Archiv für den Monat: Juni 2023

Manieren

Noch habe ich das im Ohr: „Was bist du nur für ein ungezogener Bengel, hast du denn überhaupt keine Manieren!“ Oder auch: „Haben deine Eltern dir denn überhaupt keine Manieren beigebracht!“ Manieren? Welch seltsames Wort, aber als Kinder wussten wir genau, was damit gemeint war. Manieren bezeichnete das allgemeine Verständnis zu wissen, was sich gehört oder nicht gehört und entsprechend auch zu handeln. Der Begriff stammt aus dem Französischen. Er umfasst den gesamten Bereich einer Ordnung, die als allgemeinverbindlich angesehen wird, und zwar obwohl dies nirgends schriftlich verzeichnet ist.

Manieren wurden früher dem Kind beigebracht, d. h. es lernte die Regeln, die als selbstverständlich dafür angesehen wurden, dass sich der Mensch durch sein Leben navigieren sollte, ohne ständig mit dem Verhalten und den Ansprüchen anderer Menschen in Konflikt zu geraten. Ein Kind wusste, ob und wann es sich nicht manierlich verhält und versuchte dies möglichst zu vermeiden, es sei denn, dass es sich gerade bewusst und absichtlich unmanierlich verhielt, um Reaktionen der Erwachsenen zu provozieren.

Heute sind diese fast altertümlich anmutenden Begriffe kaum mehr gebräuchlich, aber der Sinn, der dahintersteht, ist weiterhin aktuell. Jeder Mensch muss wissen, was er darf und was er vermeiden muss, um ein einvernehmliches Zusammenleben mit anderen Menschen zu gewährleisten. Besteht dieses allgemeine Verständnis nicht und wird dies bei der Entwicklung von Kindern vernachlässigt, besteht die Gefahr, dass bei fehlender Kenntnis der Regeln der junge Mensch mit Verhaltensweisen anderer Menschen konfrontiert wird, die er nicht einordnen kann und sich dann entweder irritiert zurückzieht oder mit Aggressivität reagiert.

Diese Radikalisierung von Verhaltensweisen nehme ich wahr. Unhöflichkeit und Wut sind aber taktisch völlig ungeeignete Verhaltensweisen, um die Förderung des eigenen Anliegens und inhaltsbezogene Gespräche zu erreichen. Sie offenbaren vielmehr die Unfähigkeit, Ziele zwar beharrlich, aber auch unter Wahrnehmung eigener Grenzen zu verfolgen und einvernehmlich zum Erfolg zu gelangen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Geschichte

Wie dürfen wir uns hier die Geschichte und unsere Rolle, die wir in dieser spielen, vorstellen? Ist Geschichte etwa ein träger Fluss, der uns mit der Geburt aufnimmt, uns in ihm treiben oder gar schwimmen lässt, um uns schließlich, wenn die Kräfte nachlassen, verschlingt? Oder ist Geschichte etwa eine Geschichtensammlung, ein Archiv einzelner und kollektiver Erlebnisse, die durch gemeinsames Verständnis oder gemeinsame Schicksale begründet ist?

Vielleicht eher das Letztere. Meiner Ansicht nach spielt jeder Mensch in dieser Geschichte eine Rolle, für die er verantwortlich ist. Um der durch die Geburt begründeten Verantwortung gerecht zu werden, müssen wir unsere Rolle in dieser gestalten, unsere Geschichten weitererzählen, von Generation zu Generation. Unsere Erzählungen bergen wertvolle Schätze der Erfahrung, aber auch das Wagnis, Neues zu schaffen, sich dabei der Vergangenheit und Gegenwart zu vergewissern und unbekannte Wege zu erschließen.

Wir erkennen Gemeinsames auch dann, wenn wir Geschichtenerzählern zuhören, selbst Geschichten unseren Kindern erzählen, so familiäre Verbindungen pflegen und uns auch unseres Herkommens über Generationen hinweg versichern. Dabei geht es aber nicht nur um die Familie, sondern auch um all das, was uns mit anderen Menschen verbindet, selbst Tiere, Pflanzen, Heimat, Landstriche, Länder, Nationen, also alle Umstände, seien diese privat oder gemeinschaftlich.

Sowohl Versagungen als auch Erfolge prägen Geschichte. So birgt diese auch alle Tragödien, große und kleine Taten, alles Denken, Fühlen und Handeln. Die alltäglichen Mühen, die Fähigkeiten, Schwierigkeiten, Freude und Trauer, all dies ist selbst dann, wenn es nicht persönlich und unmittelbar erlebt wird, unsere Geschichte, die Geschichte aller Menschen und der Welt.

Geschichte ist völlig indifferent gegenüber Stolz oder Ablehnung, aber wir können unserer eigenen Verantwortung, Geschichte mitzugestalten, nicht entgehen und sollten bei unserem Handeln auch an die Ewigkeit unseres eigenen Beitrags und dessen Wirkung denken. Ein Neustart von Geschichte ist nicht möglich. Das, was geschehen und aufgezeichnet ist, bleibt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Netzwerke

Die Bildung von Netzwerken entspricht – wie die Forderung nach Nachhaltigkeit – dem Zeitgeist. Der Fortschritt allgemein und speziell die Entwicklung eigener Vorhaben wird mit der Zugehörigkeit zu und ggf. der Schaffung von Netzwerken verbunden. Das ist sicher nicht falsch, denn schon früh wussten wir Menschen, dass wir nur gemeinsam stark sind. Davon lebt auch der Allmendegedanke. Aber, was zeichnet nun Netzwerke aus, was sollten sie beachten und wo lauern Gefahren?

Netzwerke bilden sich dadurch, dass Menschen einander kennenlernen und ihre Auffassungen und Tätigkeiten miteinander teilen. Eine auf der Hand liegende Gefahr ist dabei aber auch, dass die Handelnden in erster Linie zusammenfinden, um eine gemeinsame Meinung zu bilden und zu verbreiten. Geschieht dies, führt das so aktivierte Netzwerk über kurz oder lang zu einer Gleichrichtung der Meinungen, die im Netzwerk durch Kraft aufgeladen, zu einer Meinungsdiktatur führen könnte und damit zerstörend und verantwortungslos wirkt. Dies ist aber genau das Gegenteil dessen, was ein Netzwerk verspricht, und zwar einander in der Vielfältigkeit von Meinungen, Erfahrungen und Ansichten kennenzulernen und eine gemeinsame Idee, einen weiterführenden Gedanken zu entwickeln und fortzuschreiben, um so in der Lage zu sein, das Netzwerk zu bereichern.

Damit sich die Netzwerkteilnehmer wahrnehmen, ist es unerlässlich, dass sie einander zuhören, statt in erster Linie eigene Parolen und Meinungen zu verbreiten. Jeder sollte bedenken: „Was ich zu sagen habe oder sagen könnte, das kenne ich, was andere aber zu sagen haben, nicht.“ Wenn ich erwartungsoffen anderen Menschen zuhöre, werde ich in der Regel an Ideen und Erfahrungen reicher. Sollte ich aber auch etwas beizutragen haben, dann muss ich darauf achten, dass dies mit den Erkenntniserwartungen anderer Netzwerkteilnehmer korrespondiert, d. h. dass ich empfängerorientiert rede. Dabei ist jedes Offensichtliche zu vermeiden, denn dies interessiert niemanden. Es ist nur Geduld und Höflichkeit, die ein solches Verhalten hinnehmbar erscheinen lassen.

Was ich sage, kann für andere wichtig sein, aber nicht unbedingt. Es ist allerdings für mich selbst stets wichtig, etwas Neues, mir bisher Unbekanntes zu erfahren, es ist wertvoll, und zwar selbst dann, wenn ich augenblicklich den Nutzen noch nicht richtig einordnen kann. Aufgeschlossenheit und Verständnis für die Ansichten anderer und deren Handeln schafft Verbindungen und leistet die Voraussetzung für etwaige gemeinsame Projekte, die in oder aufgrund eines Netzwerkes entstehen könnten.

Dies geschieht nicht zwangsläufig, sondern hängt von der Aufnahmefähigkeit und dem beharrlichen Willen aller Beteiligten ab, etwas zu gestalten, ihre Fähigkeiten kooperativ zu optimieren und beharrlich dabei zu sein, also prozessual nicht nachzulassen im Gestalten und Handeln und dabei zu bedenken, dass das Leben eine lange, wunderbare Veranstaltung ist, die allen Teilnehmern von Netzwerken alle Chancen und Möglichkeiten bietet, Vorhaben zu verwirklichen, wenn der Wille bleibt, sich tatsächlich einzubringen und dabei im Auge zu behalten, dass wir alles gemeinsam friedlicher und besser von Menschen für Menschen, für die Natur, die Tiere und schließlich die Umwelt machen sollten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Paradigmenwechsel

1961 rief John F. Kennedy seine amerikanischen Landsleute auf, nicht zu fragen, was ihr Land für sie tun könne, sondern zu prüfen, was sie für ihr Land tun können. Der Bundespräsident Roman Herzog forderte in seiner berühmten Adlon-Rede 1997, dass ein Ruck durch Deutschland gehen möge und er erwarte, dass sich sämtliche gesellschaftlichen Kräfte einschließlich der Politik in diese Richtung bewegen.

Diese Zitate haben viele Ansprachen garniert, aber eine gesellschaftliche Verinnerlichung ist bisher nicht erkennbar. Das ist bei einer Vorteilsgesellschaft, die stark davon geprägt ist, Ansprüche zu stellen und auch zu realisieren, um die eigene Existenz zu sichern und auszubauen, auch nicht passend. Es sollte aber bedacht werden, dass sich Gesellschaften weiterentwickeln und bisherige Gesellschaftsmodelle entweder versagen oder ausgedient haben können.

Die gängigen Lebensbewältigungsmethoden enthalten kein Fortschrittsversprechen. Bedenken wir, dass ein weit verbreitetes Anspruchsverhalten immer weitere Ansprüche generiert, die trotz eines hohen Sättigungsgrades an ertrotzten Zuwendungen nicht zur Befriedigung der Anspruchsteller führen wird. Sollten wir in der Lage sein, dies zu erkennen, wäre ein Paradigmenwechsel dahingehend angezeigt, dass wir das „Geben“ statt des „Nehmens“ als gerecht empfinden, und diese Erkenntnis als Rechtsgewährungspflicht ohne Rücksicht auf jegliche Anspruchsstellung ausformulieren.

Da sich im Nehmen, wie im Geben alle Menschen gleich sein könnten, würde die Änderung der Sichtweise viele neue Möglichkeiten eröffnen, die sich nicht in der Reaktion auf Anspruchsstellungen erschöpfen würde. Im privaten Bereich könnten z. B. erbrechtliche Zuwendungen unter dem Blickwinkel der Notwendigkeit einer Absicherung der Nachkommen neu bedacht werden. Früher durchaus geläufige Allmende-Erfahrungen könnten wiederbelebt und strukturell neu genutzt werden. Das Streben nach eigenen Vorteilen könnte einer günstigeren Erfahrung des gemeinsamen Gewinns unter Einsatz aller dazu zur Verfügung stehenden Ressourcen Platz machen.

Die Organisationsformen, seien diese Stiftungen, Genossenschaften oder Gesellschaften mit gebundenem Vermögen, stehen zur Verfügung. Sie könnten nicht nur in einem Land, sondern grenzüberschreitend entwickelt werden und über den kommunalen bis in den persönlichen Bereich hinein wirken. Es könnten die Instrumente für ein generationenübergreifendes Miteinander im Wohnquartierbereich bis hin zur Generationenbank auf eine sehr praktische Art und Weise umgesetzt werden.

Die Vorteile für ein nachhaltiges Wirtschaften im Interesse der Menschen, der Tiere, der Natur allgemein, zur Lebensverbesserung und zum Klimaschutz liegen auf der Hand. Diese Verhaltensweise ist im Gegensatz zu fast allen bekannten bisherigen Lebensverwirklichungsformen nicht mit Ideologien befrachtet, sondern speist ihre Rechtfertigung ausschließlich aus dem gleichberechtigten, pragmatischen Verhalten aller Teilnehmer bzw. Stakeholder. Wir können es uns erlauben, etwas für unser Land, für die Natur und andere Menschen zu tun. Wir haben die Kraft und die Fähigkeit dazu und können schließlich Freude daran haben. Möge der Ruck gelingen!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski