Noch habe ich das im Ohr: „Was bist du nur für ein ungezogener Bengel, hast du denn überhaupt keine Manieren!“ Oder auch: „Haben deine Eltern dir denn überhaupt keine Manieren beigebracht!“ Manieren? Welch seltsames Wort, aber als Kinder wussten wir genau, was damit gemeint war. Manieren bezeichnete das allgemeine Verständnis zu wissen, was sich gehört oder nicht gehört und entsprechend auch zu handeln. Der Begriff stammt aus dem Französischen. Er umfasst den gesamten Bereich einer Ordnung, die als allgemeinverbindlich angesehen wird, und zwar obwohl dies nirgends schriftlich verzeichnet ist.
Manieren wurden früher dem Kind beigebracht, d. h. es lernte die Regeln, die als selbstverständlich dafür angesehen wurden, dass sich der Mensch durch sein Leben navigieren sollte, ohne ständig mit dem Verhalten und den Ansprüchen anderer Menschen in Konflikt zu geraten. Ein Kind wusste, ob und wann es sich nicht manierlich verhält und versuchte dies möglichst zu vermeiden, es sei denn, dass es sich gerade bewusst und absichtlich unmanierlich verhielt, um Reaktionen der Erwachsenen zu provozieren.
Heute sind diese fast altertümlich anmutenden Begriffe kaum mehr gebräuchlich, aber der Sinn, der dahintersteht, ist weiterhin aktuell. Jeder Mensch muss wissen, was er darf und was er vermeiden muss, um ein einvernehmliches Zusammenleben mit anderen Menschen zu gewährleisten. Besteht dieses allgemeine Verständnis nicht und wird dies bei der Entwicklung von Kindern vernachlässigt, besteht die Gefahr, dass bei fehlender Kenntnis der Regeln der junge Mensch mit Verhaltensweisen anderer Menschen konfrontiert wird, die er nicht einordnen kann und sich dann entweder irritiert zurückzieht oder mit Aggressivität reagiert.
Diese Radikalisierung von Verhaltensweisen nehme ich wahr. Unhöflichkeit und Wut sind aber taktisch völlig ungeeignete Verhaltensweisen, um die Förderung des eigenen Anliegens und inhaltsbezogene Gespräche zu erreichen. Sie offenbaren vielmehr die Unfähigkeit, Ziele zwar beharrlich, aber auch unter Wahrnehmung eigener Grenzen zu verfolgen und einvernehmlich zum Erfolg zu gelangen.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski