Archiv für den Monat: August 2020

Schleier

Zuweilen habe ich das Gefühl, dass über meiner Wahrnehmung ein Schleier liege, den ich nicht anheben, geschweige denn wegziehen kann. Ich vermute, dass der Schleier eine Erkenntnis verhüllt, die weder logisch, noch emotional argumentativ oder wissenschaftlich zu erschließen ist. Das verborgene Etwas muss aber etwas von uns sein, unsere Natur, die Einbildungen schafft, uns inspiriert und somit etwas Mächtiges darstellt, das wir dem Göttlichen zuweisen, aber damit nicht hinreichend beschreiben.

Mit dem umfassenden Alles oder Nichts benennen wir Aspekte der Wirkung, wozu uns das Ungeheure in die Demut vor seiner Unerreichbarkeit zwingt. In Ahnung dessen, was der Schleier verhüllt, aber nicht bereit ist, freizugeben, wie können wir glauben, dass irgendeine unserer Wahrnehmungen und Beurteilungen mehr ist, als das Bemühen, uns vor der Last der großen Verantwortung für alles zu drücken.

Durch erprobte Konventionen, Rituale und sonstiges Regelwerk versuchen wir, uns selbst und auch die anderen von der Gegenwärtigkeit unserer Unwissenheit abzulenken, weil es uns derzeit noch nicht gelingt, den Schleier zu lüften.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Fremd

Wie fremd ist uns das Fremde? Warum ist es so? Wie fremd sind wir anderen, auch uns selbst? Empfinden wir Fremdes als Belastung, als nicht zugehörig? Ist Fremdeln eine Haltung oder beruht sie auf der fehlenden Möglichkeit der Einschätzung? Ungewohntes ist uns fremd und wir benötigen eine Anleitung, um uns im Fremden zurechtzufinden, ob in einem fremden Land oder auch mit fremden Menschen.

Wenn wir uns mit dem Fremden zurecht gefunden haben, gelingt es uns, ein Arrangement zu treffen. Zuweilen kommt das Fremde uns auch entgegen, um unsere Scheu zu überwinden. In fremden Ländern stellen wir fest, dass vieles anders ist, aber auch die Gewohnheit uns den Umgang mit dem anderen erleichtert. Wenn wir uns sicher fühlen, empfinden wir das Fremde auch als wohltuende Herausforderung. Das Wissen kann dabei helfen, uns zum Beispiel die Fremdheit unter den Menschen zu erklären und dadurch eine Verbindung zu schaffen, die durch das Bemühen allein nicht zu erreichen ist.

Menschen können uns durch ihre Hautfarbe fremd sein. Um diese Fremdheit zu überwinden, reicht es nicht, dass wir erfahren, dass diese Menschen und wir genetisch völlig übereinstimmen. Wenn wir aber wissen, dass wir Europäer aufgrund der Lichtverhältnisse weiß geworden sind, können wir den Unterschied in der Hautfarbe besser einordnen und ihr die Relevanz bei der Beurteilung des Fremden nehmen.

Wissen schafft Verständigung und erlaubt es, ohne Schuldzuweisung für Fehlbeurteilungen in der Vergangenheit sich auf die Suche nach der Entdeckung des anderen zu begeben und daraus Vorteile für unsere Zukunft abzuleiten. Wir können nicht so tun, als seien wir alle gleich, aber die Bereitschaft, unser menschliches Verhalten zu reflektieren, eröffnet uns auch die Möglichkeit, nicht nur Momentaufnahmen zu menschlichem Versagen und Gier zu machen, sondern wir begreifen, dass die Ausbeutung anderer Menschen für eigene Zwecke aus Gründen der Nützlichkeit stigmatisierend wirkt und Fremdsein begründet.

Es liegt daher an uns, das Fremde dadurch zu schätzen, dass die Vorurteile, die uns in der Vergangenheit oft nützlich waren, überwunden und das Fremde neu bewertet werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Märchen

Mit der Ruck – Stiftung des Aufbruchs will ich Eltern auf die Bildungsinteressen ihrer Kinder aufmerksam machen. Dies geschieht dadurch, dass Kindern von Geburt an auch die Welt der Phantasie durch die Eltern erzählend nahegebracht wird. Kinder dürsten nach sinnlichen Erfahrungen. Sie sind in der Lage, das, was sie hören, sehen und begreifen, in ihrer Phantasie abzulegen, mit weiteren Eindrücken aus ihrem Alltag zu vergleichen und lebenslang Lehren daraus zu ziehen.

Wir müssen bedenken, dass Architekten und Maler, die Kristallpaläste entwarfen und Wasserstädte visionierten, später Begründer des Bauhauses wurden. Erzählen von Geschichten von Anfang an bedeutet also für zuhörende Kinder nicht nur die Erweiterung ihres Sprachschatzes, sondern es werden ihnen auch Maßstäbe zur Auswahl besserer Entscheidungen geboten.

Gut erzählte Märchen müssen nicht unbedingt das Phantasieprodukt erwachsener Menschen sein, sondern sie können sich auch aus der erzählenden Kommunikation mit dem Kind entwickeln. Wenn ich meinen Kindern wunschgemäß immer wieder das gleiche Märchen erzählte, haben sie mich an jedes vergessene Detail der Geschichten erinnert, so dass ich mich schließlich dazu entschloss, diese aufzuschreiben.

Wenn ich heute Lesungen aus Kinderbüchern bestreite, so gewinne ich aus der Erwartungshaltung des Publikums die gleiche gespannte Aufmerksamkeit, die mir meine Kinder seinerzeit haben zuteil werden lassen. Dies zeigt mir die Bedeutung, die jedem Märchen innewohnt. Als ich vor längerer Zeit vom polnisch-tschechischen Freundschaftsweg kommend die Schlucht zur Spindlermühle hinabkletterte, hatte ich das Empfinden, wenn jetzt Rübezahl aus dem Wald hervortrete, jedes Märchen auf einen Schlag wahr werden würde. Das war ein beglückender Moment und so nahe an der Wirklichkeit ,oder?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Globalisierung

Der Begriff Globalisierung wird mit dem Wirtschaftsverkehr, dem Austausch von Daten, Tourismus, Seuchen und Pandemien sowie Umweltzerstörung in Verbindung gebracht. Gibt es etwas Anderes? Für mich: ja. Vor einiger Zeit war ich im Iran. Einmal abgesehen von den Abgaswolken in Teheran begegnete ich den gepflegtesten, kultiviertesten und gastfreundschaftlichsten Menschen. Wie kann das sein trotz eines Systems, das Menschen unterdrückt, ihrer freien Meinungsäußerung beraubt und teilweise auf das Schrecklichste quält.

Vor einiger Zeit war ich in der Türkei, einem wunderbaren Land mit großzügigen und aufgeschlossenen Menschen, sehr verständnisvoll und witzig. Und auch in diesem Land muss ich zur Kenntnis nehmen, dass die Bürgerrechte weitgehend eingeschränkt sind und Willkür den Alltag kennzeichnet. Israel, ein von lebendigen Metropolen gekennzeichnetes Land mit aufgeschlossenen Menschen unterschiedlichster Verhaltensweisen, Einstellungen und Meinungen. Aber auch hier Intoleranz, Rechthaberei und Abgrenzung. Russland, dem ich familiär verbunden und schon aus diesem Grund dessen Kultur, Geschichte und Menschen sehr nahe bin, ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Auch in diesem Land gibt es „schwarze Männer“, die Unterdrückung und Bevormundung sowie Reglementierung als Staatsziel begreifen.

Ein Abdruck meines Herzens befindet sich in den USA, denn erfuhr ich doch als Austauschschüler dort das wohl prägendste Jahr meines Lebens. Gerade weil mich dieses Jahr auch zum Amerikaner gemacht hatte und ich viele großartige Menschen damals und auch bei meinen heutigen Besuchen in New York begegne, macht mich das Maß an Intoleranz, Dummheit und Menschenverachtung in Teilen dieser Gesellschaft fassungslos.

Die Menschen in Südafrika zeichnet Wärme, Gastfreundschaft und Lebensfreude aus. Dies trotz Apartheid, die nicht völlig überwunden zu sein scheint, Korruption und Feindseligkeiten den Alltag von Menschen erschweren und verhindern, dass HIV und Tuberkulose nachhaltig bekämpft werden können. Von arabischen Ländern, wie Jordanien, Syrien, dem Libanon und Ägypten möchte ich sprechen. Länder, die nicht nur eine großartige kulturelle Geschichte, sondern auch Freundlichkeit, Gastlichkeit, Kultur und Schönheit auszeichnet. Und doch weisen auch diese wunderbaren Länder auf der anderen Seite ihres Verständnisses schreckliche Momente der Verachtung des Menschen, seiner Interessen, seiner Entwicklungschancen und seiner Lebensinteressen aus. Und von Chile, einem Staat, in dem ich mich aufgrund einer Reise auch familiär verbunden fühle, kann ich ähnliches berichten und rufe zuletzt Frankreich und Deutschland auf. Zwei Länder, die ich in einem Atemzug nennen darf, weil ihre Verbindungen so mannigfaltig sind und trotz aller Unterschiedlichkeit ein Stück Heimat für mich darstellen. Auch in diesen beiden Ländern gibt es Bedrohungen, die allerdings nicht staatlich gelenkt, sondern sich aus dem Populismus heraus entwickeln mit dem Ziel, Deutungsmacht über das Leben anderer Landsleute zu gewinnen.

Bei meinen Aufzählungen habe ich kurz und knapp das Missfallen an Entwicklungen in den als Auswahl genannten Ländern nicht verschwiegen. Ich habe aber auch deutlich gemacht, dass ich überall in dieser Welt auch auf wunderbare Menschen, Hilfsbereitschaft, Wohlwollen, Gastfreundschaft und Zuneigung gestoßen bin. Für mich ist es ein Ausdruck der Globalisierung, diese Erfahrungen machen und mit anderen teilen zu dürfen. Es ist viel schöner auf dieser Welt und die Menschen sind trotz aller Belastungen und Einschränkungen so viel mutiger und optimistischer als wir uns dies wechselseitig oft glauben machen wollen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski