Archiv des Autors: Sabine Büttner

The Day after

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die Politiker sortieren ihr Warenlager, verramschen Restbestände und sind dabei, Strategien für neue Produkte zu entwickeln und die Umstände von Angebot und Nachfrage dem neu analysierten Markt anzupassen. Alles ist dennoch wie immer. Neue Kartelle werden gebildet, Preise ausgekundschaftet und neue Vertriebsstrategien eröffnet.

Wir alle wissen, dass Wahlen notwendige Katastrophen sind, um politische Veränderungen zu schaffen und dass sie reinigende Effekte haben. Wahlen können politische Parteien in die Pleite führen, aber wir wissen, dass jede Insolvenz einen das Anliegen stärkenden Charakter aufweisen kann. So kann eigentlich jede Partei froh sein, wenn sie die Insolvenz ereilt. Jetzt weiß sie endlich, was sie besser machen kann und sollte.

Ohnehin interessiert man sich am Tag nach der Wahl nicht für das bis dahin propagierte politische Produkt, sondern nur für die politischen Täter, diese Wetterfrösche, Deichgrafen und Langohren, sie werden vor mediale Gerichte gezerrt und beschuldigt, nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, um den Bürger an seiner skurrilen Wahlentscheidung gehindert zu haben. Vor der Wahl lagen sie schon auf der Lauer, die Macher für die Zeit danach. Sie liquidieren das Unternehmen, kehren den Scherbenhaufen zusammen und verkünden, dass sie schon mit Schlimmerem fertiggeworden seien, als mit dieser Wahl.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Germania

Wir holen uns Deutschland zurück, so lautet eine Kampfansage einer kleinen Partei, die die große Welt nicht mehr versteht. Befreit werden sollen wir von der Knechtschaft Europas und der Tyrannei kultureller Einflüsse weltweit. Unser armes Deutschland, erniedrigt, beleidigt und besudelt von den Freiern fremder Völker und Staaten. Wie kann das sein?

Ist aus Germania als unserer stahlbeplankten Heroin ein schutzloses und hilfsbedürftiges „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ geworden? Wir reiben uns die Augen. Zumindest manche. Germania, die Streitrosse, Kriegsgeschrei und Glanz und Gloria gewohnt ist, gehört sie auf den Leiterwagen der AfD und sollte sich auf den Weg in die Schutzbunker deren Völklichkeit machen? Sind wir dem germanischen Mädchen nicht mehr gewachsen? Muss es in eine Besserungsanstalt, Klippschule oder Sommerlager, muss es mit nackten alten Männern an einen FKK-Strand oder in die Küche von Aschenbrödels Stiefmutter? Wartet vielleicht stattdessen auf Germania eine schöne Rolle als Rapunzel oder Lorelei?

Nein, was zu viel ist, ist zu viel! Wir lassen uns unsere Germania nicht nehmen, weil wir sie nicht besitzen. Germania hat sich emanzipiert. Sie ist heute eine moderne junge Frau, die viele Sprachen spricht und unterschiedliche Kulturen kennengelernt hat, sich sicher in dieser Welt bewegt und ihre eigene Meinung zur rüpelhaften, ungebildeten und anmaßenden Verwandtschaft hat. Sie ist klug genug, diese nicht allzu wichtig zu nehmen, sondern selbstbewusst und freibestimmt ihren Weg zu gehen. Wir sind heute gern in der Nähe dieser Frau und helfen ihr, sie gegen Zudringlichkeiten und die Anmaßung autoritärer Besserwisser zu verteidigen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zettelkasten

Erinnern Sie sich noch? Früher hatten manche von uns Zettelkästen. Auf jedem Zettel standen Stich- oder Merkworte. Diese Zettelkästen sind etwas aus der Mode gekommen. Es gibt aber virtuelle Zettelkästen. In meinem zum Beispiel könnte nichts geordnet sein. Es herrscht ein großes Durcheinander. Das ist von mir so gewollt. Dort sind zum Beispiel Zettel des Mutes und solche der Verzweiflung abgelegt. Zettel des Protestes und des Scheiterns liegen beieinander, Ruhe und Sturm, Seite an Seite.

Zuweilen schüttle ich mein Kästchen, so dass die Begriffe wild durcheinanderstieben. Dann legen sie sich wieder und bilden neue Paare. Unter dem Zettel Deutschland ist der Zettel Antarktis zu erkennen und unter dem Zettel Gummibärchen ein Zettel Diabetes. Das ist natürlich reiner Zufall, gibt mir aber Gelegenheit, Übereinstimmungen und Zusammenhänge auch dort wahrzunehmen, wo sie mir nicht von vornherein plausibel erscheinen müssen.

Mein umfangreicher Zettelkasten eröffnet mir virtuose Denkangebote, die ich annehmen kann, aber nicht unbedingt muss. Mein Zettelkasten enthält beileibe keine Wahrheiten, sondern bietet wie jeder reale Zettelkasten ausschließlich Stichworte für meine Versuche, etwas zu ergründen, was mir Einsichten erlaubt, vorbei an üblichen logischen Denkbahnen. So schüttle und schüttle ich meinen Zettelkasten, denn nur er eröffnet mir Möglichkeiten, die mir konsequentes und lineares Denken nicht erlauben können. Ich erfahre Dank meines Zettelkastens die ganze Komplexität meiner kleinen Welt, die unser aller Große ist.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Bilder

Selfie von und mit mir am Brandenburger Tor. Flüchtlingskind tot, angespült an griechischem Ufer. Persönliche Bilder, fremde Bilder, Schicksalsbilder, Geschichtsbilder, Realbilder und Fakebilder. Und dann das Kopfkino. Traumbilder, Bilder aus Bildern, eigene Projektionen und die anderer.

Du sollst Dir kein Bildnis machen von deinem Nächsten. Du sollst Gott nicht abbilden. So fordern manche Religionen. Und trotzdem eine Bilderflut, wozu? Können Blinde auch sehen? Was verhindert das Bild, was verschafft es? Die Fragen mögen dumm erscheinen, da Bilder allgegenwärtig sind. Aber, sie sind dennoch nichts ohne uns, weil erst durch unsere Wahrnehmung die Bilder ihren spezifischen Charakter entfalten. Es sind die Bilder unseres Lebens, die wir aufrufen können, um Entwicklungen zu messen und uns zu erinnern, wenn Gefühle und Gedanken nicht ausreichen.

Bilder sind spezifisch, fordern Korrespondenz. Sie sind zwar dem Gedanken verwandt, aber der Bildraum ist noch weiter, unbeherrschbar durch den Moment. Das Bild verändert sich durch unsere Wahrnehmung, verändert sich durch Zeit und Umstände. Die Bilder in uns sind die Blaupausen der Wirklichkeit, werden aber erst real durch uns. Das Bild ist das, was wir uns vorstellen, selbst dann, wenn für das Betrachten des Bildes Maßregeln oder Rezepturen vorgegeben werden. Dem Bild kann sich keiner entziehen, weder ein Gegenstand, noch eine Idee.

Das Bild ist allmächtig und herrscht über Zeit, Raum und Ewigkeit. Das Bild macht nicht Halt vor Blinden und schafft auch aus Ornamenten umfassende, wenn auch subjektive Identitäten. Wir Menschen erfahren Bilder und machen uns Bilder, von allem.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Nachrichten

Ist es denn schon so lange her, dass wir via Radio oder Fernsehen Nachrichten empfingen und uns auf das Gehörte den eigenen Reim machten? Nicht von ungefähr gibt es nun die „Heute-Show“. Alles ist Show. Wie sollten wir auch aus der „Tages-Show“ noch Nachrichten fischen? In einer Republik der Bekenntnisse zwingen Moderatoren Politiker bei Stimmverlusten zu bekennen, was sie als Partei oder höchstpersönlich falsch gemacht haben, denn nur so seien Stimmenverluste erklärbar.

Die Absurdität dieser Argumentation scheint weder dem Moderator noch dem Politiker aufzugehen. Es soll immer Schuldige geben. Dass der Wähler einfach wählt, was er gut findet und abwählt, was er schlecht findet, ist offenbar völlig nebensächlich. Warum diese Respektlosigkeit und welche Konsequenzen hat sie?

Das Warum lässt sich recht schnell beantworten: Wenn alles Show ist, bleibt der Nachricht nur noch der Platz des Stichwortgebers für permanentes Unterhaltungstheater. Dabei wird verlangt, dass alle sich präzise und genau äußern und Bekenntnisse ablegen. Kaum wird das Wetter davon verschont! Die Konsequenzen sind allerdings verheerend.

In einem ständigen Wirbel von Behauptungen, Meinungen, Emotionen und tatsächlichen Vorkommnissen entstehen Smoothies, die durch Kopf und Körper rauschen und dabei nichts Anderes verursachen, als Sodbrennen, Magenschmerzen, Kopfweh und schlechte Laune. Die als Fast- oder Convenience-Food aufbereiteten Nachrichten versehen mit allen Zutaten an Geschmackverstärkern, Zucker und Bitterstoffen machen krank. Wir leiden schon heute an einer medialen Krankheit, die natürlich durch die sozialen Netzwerke verstärkt wird.

Permanent wird uns eingehämmert, was wir zu denken, zu sagen, zu meinen und zu wählen haben. Nur abzuschalten, um den Kopf und das Herz wieder freizubekommen, wäre eine Möglichkeit. Aber, es ist schwer, sich heute angesichts des medialen Overflows noch mit den einfachen Dingen des Lebens zu vergnügen, zum Beispiel Taubenzucht oder Briefmarken zu sammeln. Das war aber Menschen einmal sehr wichtig. Sie hatten Gelegenheit, sich auf Ihre Tätigkeit zu konzentrieren und sich ihre eigenen Gedanken über die Welt zu machen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kompromiss

Was wäre, wenn… . Was wäre, wenn, wenn alle sich durchsetzen könnten. Durchsetzen mit ihrer Vernunft, ihren Emotionen und Taten. Was wäre, wenn alle Verkehrsteilnehmer auf ihre Vorrechte bestünden? Wenn jeder Mensch, jede Einrichtung, jedes Wirtschaftsunternehmen oder jeder Staat sich durchsetzen könnte mit seinem Vorhaben, gäbe es die Alternative der totalen Blockade und des Stillstands oder der Ausrottung des Anderen. Bei Pflanzen und Tieren haben Wissenschaftler dies bereits beobachten können.

Wenn die Gegenwehr fehlt, gewinnt, die gefräßige Raupe oder der durchsetzungsfähigere Strauch. In der Natur natürlich nur auf Zeit, denn sobald die Durchsetzung flächendeckend gelungen ist, fehlt der Grundstoff für die eigene Überlegenheit. Büsche und Sträucher verändern die Bodenbeschaffenheit, gefräßigen Raupen fehlt die spezifische Nahrung.

Um der Selbsterledigung zu entgehen, muss die Natur Kompromisse eingehen, eine systemische Entscheidung, die auch für alle Menschen und seine Einrichtungen, die Gesellschaft und den Staat gilt. Ohne Bereitschaft zum Kompromiss vergeben wir uns die Chance, selbst Angebote zu erhalten, die unserem Interesse entsprechen.

Kompromisslosigkeit ist allerdings attraktiv, signalisiert Stärke und Durchsetzungsvermögen und mobilisiert Anhänger, die zwar das Verhalten nicht durchschauen, aber glauben, eigene Vorteile daraus ableiten zu können. Sie verkennen aber die Skrupellosigkeit der Kompromissverweigerer. Der Durchsetzung des eigenen Willens opfern sie gerne andere Menschen – auch Mitläufer –, um dann in einem ihnen geeignet erscheinenden Moment genauso unerbittlich die Vorteile einer anderen Haltung wahrzunehmen. Was juckt mich mein Geschwätz von gestern.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Menschenallergie

Oft tränen mir die Augen, manchmal muss ich husten und niesen, gelegentlich brennt meine Haut. Auf Anraten meines Hausarztes habe ich daher vor kurzem bei mir einen Allergietest durchführen lassen. Das Ergebnis war negativ. Keine der üblichen Reizmittel schlug an. Ich gestehe, dass ich auch nichts Anderes erwartet habe, denn ich bin in einer Zeit groß geworden, wo die Immunisierung durch die Natur Standard war. Aber, was ist es dann, was mich plagt?

Allmählich wage ich eine Selbstdiagnose: Ich leide unter Menschenallergie. Nicht, dass ich falsch verstanden werde, ich habe überhaupt nichts gegen Menschen und verstehe mich mit den meisten recht gut. Aber, was macht dann die Menschenallergie aus, an der ich möglicherweise leide?

Ich kann hier nur Behauptungen aufstellen. Diese in der Erwartung einer Fremdeinschätzung, die meiner Selbstdiagnose recht gibt. Ich finde, dass sich am Verhalten der Menschen etwas verändert hat, das Krankheiten auslösen kann. Es weichen die Regeln des menschlichen Umgangs auf, statt Rücksichtnahme Rücksichtslosigkeit, statt Gemeinsinn Egozentrik, statt Höflichkeit Rücksichtslosigkeit usw.

Die radikale Veränderung des menschlichen Umgangs kann gerade in unseren Großstädten deutlich gespürt werden. Wie überraschend, wenn wir in Kleinstädten oder ländlichen Bereichen noch freundlich grüßenden Menschen begegnen, statt mutwilliger und schnoddriger Selbstbehauptung. Ich fühle mich oft bedrängt durch herumpöbelnde Menschen auf Straßen und Plätzen, durch Mahlzeiten aus Pappbechern und Tüten in sich hineinstopfende Menschen in U-Bahnen und drängelnde Radfahrer auf Gehwegen.

Es ist im Übrigen völlig gleichgültig, woher die Menschen kommen. In einer Großstadt, wie Berlin, gibt es keinen Unterschied zwischen Touristen und denen, die schon länger hier sind. Der typische Berliner kommt ohnehin von irgendwoher aus dieser Welt. Sie alle können bei mir eine Allergie auslösen, mich veranlassen, meine Hände in der Jacke zu vergraben, zu versuchen, nicht angerempelt, beschmiert oder sonst wie belästigt zu werden. Die netten Menschen, die es zweifellos immer wieder gibt, sind dabei die Retter, die ein Wunderheilmittel für meine Krankheit haben, die mich zuweilen befällt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Sicherheitsalarm

Wir sind Ohrzeugen eines verbalen Schlagabtausches zwischen dem amerikanischen Präsiden­ten Donald Trump und dem nordkoreanischen Präsidenten und Volksführer Kim Jong Un. Jeder hält den anderen für geisteskrank und will ihn platt machen. Die Völker gleich mit dazu. Das ist der Plan. Werden sie es tun?

Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, einem Vortrag des ehemaligen Botschafters und heutigem Vorsitzenden der Münchener Sicherheitskonferenz – Prof. Wolfgang Ischinger – zu folgen. Sein Thema war: „Zerfällt die Weltordnung?“ Er hat dies bejaht und ausgeführt, dass wir in schlimmen Zeiten leben. Dank seiner Kompetenz hat er alle derzeitigen Konfliktlagen beschrieben und die Bedeutung der Sicherheitskonferenz bekräftigt, ein Ort, an dem sich Machthaber unterschiedlichster Herkunft und Absichten treffen und sich über ihre Pläne austauschen können. Trotz des pessimistischen Szenarios sieht er die unausweichliche Notwendigkeit der Diplomatie, die Konflikte anzugehen.

Trotz des unüberhörbaren Moll-Tons im Vortrag von Herrn Prof. Ischinger beruhigten mich seine Ausführungen, denn sie bestätigten, was wir schon längst wissen, und zwar: auf der Ebene zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen, ob Staaten, Völker oder Einzelne, es gibt immer wieder Lösungen, weil trotz aller Emotionen die praktische Vernunft in der Lage ist, Ergebnisse mitzusteuern. Es gibt allerdings Bereiche, die bei Sicherheitskonferenzen offenbar nicht mitbedacht werden.

Dies sind die Beurteilungen von Verteilungskämpfen, die sich zum einen aus der Überbevölkerung, zum anderen aus erodierenden Kulturen und zerstörter Natur einschließlich Klima und Ozean herleiten. Diese Bedrohung wird nicht mit bedacht, sondern die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Staaten und Völkern in Kauf genommen. Dabei wissen wir, dass die auf uns zukommende Katastrophe unsere Sicherheitsarchitektur nachhaltig erschüttern und uns schon jetzt zwingen müsste, global strategisch gemeinsam diese Problemfelder zu bedenken, anstatt uns darüber zu ereifern, ob die Ukraine in die Nato aufgenommen werden sollte.

Warum sind wir so kurzsichtig? Warum sehen wir nicht, dass die Bevölkerungsexplosion uns in unabsehbare Verteilungskriege führen wird? Warum sehen wir nicht, dass territoriale Ansprüche hinweggeschwemmt werden von Wetter und Ozeanen? Warum sehen wir nicht, dass sich allmählich die Ordnungsrahmen der menschlichen Gemeinschaft durch Kulturverluste auflösen und wir in der Vereinzelung hilflos sind?

Vielleicht ist es der Plan des Lebens, jede Herausforderung auf die Spitze zu treiben, um zu sehen, ob wir uns dann noch bewähren können. Jedenfalls sollte neben Nordkorea, Krim, Syrien, Ukraine, Irak, Sudan und Libyen auch die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten mit auf die Tagesordnung von Sicherheitskonferenzen gesetzt werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Urteil

Wir sind, wer wir sind. Doch, wer sind wir? Was wissen wir von uns, unserer Körperlichkeit, unserer Abhängigkeit von Essen und Schlafen, unseren Vorbehalten, Ängsten, unserem Fortpflanzungs- und Lebensverwirklichungswillen?

Wir wissen nur so viel davon, wie uns der Spiegel, in den wir schauen, davon verrät. Es sind reale Spiegel, aber auch Kommunikationsspiegel mit anderen Menschen, Medienspiegel und Selbstbetrachtungen. Zu welchen Erkenntnissen über uns selbst führt dies? Vermutlich zu solchen, die uns entlasten. Vorurteile schreiben wir uns nicht selbst zu, sondern bezeichnen sie als Einschätzungen, die auf einem fremden, ggf. auch besorgniserregenden Verhalten anderer beruhen. Wir sind nach unserer Einschätzung nicht krank, weil wir uns selbst durch unsere Ernährungsweise und durch Genussmittel gefährdet haben, sondern es ist stets eine Kombination zwischen Umwelt und Verführung, die uns krankmacht.

Den Stress, dem wir uns ausgesetzt sehen, haben wir nicht selbst verschuldet, sondern Andere stressen, ob Arbeitgeber oder Kinder. Bei der Beurteilung des Verhaltens anderer Menschen erkennen wir oft viel deutlicher, was sie in Gefahr bringt, anstatt bei uns selbst nachzuforschen. Das Maß der „Selbstoptimierung“, das wir an uns vollziehen, bekritteln wir bei anderen Menschen als anmaßend und egozentrisch. Wir haben aufgehört, unsere Verhaltensweise in Frage zu stellen, sei es bei der Arbeit, beim Konsum oder in der Freizeit.

Das Normative unserer üblichen Tätigkeit enthebt uns von der Betrachtung deren Sinns. Für alles, was den Menschen in seinem sozialen Verhalten im weitesten Sinne während seines Lebens ausmacht, gibt es inzwischen Muster. Es sind die Kindheitsmuster, die Bildungsmuster, die Erwerbsmuster, die Konsummuster, das Seniorenmuster, das Burnout-Muster, das Pflegemuster und alle Muster der Krankheiten.

Ein durchgemustertes Menschenleben lässt wenig Raum für Fehler, Umwege, Muße und andere Formen der Nutzung der Lebenszeit. Bezeichnenderweise bezeichnen wir jede Normabweichung als Verschwendung. Der Mensch definiert sich gemäß seinem Verhalten. Begreift er, dass alles von Menschen für Menschen gemacht wird, könnte er das Maß seiner Beurteilung anderer Menschen verändern und damit auch selbst mehr Freiheit bei der kritischen Selbstbetrachtung erlangen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Markt.

Ein großer freier Platz mit Ständen. Es werden verschiedene Waren angeboten. Menschen mit oder ohne konkrete Kaufabsicht schlendern über den Platz, prüfen das eine oder andere Ange­bot, werden sich mit dem Händler einig und verstauen die von ihnen erworbene Ware. Zu Hause wird sie ausgepackt, erfüllt entweder den ihr zugedachten Zweck oder landet in dem Bereich der Vorräte. Ein typisches, wenn auch schon leicht verstaubtes reales Marktgeschehen.

Alternative Marktgeschehen entwickeln sich im digitalen Bereich durch Werbung, Angebote und Lieferung nach Hause. Hier hat zwar nicht mehr der Besuch auf dem realen Marktplatz stattgefunden, aber merkwürdigerweise funktioniert auch dieser Markt nach dem gleichen Prinzip. Werbung und Angebote stimulieren die Nachfrage. Der Absatz beruht auf der Durchsetzungskraft des Marktschreiers oder der durchsetzungsstarken Werbung in Fernsehen oder Internet.

Es gibt aber auch mikro– oder makroökonomische Märkte, die nach ganz anderen Prinzipien funktionieren als Verführung und Verschwendung. Das sind Märkte, auf denen der Händler nur die Produkte bereithält, von denen er sicher sein kann, dass sie auch abgenommen werden. Dies korrespondiert mit der Bereitschaft der Kunden, auch die bereitgestellte Ware abzunehmen. Daraus könnte man auch ein dialogisches Prinzip ableiten mit der Folge, dass Händler und Konsumenten im gleichen Boot sitzen. Es ist naheliegend, dass der Händler damit weniger Ausschuss und auch verderbliche Ware hat und der Käufer nur das bezieht, was er auch tatsächlich benötigt.

Der auf einer realen Nachfrage-Angebot-Beziehung begründete Leistungsaustausch wäre nicht nur kostengünstiger, als herkömmliche Kundenbeziehungen, sondern würde auch Ressourcenverschwendung und Überfluss vermindern. Auch ein solches dialogisches Verhalten bliebe weiterhin kapitalistisch, weil die Ansprüche der Menschen stets wachsen. Ein dialogischer Imperativ würde allerdings die Verschwendung insbesondere im Nahrungsmittelbereich erheblich einschränken können und somit nicht nur einen Beitrag zu unserer Gesundheit leisten, sondern ein besseres Gefühl vermitteln, was unsere Verantwortung für uns, andere Menschen und die Umwelt anbetrifft.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski