satz beginnen: „Was willst Du eigentlich?“ Sobald die Selbstvergewisserung eingesetzt hat, geht es nur noch um die professionelle Umsetzung des zielführenden Weges.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski