Archiv des Autors: Sabine Büttner

Rücksichtnahme

Bin ich in den einschlägigen Medien unterwegs, verwundert mich die augenblickliche Diskussion im Zusammenhang mit dem Corona-Virus. Es ist einerseits von der grassierenden Ansteckung die Rede, andererseits gibt es Querdenker, die in Massendemonstrationen durch die Straßen ziehen und offensichtlich billigend in Kauf nehmen, dass sie mit Corona infiziert werden.

Ihre Aufmärsche rechtfertigen sie mit ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und allgemeine Handlungsfreiheit, die nach ihrer Überzeugung den Verzicht auf Mundschutz mit einschließt. Was bei allem öffentlichen Lärm allerdings übersehen wird, ist, dass die politischen Entscheidungen einen eher untergeordneten Einfluss auf die Eindämmung der Pandemie haben.

Es geht nicht um Grundrechte und deren Verletzung, es geht nicht um Freiheit und die Zuweisung von Fehlern. Es geht vielmehr, und dies an erster Stelle, um menschliches Zusammenleben, um unser Grundverständnis des menschlichen Wesens, seiner Bedürfnisse und seiner Verpflichtung gegenüber Staat und Gesellschaft.

Hätten früher schon religiöse Hinweise ausgereicht, um Menschen an ihre Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen zu erinnern, sind heute nach der Erosion der Religionen deutlichere Ermahnungen nötig. Es geht nicht um die im Grundgesetz verbriefte Handlungsfreiheit eines Menschen, sondern es geht um die Rücksichtnahme, die jeder Mensch einem anderen Menschen schuldet.

Es kann im Belieben jedes einzelnen Menschen stehen, sich mit Corona anzustecken und für die Folgen persönlich einzustehen, aber dies berechtigt ihn nicht, andere Menschen anzustecken, sondern im Gegenteil. Es ist ein auch für ihn geltendes Gebot der Menschlichkeit, dies zu verhindern. Derjenige, der ein solches Gebot weder aus seiner christlichen Überzeugung, noch aus seinem Menschenbild abzuleiten vermag, sollte Artikel 1 des Grundgesetzes prüfen, der den Schutz der Würde jedes einzelnen Menschen nicht nur gegenüber dem Staat sichern will, sondern auch als eine Selbstverpflichtung eines Menschen gegenüber einem Anderen ansieht.

Es ist mit der Würde eines Menschen nicht zu vereinbaren, einem anderen Menschen diese zu nehmen, indem er ihn der Gefahr aussetzt, sich bei ihm anzustecken. Daraus folgt, dass jeder Aufmarsch der Querdenker im höchsten Maße würdelos ist. Empathie bedeutet nicht, kranke Menschen zu bemitleiden, sondern alles zu tun, um deren Erkrankung zu verhindern. Was für den Krankheitsbereich gilt, umfasst auch alle anderen Lebensbereiche. Kein Mensch kann die Freiheit beanspruchen, sich zu Lasten anderer Menschen zu verwirklichen, sei dies körperlich, emotional oder geistig.

Unseren Handlungsoptionen sind durch unser Menschsein, unser soziales Zusammenleben und den Grundkonsens einer funktionierenden staatlichen Ordnung Grenzen gesetzt. Das Akzeptieren von Fakten, Respekt gegenüber anderen Menschen, demokratisch legitimierten Institutionen und Rücksichtnahme untereinander auch dann, wenn wir anderer Meinung sind, verbürgen zuverlässig unser eigenes Sein in der Gemeinschaft mit anderen Menschen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Hass

Viele Menschen haben ihn inzwischen schon zu spüren bekommen und noch mehr Menschen haben über die Medien ausufernden Hass wahrgenommen. Hass tritt aber nicht nur verbal und schriftlich in Erscheinung, sondern auch tätlich durch Attacken in unterschiedlichster Form, permanenter Belästigung, Stalking, Körperverletzung, bis hin zum Mord.

Als Vorwand für Hass dienen den Tätern Religion, Geschlecht, Volkszughörigkeit, Nachbarschaft, Unterschiede in der Pigmentierung der Haut, soziale Benachteiligung, politische Einstellung und zusammenfassend ausgedrückt: das Anderssein. Dabei unterscheidet sich jeder Mensch von dem anderen, sei es durch Herkunft, Bildung, Aussehen, Gene und viele weitere Faktoren mehr. Das bedeutet aber wiederum, dass jeder Umstand, den der Hassende definiert, ihn nach seiner Auffassung auch zum Hass ermächtigt.

Der Hassende rechtfertigt also seinen Hass mit Maximen, die er selbst schafft, indem er dessen Voraussetzungen sich selbst erklärt oder praktischerweise den Hass anderer kopiert und diesen zu seinem eigenen macht. Vorlagen dazu gibt es in allen Lebensbereichen. Es sind nicht nur auf Internetplattformen Agitatoren am Werk, die ohne Unterlass Hassvorlagen für Nutzer ausarbeiten und liefern. Das ist ein gutes Geschäft, insbesondere dann, wenn es sich im Darknet vollzieht.

Es ist aber auch politisch opportun, denn mit Hass lassen sich Dank der Zuverlässigkeit von Hassenden vorteilhafte Prozesse für die Provider generieren. Hinzukommt, dass die Hassprovider selbst sich kaum mit den Folgen ihrer Taten beschäftigen müssen, sondern es allein Sache der Hassenden und ihrer Opfer ist, sich mit diesem und seinen Folgen zu befassen.

Von Vorteil ist die Anonymität der Anstifter im Netz, aber selbst dann, wenn sie aufgedeckt wird, bleiben die Verantwortlichen verschont. Dies gilt im Übrigen meist für alle Anstifter. Es ist ihnen schwerer als den Tätern ihren Beitrag zum Hass und seine Folgen nachzuweisen und sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen. So klappt diese Hassmaschinerie wunderbar, insbesondere auch deshalb, weil die Hassenden keine Abgrenzung zwischen ihrer Person und ihrer Instrumentalisierung zum Hass durch die Anstifter ziehen können. Sie glauben vielmehr, dass der Hass mit ihnen zu tun habe, ihr alleiniges Werk sei. Das ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Rutger Bregman schreibt in seinem Bestseller „Im Grunde gut“ eindringlich, aber auch für mich zunächst verwunderlich, dass der Mensch eigentlich keine Bestie und folglich auch Hass keine immanent menschliche Eigenschaft sei.

Ich schließe daraus, dass Hass dort stattfindet, wo Menschen vermittelt wird, dass ihr Hass gut und nützlich nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Gesellschaft, die Religion, ein Volk, die Tiere oder jedwede andere Gemeinschaft sei. Der Hassende glaubt also, er tue etwas Gutes, wenn er hasst. Aber gleichwohl spürt er, dass etwas nicht stimmt und versucht, sich selbst diesen Stachel zu ziehen, indem er noch hartnäckiger auf die Rechtfertigung seiner Verhaltensweise pocht und das Opfer beschuldigt. Der Mensch ist fähig, dies zu erkennen und sich davon zu verabschieden, wenn er sich seiner Einzigartigkeit und seiner Verantwortung bewusst wird, indem er seine Manipulation erkennt.

Es wäre daher notwendig, die Ursachen des Hasses aufzudecken, anstatt nur die Phänomene zu erklären. Es wäre wichtig, Hass gesellschaftlich zu reflektieren und als einen Bildungsinhalt bereits Kindern und Schülern als Herausforderung nahezubringen, die es zu überwinden gilt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wozu?

Die öffentlichen Medien und vor allem das Internet sorgen für eine Unübersichtlichkeit von Wissen und Meinungen, die kaum ein Mensch mehr zu entwirren in der Lage sein dürfte. Um Übersicht zu gewinnen und zu erhalten, benötigt der Mensch Fakten, eine Möglichkeit, diese einzuordnen und sich so ein persönliches System der Verlässlichkeit zu schaffen.

Um zu einer sicheren Einschätzung zu gelangen, ist Selbstvertrauen nötig, welches ausschließlich strukturiert zu nutzen ist. Wie soll dies aber angesichts von TikTok, Instagram, WhatsApp und anderen digitalen Flipperspielen vom Menschen erwartet werden können?

Diese Formate befeuern in Minuten-, oft sogar nur in Sekundentakten Menschen, die sogenannten „User“, mit irgendwelchen verbalen oder bildlichen Informationen, die zwar Emotionen zu beeinflussen in der Lage sind, aber ihrer Frequenz und Beliebigkeit geschuldet, keinen Erkenntnisprozesse in Gang setzen, die dem Menschen erlauben, Ereignisse systemisch bei sich selbst rückzuversichern. Wenn dies kritisch zu betrachten ist, wie ich dies hier mache, warum geschieht es dann doch und wozu soll es führen? Stellt es möglicherweise eine gewünschte Entlastung des Menschen vor eigenen Erkenntnissen dar?

Wird stattdessen ein beruhigendes Format für Einschätzungen jenseits der individuellen und menschlichen Verarbeitung geschaffen, die eine gesellschaftliche Allgemeinverbindlichkeit hervorbringt, das soziale Miteinander stärkt und es jedem Nutzer der digitalen Angebote erlaubt, seine eigene Meinung durch diese Rückvergewisserung mit anderen Menschen emotional aufzuladen und sich dabei wohl zu fühlen? Was bedeutet es, wenn wir Menschen konsequent dank der medialen Befeuerung vom eigenen Denken und Empfinden entlastet werden?

Sicher wird dies zunächst als Fortschritt wahrgenommen, da jede Errungenschaft die Singularität des menschlichen Seins bestätigt. Was geschieht aber dann, wenn die menschlichen Fähigkeiten des Abwägens, des Einschätzens und des Widerspruchs dabei verkümmern und wir uns den Formaten ergeben haben?

Das Menschheitsrätsel haben Philosophen, Vertreter von Religion und Wissenschaftler sich stets gestellt und zu lüften versucht. Das Rätsel wird unlösbar sein, was wiederum die Chance bietet, darauf zu vertrauen, dass weitere Kräfte darauf wirken, die Kapitulation vor der medialen Kakophonie zu verhindern. Es wird wieder die Frage nach der Zufriedenheit des Menschen mit seiner Existenz, seinem Staunen und seinen Fähigkeiten und natürlich auch seiner Genügsamkeit gestellt werden. Denn wozu soll der Mensch denn zu etwas Anderem werden, als das, was er ist?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Legitimität

Legal und legitim sind unterschiedliche Schuhe, die nicht jedem Träger gleichzeitig passen. Beide entsprechen allerdings Optionen, die es dem Träger dieser Schuhe gestatten soll, seinen Weg konsequent zu gehen. Ist dieser Weg selbst legal und legitim, kommt der Träger kaum ins Stolpern. Ist der Weg legitim, aber nicht legal, dann bedarf es heftiger Anstrengungen, um sämtliche Hürden und Hindernisse auf diesem Weg zu überwinden.

Ist der Weg schließlich nur legal, aber nicht legitim, dann ist es eine Frage der Zeit, bis der Träger dieses Vorhabens erkennt, dass sein Weg dornig endet. Wir wissen, dass die Legitimität eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen jedes Vorhabens ist und diese Legitimität sich aus der Akzeptanz aller Stakeholder des Vorhabens ableitet. An fehlender Legitimität scheitert jede Herrschaft, und zwar auch dann, wenn Gesetze diese befürwortet.

Selbstermächtigung schafft keine Legitimität, weil sie substanzlos nur auf dem Machterhalt ihres Protagonisten beruht. Lukaschenko, Putin, Erdogan und noch etliche andere Potentaten verfügen über keinerlei Legitimität, und zwar selbst dann nicht, wenn es ihnen gelingt, auf Zeit, Dank der Angst oder des Phlegmas eines wesentlichen Teils der Bevölkerung, legal zu herrschen.

Sie sind illegitim an ihrem Platz, behaupten diesen aber selbst dann, wenn sie erkennen müssten, dass ihre Ermächtigung ausschließlich von missbrauchten Gesetzen und ihrem Machtapparat abhängt. Warum sie das tun, bleibt ein Rätsel.

Franco, Salazar und Hitler, aber auch Napoleon und der Zar. Überall ist statt Legitimität legale Anmaßung zu konstatieren. Aber außer dem Trotz und der Angst, als Verlierer dazustehen, nicht gemocht oder gar bestraft zu werden, bleibt nichts, dass es wert wäre, erinnert zu werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gewalt

Neunjähriges Mädchen von Mitschüler angegriffen, Prellungen, Gehirnerschütterung und Zerrungen im Rippenbereich. Achtjähriger hinterrücks niedergeschlagen von gleichaltrigem Mitschüler, eine Gehirnerschütterung hat dies zur Folge, neunjähriges Mädchen von Mitschülerin mit einer Schere bedroht unter Ankündigung, sie niederzustechen. Dies ist eine kleine Auswahl alltäglicher Verletzungshandlungen, wie sie sich in Grundschulen abspielen.

Die Gewalt setzt im Bereich der Kinder früh an und steigert sich im Zuge der jugendlichen Entwicklungsstufen. Schubsen, Prügeln und dabei auch verübte Gemeinheiten sind an sich nichts Unbekanntes bei Kindern. Dennoch hat sich der Maßstab verändert. Die Veränderung drückt sich dadurch aus, dass es sich nicht mehr nur um ein Kräftemessen handelt, sondern um grundlose Aggressionen, die meist heimtückisch auf ein zufälliges Opfer zielen.

Kein Kind bleibt heute an Schulen von den Möglichkeiten der Verletzungshandlungen verschont. Es gibt Lehrer, die führen darüber Aufzeichnungen, andere bestellen Eltern ein, um sich über das Verhalten der Kinder zu besprechen und schließlich gibt es vereinzelt Versetzungsmaßnahmen. Die Gründe für die Aggressionen werden damit nicht aufgedeckt und zuweilen werden sogar Eltern zu Mittätern.

So wurde im oben genannten Beispiel des neunjährigen mit einer Schere bedrohten Mädchens, dieses von der Mutter der Angreiferin ihrerseits mit den Worten bedroht, dass sie sie töten werde, wenn sie ihre Tochter nochmals bei der Lehrerin verpetze. Manche Eltern streiten die Aggressivität ihrer Kind ab und bekräftigen Beschuldigungen der Täter, dass das andere Kind angefangen habe und sich das eigene Kind nur gewehrt hätte.

Viele Erzieher und Lehrer verhalten sich ratlos, wiegeln oft ab und hoffen auf eine allgemeine Beruhigung. Das ist aber ein Irrtum, dass dies geschehe, denn die nicht geklärten Aggressionen hinterlassen nicht nur psychische Spuren bei den Opfern, sondern fördern sogar systemische Verhaltensweisen, bei denen dann gewalttätige Vorgänge sich als normal und abwendbar in Schulen erweisen. Deshalb ist es unumgänglich und wichtig, nicht nachzulassen in der Aufklärung der Kinder, in den Klassen, auf den Schulhöfen. Deshalb ist es wichtig, Regeln durchzusetzen und dadurch den Kinder eine Orientierung zu geben.

Deshalb ist es schließlich wichtig, Verantwortung für das eigene Verhalten und Empathie für andere frühzeitig zu lehren und zu vermitteln, um einer selbst sich erzeugenden Gewaltspirale bereits bei den Kindern den Schwung zu nehmen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wahlrecht

Wessen Zukunft wird gerade verhandelt? Es ist – wie immer – die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Welches Gestaltungsrecht räumen wir dieser kommenden Generation ein? Keine bemerkenswerte, sieht man einmal von einer gewissen medialen Aufmerksamkeit bei Fridays for future und anderen Plattformen ab. Es sind aber die Kinder und Jugendlichen, die für uns den Kopf hinhalten, wenn es um Demokratie, Klima und auch künftigen Wohlstand geht.

Mit „altem“ Geld und „alten“ Rezepten sind die an unsere Kinder gestellten Herausforderungen nicht zu meistern. Wir haben Kinder in die Welt gesetzt und gegen unsere Enkelkinder nicht protestiert. Das war unverantwortlich, wenn wir glauben sollten, sie hätten kein Mitentscheidungsrecht daran, wie sie künftig leben. Wir wissen alle um die enormen Herausforderungen, die auf die nächsten Generationen zukommen, ob dies unsere Alterssicherung anbetrifft, den Klimaschutz, den Umbau der Wirtschaft, die Mobilität, den Bevölkerungszuwachs und die Migration, um nur einige Felder zu nennen.

Dank Internet sind die Jugendlichen heute schon früh über das Weltgeschehen informiert, zu sagen haben sie allerdings in der Realität nichts, was dazu führt, dass sie ihre Auseinandersetzungen mit unserer Welt im Internet austragen. Dabei bekommen viele Jugendliche ein falsches Bild von unserem demokratisch, gesellschaftlichen Partizipationsmodell.

Ich halte Jugendliche daher ab dem Alter von 15 bis 16 Jahren für geeignet und interessiert genug, an Wahlen teilzunehmen und damit eine verantwortliche Stimme zu erheben. Aber auch ein Kinderwahlrecht schließe ich nicht aus, meine allerdings, dass dieses im Interesse ihrer Kinder von Eltern wahrgenommen werden sollte. Es ist mir durchaus bewusst, dass dabei auch einiges mangels Qualifikation der Eltern schiefgehen kann. Allerdings erfährt gerade ein solches Wahlrecht eine verlässliche Bestätigung dadurch, dass die meisten Eltern im Interesse und zum Wohle ihrer Kinder wählen und deren Anliegen sorgfältig dadurch bestätigen würden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Hölderlin

250 Jahre Hölderlin, wir feiern mit Enthusiasmus seinen Geburtstag! Es gibt Lesungen und Interpretationsforen. Einfühlende Lebensbegleiter weisen uns den Weg unseres Idols von Susette Gontard bis zur geistigen Umnachtung im Turm von Tübingen. Nichts entgeht den Interpreten.

Oder doch? Kann es sein, dass manche übersehen, dass Hölderlin auch und wahrscheinlich sogar vor allem ein schwäbischer Mensch war? In Laufen am Neckar geboren, kannte er bereits mit vier Jahren die herzzerreißende Geschichte von der Herzogstochter Regiswindis, die in ihrer Kapelle nahe der Kirche eingesargt liegt. Als Kinder haben ich mit anderen dort oft gespielt und wir haben uns die schaurig schönsten Märchen ausgedacht.

Von der Kirche auf dem Gang runter ins Tal zum Neckar befanden sich Weinkeller, die nach unserer Auffassung nur in die Unterwelt führen konnten. Als Kinder saßen wir oft waghalsig auf der Kirchenmauer und schauten über den Neckar zur Burg, die weiteren Erzählungen nach von einem Meteoriten getroffen worden sein soll. Es ist also eine mystische Gegend und nicht nur  Laufen, sondern viele weitere Orte, ob Schwäbisch Hall, Stuttgart, Nürtingen, Heilbronn oder Weinsberg. Dieser Menschenschlag von Hohenloheren, Unterländern und Schwaben, formte einen Menschen wie Hölderlin. Der Herkunft kann man sich nicht entziehen. Strenge erzeugt Formstrenge.

Als Kind kann ich mich an Plakate zur Faschingszeit erinnern. Auf diesen stand: Gott schaut hinter deine Maske. Pietismus, Zweifel und Rechthaberei sind knorrige und trotzige Attribute der Sprache, die Hölderlin verwendete. Er sprach kein aseptisches Hochdeutsch, sondern schwäbisch. Wer jemals versucht hat, die Parzen oder auch andere Gedichte von ihm auf Schwäbisch zu lesen, begreift sofort, worum es ihm eigentlich ging: das trotzige Bekennen trotz aller Zweifel, die er nicht abschütteln konnte. Das beengte und gleichzeitig mystische Seelenweite lässt das erstehen, was das Auge nicht ohne weiteres zu erkennen vermag. Wer auf der Weibertreu der Windharfe zuhört oder den Welzheimer Wald durchwandert, der weiß Bescheid.

Es ist kein Zufall, dass der Arzt Justinus Kerner nicht nur Hölderlin, sondern auch die Seherin von Prevorst behandelte und dabei selbst Dichter war. Wenn die spirituellen Grenzen durchlässiger werden, dann verfließen Wirklichkeiten, bis sie sich dem Offensichtlichen abschließend verweigern. So ist Hölderlin eben auch einer von uns. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schlagen und singen

Der eine ist Boxfan, der andere Opernfan. Der Boxfan hat, soweit er dies organisieren und sich auch leisten konnte, keinen wesentlichen Boxkampf der letzten fünf Jahrzehnte ausgelassen. Von dem Opernfan ist zu berichten, dass er im etwa im gleichen Zeitraum sämtliche gängigen Opern und diese sogar weltweit angesehen hat. Beide haben Archive ihrer Leidenschaften an­gelegt.

In Gesprächen habe ich versucht herauszufinden, wie sie ihre Zuwendungen erlebt haben, welche Perspektiven sich daraus ergeben und was sie verbindet. Auf eine mir nachvollziehbare Art und Weise sind Singen und Schlagen einander verwandt. Auch wenn der eine kein Boxer und der andere kein Sänger ist, so haben sie sich doch Stellvertreter geschaffen, die rational und emotional das verkörpern, was sie selbst schon immer gewesen sind, aber aufgrund der Umstände objektiver und subjektiver Art nie sein konnten.

Dagegen mögen der soziale Hintergrund, die berufliche Stärke, die sie beweisen mussten und ihre eigenen Konstitutionen bzw. Fähigkeiten zu boxen oder zu singen, keine entscheidende Rolle gespielt haben. Aber gerade deshalb sind sie in dieser bei einem Besuch einer Veranstaltung und ihrer Vor- und Nachbereitung vorgenommenen Transformation in die Stellvertreter authentisch, möglicherweise viel wahrer als in der alltäglichen Verkleidung.

Was sie sich durch die Identifikation schaffen, entlastet sie von vielen alltäglichen Sorgen und Nöten. Es gibt ihnen die Sicherheit, sie selbst und ein anderer Mensch zu sein, der an einem Abend zu zeigen vermag, was alles noch in ihm steckt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schleier

Zuweilen habe ich das Gefühl, dass über meiner Wahrnehmung ein Schleier liege, den ich nicht anheben, geschweige denn wegziehen kann. Ich vermute, dass der Schleier eine Erkenntnis verhüllt, die weder logisch, noch emotional argumentativ oder wissenschaftlich zu erschließen ist. Das verborgene Etwas muss aber etwas von uns sein, unsere Natur, die Einbildungen schafft, uns inspiriert und somit etwas Mächtiges darstellt, das wir dem Göttlichen zuweisen, aber damit nicht hinreichend beschreiben.

Mit dem umfassenden Alles oder Nichts benennen wir Aspekte der Wirkung, wozu uns das Ungeheure in die Demut vor seiner Unerreichbarkeit zwingt. In Ahnung dessen, was der Schleier verhüllt, aber nicht bereit ist, freizugeben, wie können wir glauben, dass irgendeine unserer Wahrnehmungen und Beurteilungen mehr ist, als das Bemühen, uns vor der Last der großen Verantwortung für alles zu drücken.

Durch erprobte Konventionen, Rituale und sonstiges Regelwerk versuchen wir, uns selbst und auch die anderen von der Gegenwärtigkeit unserer Unwissenheit abzulenken, weil es uns derzeit noch nicht gelingt, den Schleier zu lüften.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Fremd

Wie fremd ist uns das Fremde? Warum ist es so? Wie fremd sind wir anderen, auch uns selbst? Empfinden wir Fremdes als Belastung, als nicht zugehörig? Ist Fremdeln eine Haltung oder beruht sie auf der fehlenden Möglichkeit der Einschätzung? Ungewohntes ist uns fremd und wir benötigen eine Anleitung, um uns im Fremden zurechtzufinden, ob in einem fremden Land oder auch mit fremden Menschen.

Wenn wir uns mit dem Fremden zurecht gefunden haben, gelingt es uns, ein Arrangement zu treffen. Zuweilen kommt das Fremde uns auch entgegen, um unsere Scheu zu überwinden. In fremden Ländern stellen wir fest, dass vieles anders ist, aber auch die Gewohnheit uns den Umgang mit dem anderen erleichtert. Wenn wir uns sicher fühlen, empfinden wir das Fremde auch als wohltuende Herausforderung. Das Wissen kann dabei helfen, uns zum Beispiel die Fremdheit unter den Menschen zu erklären und dadurch eine Verbindung zu schaffen, die durch das Bemühen allein nicht zu erreichen ist.

Menschen können uns durch ihre Hautfarbe fremd sein. Um diese Fremdheit zu überwinden, reicht es nicht, dass wir erfahren, dass diese Menschen und wir genetisch völlig übereinstimmen. Wenn wir aber wissen, dass wir Europäer aufgrund der Lichtverhältnisse weiß geworden sind, können wir den Unterschied in der Hautfarbe besser einordnen und ihr die Relevanz bei der Beurteilung des Fremden nehmen.

Wissen schafft Verständigung und erlaubt es, ohne Schuldzuweisung für Fehlbeurteilungen in der Vergangenheit sich auf die Suche nach der Entdeckung des anderen zu begeben und daraus Vorteile für unsere Zukunft abzuleiten. Wir können nicht so tun, als seien wir alle gleich, aber die Bereitschaft, unser menschliches Verhalten zu reflektieren, eröffnet uns auch die Möglichkeit, nicht nur Momentaufnahmen zu menschlichem Versagen und Gier zu machen, sondern wir begreifen, dass die Ausbeutung anderer Menschen für eigene Zwecke aus Gründen der Nützlichkeit stigmatisierend wirkt und Fremdsein begründet.

Es liegt daher an uns, das Fremde dadurch zu schätzen, dass die Vorurteile, die uns in der Vergangenheit oft nützlich waren, überwunden und das Fremde neu bewertet werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski