Archiv für den Monat: Januar 2024

Schmerz

„Schmerz, wo ist dein Stachel?“ In Abwandlung von Korinther 15, Vers 55 meine ich die lebzeitige Wahrnehmung des Schmerzes und nicht des Todes in Gefühlen und Gedanken.

Schmerzauslösend ist oft der Körper, der vereinzelt oder umfassend über die Nervenbahnen Impulse auslöst. Mit eingeschlossen sein sollten die seelischen Schmerzen, obwohl ein Organ, welches als Seele bezeichnet werden könnte, im menschlichen Körper nicht verifizierbar ist. Meist körperliche, aber auch sich geistig und seelisch manifestierende Schmerzen beziehen sich auf Umstände, die bei einem Menschen Empfindungen auslösen, die keiner körperlichen Wahrnehmung mehr zuzuordnen sind, aber gleichwohl vielfältige Reaktionen bei ihm hervorrufen können.

Weltschmerz ist dabei ein weiteres Stichwort. Dieser umfasst alle Bereiche der persönlichen und kollektiven Verfasstheit, ungeklärter Erwartungen und Versagens. Weltschmerz ist ein Sammeltopf für viele nicht eindeutig zuordenbaren schmerzliche Zumutungen in der Beziehung zu anderen Menschen, bei ungeklärten Umständen im persönlichen Bereich und in der Gesellschaft insgesamt.

Welches Zeichen vermittelt uns aber dieser Schmerz und welchen Sinn birgt er? Schmerz hat eine Warnfunktion, die jeden einzelnen Menschen davor schützen soll, sich in der Ich-Verwirklichung so zu verausgaben, dass sein Körper einschließlich seiner Seele und seiner Gedanken Schäden davontragen. Nicht nur als Korrektiv für unsere Maßlosigkeit, sondern auch als Erinnerung an unsere eigene Verletzlichkeit sollte der Schmerz uns aber bei der Bewältigung von Aufgaben helfen und uns ermahnen, anderen nicht zuzufügen, was wir selbst nicht erleiden wollen.

Der präventive Gedanke des Schmerzes wird herausgefordert durch den dem Menschen innewohnenden Willen, die existenziellen Begrenzungen zu überwinden. Soweit dies aber zur Verrohung und Abstumpfung führen sollte, mahnt der Schmerz uns, Belastungsgrenzen nicht zu überschreiten und uns unserer Endlichkeit bewusst zu sein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Recht und Gerechtigkeit

Gewaltenteilung, Gesetz, Judiz und Rechtsbefolgungswille, dies alles sind Begrifflichkeiten, die ein geregeltes Zusammenleben von Menschen, Bürgern und Nationen unter Einsatz der von ihnen geschaffenen Einrichtungen ermöglichen sollen.

Erodiert diese Akzeptanz der Regeln und des allgemeinen Rechtsempfindens unter anderem deshalb, weil Regeln und Gesetze nicht mehr dem Rechtsempfinden des Einzelnen und seiner Gruppe entsprechen, zum Beispiel, weil sie wirklichkeitsfremd konstruiert erscheinen, hat das zunächst Unruhe wegen unbefriedigter Erwartungen, dann aber auch Missachtung, Auflehnung und schließlich Verweigerung zur Folge.

Da ein Regelwerk nicht zwangsläufig ein anderes zu ersetzen vermag, bildet sich so ein Legitimitätsdefizit des Verfahrens an sich heraus, dass alle damit in Berührung tre­tenden Institutionen, seien es der Gesetzgeber, die Regierung und schließlich auch die Justiz mit umfasst. In deutlicher Konsequenz dieses Auflösungsprozesses bricht nicht nur die Gewaltenteilung in sich zusammen, sondern jegliche Ordnung.

Des „Volkes Stimme“ ist allerdings ein viel­fältiger Chor, der auch dann nicht strukturiert und belastbar Neues aus den Versatzstücken des vorhandenen, aber gewesenen Seienden schaffen kann, son­dern in einem langen Prozess der Ermöglichung herausfinden muss, was konsensfähig sein könnte. Sollte dieser demokratische Prozess anstelle einer auch möglichen Autokratie gewählt werden, so müssen zunächst die Regeln für diesen Findungsprozess wieder unter Berücksich­tigung eines eher diffus gebildeten Rechtsempfindens fest­gelegt werden, um zu vermeiden, dass irgendjemand das Heft des Handelns an sich reißt und demokratiegefährdende selbstbezügliche Anordnungen erlässt. Denn selbst dann, wenn Widerstand gegen eine Bevormundung generell bestehen sollte, verführen Erschöpfung und Ratlosigkeit Menschen dazu, eine Führerschaft dem Chaos und einer befürchteten Anarchie vorzuziehen, dies eingedenk der menschlichen Ei­genschaften, Belastungen nur zu einem bestimmten Maße zu ertragen und lieber Bequemlich­keit und Vorteilsgewinnung zum Maßstab des eigenen Verhal­tens zu machen.

Justitia ist nicht blind, wie Statuen und Abbildungen behaupten, sondern achtet sehr darauf, welche Maßstäbe wir ihr für die Begutachtung von Rechtsfällen an die Hand geben.

Nicht die Umstände begrün­den das Recht und die Gerechtigkeit, sondern es sind wir selbst, deren Maß­stab eher unser Eigennutzen ist. Recht und Gerechtigkeit verlangen dagegen von uns, dass wir nicht nur unsere eigenen Interessen im Auge haben, sondern begreifen, dass Gewaltenteilung und das Bemühen um Gerechtigkeit, auf der Abwägung unserer Interessen mit denjenigen anderer Menschen be­ruhen. Wenn wir uns darauf einlassen sollten, besteht unser Vorteil darin, dass auch wir zu­wei­len Profiteure dieser Verlässlichkeit sein könnten und uns Gerechtigkeit widerfahre.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Identität

Von „Cogito, ergo sum“ bis „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ reicht die menschlichen Experimentierfreude, die eigene Existenz zu ergründen, herauszufinden, wer man denn eigentlich sei.

Und, gelingt es uns? Naheliegenderweise prüft sich der Mensch zunächst im Spiegel. Wer schaut da zurück und zudem seitenverkehrt? Kenne ich diese Person, ist sie mir vertraut? Als Spiegelbild möglicherweise, aber nicht so, wie die Erscheinung im Spiegel vorgibt. Bin ich das? Wenn ich versuche, mich zu begreifen, womit fange ich denn an? Welche Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung? Sind es die Funktionen meines Körpers, die Gedanken und die Gefühle? Einer möglichen Momentaufnahme meiner Selbstwahrnehmung begegnet der Einwand, dass sämtliche Lebensstationen mich geformt hätten, und zwar nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und auch die Erwartungen an mich in der Zukunft.

Die Zeit ist nicht abzustreifen wie eine Schlangenhaut. Nur, wenn alles Ich-Sein in seiner gesamten Totalität in mir versammelt ist, könnte dies meine Identität absichern, wobei auch diejenigen Umstände nicht zu vernachlässigen sind, die außerhalb meiner Person liegen, die mich ebenfalls formen und mich in meinem Ich-Sein bestätigen. Wie verlässlich kann aber eine solche Bestätigung sein, wenn der Blick anderer auf mich möglicherweise verfälscht oder gar zu flüchtig ist? Anderen die Bestimmung meiner Identität zu überlassen, erscheint mir daher unvollkommen.

Wie aber schaffe ich es, meine Eigenbetrachtung als authentisch zu begreifen? Soweit ich mich nur um Konkretheit bemühen wollte, dürfte dies aussichtslos sein, denn nicht nur meine Gedanken, sondern auch meine Empfindungen sind fast stets opportunistisch.

Schon aus Gründen meines Selbstschutzes bestätigen sie die Muster meines eigenen Wunschkataloges. Je intensiver ich versuche, mich selbst zu interpretieren und so meine Identität zu klären, desto weiter scheine ich mich dadurch von mir selbst zu entfernen, darauf hoffend, dass meine Existenz grundsätzlich nicht auf einem Trugschluss beruht. Ich also nicht sei, wer ich bin oder vorgebe zu sein.  

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Unbegrenzt

Die Annahme der Eingrenzung beruht auf der Erfahrung des Menschen, dass alles einen Anfang habe. Das Ende wird dabei von ihm mitgedacht. Geburt und Tod verbürgen die Richtigkeit dieser Annahmen. Sie verschaffen uns auch die existentielle Sicherheit des Daseins inmitten der Begrenztheit.

Was würde es aber für uns bedeuten, wenn dieses „Stirb und Werde“ in der Kosmologie des Seins tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle spielte und das Ganze weder einen Anfang noch ein Ende hatte? Warum muss denn etwas anfangen und warum muss etwas zu Ende gehen? Könnte nicht auch alles in allem endlos sein, sich in der Grenzenlosigkeit ergänzen, spiegeln, immer wieder entstehen und untergehen, wobei jegliche Bestimmtheit aufgehoben ist?

Das Ewige, das wir zwar nicht greifen, aber ahnen können, kennt doch weder Anfang noch Ende, ermöglicht alles oder nichts. Der Ewigkeit ist mit keinerlei Berechnung beizukommen, weil eine Totalität, die sich jeglicher Bestimmung entzieht, sich auch nicht begrifflich rechtfertigen lässt.

So mag auch ein pulsierender Weltraum vielleicht keine Vergangenheit und auch keine beschreibbare Zukunft haben, entspricht aber unseren konkreten Erfahrungen und Anschauungen in der jeweiligen Zeit. Diese formen grenzenlos unser Bewusstsein und schaffen die Konkretisierung eines in seinem Wesen unerklärbaren Phänomens allen Seins und Sinnes.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski