Archiv für den Monat: August 2019

Rationalisierung

Merken wir uns: Alles, was wir machen, ist von Menschen für Menschen gemacht. Wie verträgt diese Behauptung sich aber mit der progredienten Wegrationalisierung von Menschen im Arbeitsprozess? Was sind die Konsequenzen? Ist die Behauptung denn dann richtig, wenn man bedenkt, dass überall Arbeitskräfte gesucht werden im Handwerk oder Pflegebereich?

Beides hat miteinander zu tun. Das Fehlen der Arbeitskräfte und die Rationalisierungsmaßnahmen. Das Wegrationalisieren von Arbeitskräften und deren Ersatz durch Maschinen, Optimierung von Handlungsabläufen und Kosteneinsparungsmaßnahmen, haben dazu geführt, dass Arbeitshierarchien entstehen und diejenigen, die im ersten Arbeitsbereich wegrationalisiert wurden, stufenweise abstiegen, um dann bei Hartz IV oder in der Sozialhilfe zu landen. Dieser Prozess hat nicht nur Arbeitnehmer entmutigt, die keine adäquate Arbeit mehr hatten, sondern bildete auch das eindrucksvolle Beispiel für andere, sich um potentiell abstiegsgefährdete Arbeiten überhaupt nicht mehr zu bemühen.

Die Eintragung in das soziale Arbeitsstammbuch lautete: Die Ausbildung lohnt sich nicht, da keine Gewissheit mehr besteht, auf Dauer noch in dem angestrebten Beruf zu arbeiten, weil technische und disruptive Entwicklungen, keine verlässliche Berufsverwirklichung in den gewünschten Unternehmen mehr zulassen. Selbst Menschen, die keine persönliche Erfahrung mit der Wegrationalisierung gemacht haben, sind Zeugen des nicht nur in der Wirtschaft gepflegten Rationalisierungsprozesses. Rationalisierung bedeutet in erster Linie Kosteneinsparung.

Es werden Kosten bei Unternehmen eingespart, die aufgrund gesellschaftlicher Fürsorgemaßnahmen dann von der Gemeinschaft übernommen werden müssen. Dass der Staat dafür eintritt, bedeutet genau dies. Wir zahlen Steuern, um Unternehmen ihre Rationalisierungsmaßnahmen zu ermöglichen. Diese Form der Umverteilung, um wirtschaftliche Ergebnisse für Unternehmer und Anleger zu stärken, halte ich für bedenklich. Sie birgt nicht nur finanzielle Folgen für uns alle, sondern belastet unsere Gesellschaft auch emotional und wirtschaftlich.

Wir werden belastet durch Verhaltensweisen, die zu Unzufriedenheiten in unsere Gesellschaft beitragen, zu politischen Verwerfungen führen und deren Kosten bei weitem den Nutzen für die Gesellschaft und auch für die Wirtschaft übersteigen. Zudem bemerken wir bitter, dass diese Rationalisierungsmaßnahmen zum Beispiel bei der Einsparung von Lehrern, Polizisten, Angehörigen im öffentlichen Dienst, aber auch in Wirtschaftsunternehmen die gesamtgesellschaftlichen Prozesse erschweren, sogar behindern, anstatt sie zu beschleunigen.

Deshalb sollten wir uns – koste es, was es wolle – darauf besinnen, dass alles, was wir tun, von Menschen für Menschen gemacht sein sollte und danach handeln.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Sozialblick

Nehmen wir zum Beispiel einmal an, eine ältere Person überquert mit dem Rollator langsam eine Straße, hat aber dann Schwierigkeiten, die Kante des Bürgersteigs mit dem Gerät zu überwinden. Nehmen wir einmal weiter an, eine schwangere Frau mit einem Kleinkind an der Hand besteigt die U-Bahn. Im letzteren Fall, keiner steht auf, im ersten Fall, keiner hilft. Es liegt nahe anzunehmen, dass unsere Gesellschaft immer mehr verroht und Gefühlskälte die Menschen davon abhält, dort einzugreifen, wo es erforderlich ist. Das kann, muss aber nicht zwangsläufig sein. Ausschlaggebend könnte auch sein, dass sich der soziale Blick verändert hat und Teilnehmer am öffentlichen Leben die Nöte und Probleme anderer Menschen nicht mehr oder nur eingeschränkt wahrnehmen.

Als ich im Winter eine junge Frau dabei beobachtete, wie sie ihre Stiefel auf die gegenüberliegende Sitzbank der S-Bahn stellte, sprach ich sie an und wies darauf hin, dass dort möglicherweise später jemand sitzen würde und es für diesen sicher nicht angenehm wäre, im mutmaßlich hinterbliebenen Schmutz der Stiefel zu sitzen. Die junge Frau reagierte erschrocken, nahm sofort ihre Stiefel vom Sitz und murmelte: „Entschuldigung, ich habe das nicht gemerkt.“

Viele Beispiele in dieser oder in anderer Form kenne ich und sicher jeder Leser auch. Die junge Frau in meinem Beispiel war in die Nachrichten ihres Smartphones vertieft, andere ebenfalls in irgendwelche Messages oder Musik. Die sozialen Medien verlangen Aufmerksamkeit und nehmen ihre Nutzer so gefangen, dass sie Vorkommnisse in der Realität außerhalb des eigenen Kommunikationsbereichs gar nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen können. Durch die Verengung des Blicks auf das Gerät verengt sich auch der Bereich des sozialen Schauens.

War es früher so, dass alle Menschen mehr oder minder neugierig in der U-Bahn waren oder die Straße entlanggingen, um etwas zu erfahren, zu beobachten oder auch zu kommunizieren, hat sich heute der Blick nach innen gewandt. Selbst dann, wenn die interaktive Kommunikation mit oder über den Apparat gerade nicht erfolgt, verändert sich der Blick nicht. Der Blick bleibt nach innen gewandt, Gedanken und Gefühle bei der letzten WhatsApp-Nachricht oder einer bevorstehenden Instagram-Aktionsrunde. Es ist also keine persönliche Gedankenlosigkeit oder Böswilligkeit des Verkehrsteilnehmers im öffentlichen Bereich, sondern der Verlust der Möglichkeit, den sozialen Blick zu schärfen, zu erkennen und zu reagieren.

Wenn die Realität allerdings nur eingeschränkt eine Rolle spielt, besteht die Gefahr, auch dann nicht reagieren zu können, wenn unvermutet Dinge geschehen, die eine Selbstgefährdung nicht ausschließen. Der Verlust oder die Einschränkung des sozialen Schauens ist ein Gefährdungstatbestand, der weitreichende Konsequenzen in allen menschlichen Bereichen, kognitiv, emotional und psychisch haben kann. Wir müssen den sozialen Kommunikationsverlusten entgegenwirken und Smartphones nicht als Lebens- sondern allenfalls als Ergänzungsinstrumente begreifen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Egoismus/Ich

„Mir wohl und keinem übel“, so lautet unser Familienspruch. Als ich ihn zum ersten Mal bewusst aufnahm, erschien er mir befremdlich. Bis heute habe ich allerdings immer wieder Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken und gewinne die Einsicht, dass diese Form der bewussten Selbstbescheidung dem „Ich“ einen geeigneten Platz zuweist.

In einer ich-zentrierten Welt begreift sich der Mensch als Anspruchsteller, der beurteilt, Noten verteilt und in der Abgrenzung zu anderen sich selbst belohnt. Der andere Mensch ist dabei in erster Linie Lieferant von Argumenten zur Stärkung der Selbstzufriedenheit. In einem solchen Kontext bewegen sich nicht nur materielle Ansprüche, sondern jede Form der Verlautbarung nur um das eigene Ich. Das eigene Ich „darf doch noch einmal sagen“, das eigene Ich kann bei aller Zumutung, die ihm zuteil wird, mit Neid, Missgunst und Empörung reagieren.

Und die Alternative? Eine Alternative dafür könnte sein, „sich“ Gutes zu tun. Sich Gutes tun heißt, mit Dankbarkeit an Selbsterrungenschaften zu arbeiten und sich selig, geistig und materiell mit dem Notwendigen zu versorgen, ohne darüber zu jammern, nicht alles zu bekommen. Die andere Seite dabei ist allerdings, bei dieser Form der umfassenden Selbstversorgung auch die anderen Menschen im Auge zu behalten und dafür einzutreten, dass ihnen, ihrer Würde in geistiger und materieller Hinsicht nichts geschieht.

Dies ist eine Form der Ich-Betrachtung mit einem Abwehrreflex gegenüber denjenigen Einwirkungen, die andere Menschen beschädigen können. Wenn alle Menschen bei den Wohltaten, die sie sich selbst zugutekommen lassen, die anderen Menschen mitbedenken, ist ein gesamtgesellschaftliches Verständnis möglich und gewinnt eine Aussage, wie: „Mir wohl und keinem übel“ über den Regelungsinhalt hinaus verlässliche Bedeutung. Um Unheil von anderen abzuwenden, bescheide ich mich selbst, sei dies in Fragen des Umweltschutzes, des Konsums oder der Meinungsäußerung. Mit einer solchen Einstellung wird das Ich wirklich stark und Egoismus ein verlässliches Programm.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski