Archiv der Kategorie: Kultur

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen kulturellen Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Aberglaube

Neulich war ich in Bethlehem dabei, als Menschen die Geburtskirche stürmten, sich auf den Boden warfen und dort einen in Silber eingefassten Stern küssten. Dort soll die Wiege Jesu gestanden haben. Ein ähnliches Ritual erlebte ich in der Grabeskirche in Jerusalem. Dort warfen sich Menschen vor einem Stein nieder und küssten ihm. Auf diesem soll Jesus vor seinem Begräbnis gelegen haben. Viele weitere Beobachtungen ähnlicher Art konnte ich noch machen oder Vorkommnisse erfahren, die im Zusammenhang mit dem Tempelberg und insbesondere dort der Klagemauer und der al-Aqsa-Moschee stehen.

Im Reiseführer werden übrigens die Authentizität der biblischen Orte und der behaupteten Begebenheiten in Zweifel gezogen. Also, alles Aberglaube? Ich weiß nicht, ob das so ist. Es ist zu beobachten, dass Menschen singend die Via Dolorosa entlangziehen und dabei ein Kreuz schultern. Es wird fast anerkennend darauf hingewiesen, dass manche Besucher Jerusalems von der religiösen Selbstvergewisserung überfordert werden und psychisch erkranken. Spricht das alles dagegen, religiöse Weihestätte zu pflegen und Geschichten zu verbreiten, die historisch gesehen womöglich Unfug sind? Ich glaube nicht.

Menschen, und zwar auch dann, wenn sie religiös nicht eindeutig positioniert sind, benötigen Ankerpunkte ihrer Einstellung, Vergewisserung des Falschen und Richtigen, Bestätigung ihrer Existenz und Perspektiven. Alle religiösen Geschichten sind zwar altmodisch, schaffen aber Gemeinschaft und vermitteln die Gewissheit, dass es noch etwas anderes im Leben eines Menschen gibt, als Arbeit, Nahrungsaufnahme und Vergnügen. So kritisch religiöse Praktiken hinterfragt werden dürfen, so sehr müssen wir auch zugestehen, dass ohne eine religiöse Mitverantwortung für unsere Gesellschaft diese sinnentleert wäre. Würden wir alles Religiöse aus unserem Leben tilgen, bliebe nur die physische Existenz und die Hoffnung wäre dahin.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Erotik

Sex sells. Na klar, das sind doch Ladenhüter. Sex als Austauschleistung. Sex sollte künftig möglichst detailliert vertraglich fixiert und durch Unterschriften besiegelt werden, damit es nachher keine medialen Vorwürfe, Strafanzeigen und Schadensersatzklagen gibt. So regeln wir künftig auch in Deutschland die Triebabfuhr.

Ach Diótima, welch Schlamassel richten wir an. Wo bleibt denn das Zehren, das unbeschreibliche Gefühl der Sehnsucht nach einem bebenden Busen, das unberührende Verlangen zu berühren. Das ewig Weibliche … . Stopp, stopp, stopp! Berühr mich nicht, denk aber auch bloß nicht daran, mich zu berühren, weg mit aller Schmuddelliteratur und Bildern von jungen Mädchen. Säubere Bibliotheken, Museen und Galerien von Brüsten, nackter Weiblichkeit, Lustknaben und geilen Zentauren. Leda mit dem Schwan, weg damit. Schließt Badeanstalten, verbietet Bikinis und Beachvolleyball. Verbannt überhaupt alles, was erotische Fantasien ermöglichen könnte. Rein vorsorglich sollten überall Warnhinweise flächendeckend verklebt werden, etwa wie folgt: „Brüste, Hinterteile, Beine, Münder und Augen könnten verstörend wirken. Es wird daher geraten, sich mit fremden und auch eigenen Körperteilen nur dann zu befassen, wenn es um verabredete sexuelle Handlungen geht. Im Falle der Entwicklung von Sehnsucht nach einem anderen Wesen, ob männlich, weiblich oder sächlich und Feststellung erotischer Gefühle, solltest du, männlich, weiblich oder sächlich sofort einen Psychiater aufsuchen. Vor Psychiatern wird allerdings auch gewarnt, denn sie könnten selbst verstörend wirken, wenn sie in der Tiefe unseres Seins noch Rudimente schädlichen Verhaltens entdeckten.“

Hoffen wir, dass wir im Darkroom unserer Seele noch erotische Gefühle horten können und sei es nur als Erinnerung an eine unvollkommene, verrückte und anregende Welt des Vergnügens und der Verantwortung.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Influenzer

Führe uns nicht in Versuchung … So murmeln die Christen aller Welt diese Stelle aus dem „Vater Unser“. Noch tun sie dies, allerdings ist ein großer Streit darüber entbrannt, ob diese Stelle aus dem Gebet noch akzeptabel ist. Es gibt die starke Meinung, dass nicht Gott uns in Versuchung führt, sondern Satan. Aber, was wissen wir denn schon von Gott, um zu glauben, dass der Vater im Himmel davon absehen sollte, uns herauszufordern, Prüfungen der Versuchung zu bestehen? Satan will uns vielleicht verderben, aber Gott will, dass wir der Versuchung, Böses zu tun, widerstehen.

Das Alte Testament enthält eine Ansammlung von Prüfungen, die Gott dem Menschen auferlegt, ihn also in Versuchung führt, gegen die göttlichen Gebote zu verstoßen. Gott und Teufel sind Influenzer, aber mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen. Beide aber wollen wissen, wie wir uns entscheiden, wenn wir ihre Angebote erhalten, sie um uns werben. Geschieht es nach Opportunität, nach Lust oder Bequemlichkeit? Wollen wir uns weiter bereichern, vermeintliche Ansprüche realisieren oder uns wehren und auf Vorteile verzichten?

Die von Gott und Teufel gestellten Fragen mögen ähnlich sein und uns in der Werbung, im menschlichen Zusammenleben und auch in Zwiegesprächen mit uns selbst immer wieder begegnen. In welchem Zusammenhang auch immer, wir werden dabei auf die Probe gestellt und müssen wählen. Entscheidungen zu treffen, das fällt uns Menschen schwer, vielmehr lassen wir lieber die Dinge auf uns zukommen, erlauben uns zu verführen durch Passivität. Später heißt es dann, dass man ja nichts dafür könne und man sei halt verführt worden.

Alles Ausreden, die keinen Bestand haben, weder vor Gott, noch den Menschen und auch nicht vor uns selbst. Wir müssen der Versuchung widerstehen, ob diese göttlich oder teuflisch daherkommen mag. Auch als verführbare Menschen haben wir eigene Verantwortung für das sich einstellende Ergebnis, ganz gleich, ob dieses gut oder schlecht ist.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wortsalat

Was soll ich noch glauben? Jedes Bild, jeder Film, jedes gesprochene Wort, alles, was geschrieben steht, kann manipuliert sein, unwahr und verantwortungslos. Es kann sein, dass in dem Raum, in dem ich mich befinde, jede mich erreichende Information auf meine Bedürfnisse, Erwartungen, Sorgen und Ängste abgestimmt ist. Ich bin aber nicht nur der Empfänger der Information, sondern auch gleichzeitig das Instrument, das die mich erreichende Information benötigt, um Verbreitung zu erfahren.

Es entstehen so korrespondierende Räume, die ihrerseits Scheininformationen produzieren und so fort. Ich erinnere mich an ein Kinderspiel, bei dem ein Mitspieler sich etwas ausdenkt. Er flüstert das Wort dem nächst sitzenden Kind ins Ohr, das es selbst so weitergibt, wie er es versteht. Am Schluss kommen regelmäßig andere Worte dabei raus, als ursprünglich auf die Sprachreise geschickt wurden.

Wie geht es uns in Räumen, in denen wir dem Wort nicht mehr vertrauen dürfen? Ich glaube, hier gibt es keine für alle Menschen verbindliche Antwort. Viele Menschen werden sich in diesen Räumen wohlfühlen, weil Unverbindlichkeit der erhaltenen Informationen auch die Unverbindlichkeit eigener Äußerungen zulässt. Es entsteht ein Informationskokon der Beliebigkeit mit situativen Reaktionen und tiefgreifender Selbstentschuldung eigenen Verhaltens.

In der kollektiven Lüge lebt es sich leicht. Fakes sind wie herumfliegende Löwenzahnsamen, leicht unbeschwert im Anflug und pflanzenstark nach der Landung. Die Unwahrheit wird so zur Wahrheit, weil sie grell leuchtet wie der Löwenzahn selbst. Diesem will ich nicht Unrecht tun, aber das Sinnbild erschien mir passend. Was tun? Wie aus den Blättern des Löwenzahns Salat, kann auch aus allen Fakes wieder etwas Neues geschaffen werden, das die analoge Welt irreal erscheinen lässt. Das Irreale wird dann transzendent und wenn wir eines Tages alle gar nichts mehr glauben, besinnen wir uns vielleicht darauf, dass es einmal etwas Verbindliches gab.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Margot Friedlander

Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, an einer privat veranstalteten Lesung von Margot Friedlander aus ihrem Buch, „Versuche, dein Leben zu machen – als Jüdin versteckt in Berlin“ teilzunehmen. Dies hat mich tief berührt, und zwar nicht nur deshalb, weil Margot Friedlander so präzise und nachvollziehbar das ihr als Kind und Jüdin durch deutsche Mitbürger aufgezwungene Leben verdeutlichte, sondern auch deshalb, weil in jedem ihrer Worte auch eine Botschaft für uns alle, also auch die junge Generation steckt.

Die Botschaft lautet: Es geht nicht, dass Menschen andere Menschen, aus welchem behaupteten Grund auch immer, umbringen, denn alle Menschen haben das gleiche Rechte auf Würde, Leben und körperliche Unversehrtheit. Der Geist von Margot Friedlander ist stärker als jedes politische Argument und daher so unerbittlich wahr. Wir dürfen weder in Gedanken, noch in der Tat das Leben anderer Menschen beschädigen, sondern sind verpflichtet zu Mut und Hilfestellung, so schwer das auch im Einzelfall sein mag. Wir haben das Recht, Konflikte zu erleben und müssen nicht immer das Richtige tun, aber das, was wir tun, vor uns selbst und anderen vertreten.

Margot Friedlander beschreibt so anrührend nachvollziehbar ihre Skrupel und ständige Selbstbefragungen, warum sie ihrer Mutter und ihrem Bruder nicht in den sicheren Tod gefolgt und diese auf diesem Weg begleitet hat, sondern das Leben wählte. So viel Größe zeigt eine ästhetische Seele jenseits jeglicher religiöser Vereinnahmung. Margot Friedlander hat nicht aufgehört, sich verantwortlich zu fühlen und gibt daher ihre Erfahrungen auch heute noch an andere Menschen weiter. Ich hoffe sehr, dass sie es noch lange tun kann.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ich bin tot

Ich bin tot. Man hat mich erwürgt, erschossen, gehängt, erstochen und vergiftet. Man hat mein Leben auf vielfältige Art und Weise beendet, aber auch ich habe dies getan, indem ich nämlich einen Flugzeugabsturz herbeiführte, mich in die Luft sprengte und Gift nahm. Doch ich lebe. Nicht im Jenseits, sondern ganz gegenwärtig und dauerhaft. Im bleibenden Bewusstsein der Gesellschaft, in den Medien, in den Verwandten, den Freunden, meinen Opfern und allen sonstigen Spuren meines Gewesenseins in der Welt.

Ich muss leben, ob ich will oder nicht. Ich kann die Erinnerung an das, was mit mir geschehen ist, also meine Tötung, oder an das, was ich getan habe, nicht tilgen. Es ist nicht nur der Moment der Tat, der ewig bleibt, sondern alles, was vor und nach der Tat geschah, mit dieser zu tun hat, verbleibt in einem dichten Beziehungsgewebe mit mir und anderen Menschen verbunden. Als Täter werde ich mit den Opfern in Verbindung gebracht. Als Opfer mit dem Täter. So auf ewig lebend, kann mir niemand die Freiheit und die Erlösung von meiner Schuld oder der Schuld anderer gewähren. Auch Reue, Eingeständnis des Fehlverhaltens und mögliche Einsichten vermögen den Tod nicht zu bezwingen, den Makel meines Todes nicht zu löschen. Als ewig lebender Toter wandere ich durch die Empfindungen und Logik des Weltgedächtnisses, begegne Millionen und bald Milliarden meinesgleichen und warte auf den Tag, an dem die Toten die noch Lebenden für ihre Taten richten werden.

Keiner kann die Verabredungen einhalten, die ich vor meinem Tot mit mir selbst und anderen eingegangen bin. Keiner kann mein Leben zu Ende leben. Ich kann nicht mehr zurückbekommen, was ich verloren habe, mein Leben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zettelkasten

Erinnern Sie sich noch? Früher hatten manche von uns Zettelkästen. Auf jedem Zettel standen Stich- oder Merkworte. Diese Zettelkästen sind etwas aus der Mode gekommen. Es gibt aber virtuelle Zettelkästen. In meinem zum Beispiel könnte nichts geordnet sein. Es herrscht ein großes Durcheinander. Das ist von mir so gewollt. Dort sind zum Beispiel Zettel des Mutes und solche der Verzweiflung abgelegt. Zettel des Protestes und des Scheiterns liegen beieinander, Ruhe und Sturm, Seite an Seite.

Zuweilen schüttle ich mein Kästchen, so dass die Begriffe wild durcheinanderstieben. Dann legen sie sich wieder und bilden neue Paare. Unter dem Zettel Deutschland ist der Zettel Antarktis zu erkennen und unter dem Zettel Gummibärchen ein Zettel Diabetes. Das ist natürlich reiner Zufall, gibt mir aber Gelegenheit, Übereinstimmungen und Zusammenhänge auch dort wahrzunehmen, wo sie mir nicht von vornherein plausibel erscheinen müssen.

Mein umfangreicher Zettelkasten eröffnet mir virtuose Denkangebote, die ich annehmen kann, aber nicht unbedingt muss. Mein Zettelkasten enthält beileibe keine Wahrheiten, sondern bietet wie jeder reale Zettelkasten ausschließlich Stichworte für meine Versuche, etwas zu ergründen, was mir Einsichten erlaubt, vorbei an üblichen logischen Denkbahnen. So schüttle und schüttle ich meinen Zettelkasten, denn nur er eröffnet mir Möglichkeiten, die mir konsequentes und lineares Denken nicht erlauben können. Ich erfahre Dank meines Zettelkastens die ganze Komplexität meiner kleinen Welt, die unser aller Große ist.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Bilder

Selfie von und mit mir am Brandenburger Tor. Flüchtlingskind tot, angespült an griechischem Ufer. Persönliche Bilder, fremde Bilder, Schicksalsbilder, Geschichtsbilder, Realbilder und Fakebilder. Und dann das Kopfkino. Traumbilder, Bilder aus Bildern, eigene Projektionen und die anderer.

Du sollst Dir kein Bildnis machen von deinem Nächsten. Du sollst Gott nicht abbilden. So fordern manche Religionen. Und trotzdem eine Bilderflut, wozu? Können Blinde auch sehen? Was verhindert das Bild, was verschafft es? Die Fragen mögen dumm erscheinen, da Bilder allgegenwärtig sind. Aber, sie sind dennoch nichts ohne uns, weil erst durch unsere Wahrnehmung die Bilder ihren spezifischen Charakter entfalten. Es sind die Bilder unseres Lebens, die wir aufrufen können, um Entwicklungen zu messen und uns zu erinnern, wenn Gefühle und Gedanken nicht ausreichen.

Bilder sind spezifisch, fordern Korrespondenz. Sie sind zwar dem Gedanken verwandt, aber der Bildraum ist noch weiter, unbeherrschbar durch den Moment. Das Bild verändert sich durch unsere Wahrnehmung, verändert sich durch Zeit und Umstände. Die Bilder in uns sind die Blaupausen der Wirklichkeit, werden aber erst real durch uns. Das Bild ist das, was wir uns vorstellen, selbst dann, wenn für das Betrachten des Bildes Maßregeln oder Rezepturen vorgegeben werden. Dem Bild kann sich keiner entziehen, weder ein Gegenstand, noch eine Idee.

Das Bild ist allmächtig und herrscht über Zeit, Raum und Ewigkeit. Das Bild macht nicht Halt vor Blinden und schafft auch aus Ornamenten umfassende, wenn auch subjektive Identitäten. Wir Menschen erfahren Bilder und machen uns Bilder, von allem.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Nachrichten

Ist es denn schon so lange her, dass wir via Radio oder Fernsehen Nachrichten empfingen und uns auf das Gehörte den eigenen Reim machten? Nicht von ungefähr gibt es nun die „Heute-Show“. Alles ist Show. Wie sollten wir auch aus der „Tages-Show“ noch Nachrichten fischen? In einer Republik der Bekenntnisse zwingen Moderatoren Politiker bei Stimmverlusten zu bekennen, was sie als Partei oder höchstpersönlich falsch gemacht haben, denn nur so seien Stimmenverluste erklärbar.

Die Absurdität dieser Argumentation scheint weder dem Moderator noch dem Politiker aufzugehen. Es soll immer Schuldige geben. Dass der Wähler einfach wählt, was er gut findet und abwählt, was er schlecht findet, ist offenbar völlig nebensächlich. Warum diese Respektlosigkeit und welche Konsequenzen hat sie?

Das Warum lässt sich recht schnell beantworten: Wenn alles Show ist, bleibt der Nachricht nur noch der Platz des Stichwortgebers für permanentes Unterhaltungstheater. Dabei wird verlangt, dass alle sich präzise und genau äußern und Bekenntnisse ablegen. Kaum wird das Wetter davon verschont! Die Konsequenzen sind allerdings verheerend.

In einem ständigen Wirbel von Behauptungen, Meinungen, Emotionen und tatsächlichen Vorkommnissen entstehen Smoothies, die durch Kopf und Körper rauschen und dabei nichts Anderes verursachen, als Sodbrennen, Magenschmerzen, Kopfweh und schlechte Laune. Die als Fast- oder Convenience-Food aufbereiteten Nachrichten versehen mit allen Zutaten an Geschmackverstärkern, Zucker und Bitterstoffen machen krank. Wir leiden schon heute an einer medialen Krankheit, die natürlich durch die sozialen Netzwerke verstärkt wird.

Permanent wird uns eingehämmert, was wir zu denken, zu sagen, zu meinen und zu wählen haben. Nur abzuschalten, um den Kopf und das Herz wieder freizubekommen, wäre eine Möglichkeit. Aber, es ist schwer, sich heute angesichts des medialen Overflows noch mit den einfachen Dingen des Lebens zu vergnügen, zum Beispiel Taubenzucht oder Briefmarken zu sammeln. Das war aber Menschen einmal sehr wichtig. Sie hatten Gelegenheit, sich auf Ihre Tätigkeit zu konzentrieren und sich ihre eigenen Gedanken über die Welt zu machen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Urteil

Wir sind, wer wir sind. Doch, wer sind wir? Was wissen wir von uns, unserer Körperlichkeit, unserer Abhängigkeit von Essen und Schlafen, unseren Vorbehalten, Ängsten, unserem Fortpflanzungs- und Lebensverwirklichungswillen?

Wir wissen nur so viel davon, wie uns der Spiegel, in den wir schauen, davon verrät. Es sind reale Spiegel, aber auch Kommunikationsspiegel mit anderen Menschen, Medienspiegel und Selbstbetrachtungen. Zu welchen Erkenntnissen über uns selbst führt dies? Vermutlich zu solchen, die uns entlasten. Vorurteile schreiben wir uns nicht selbst zu, sondern bezeichnen sie als Einschätzungen, die auf einem fremden, ggf. auch besorgniserregenden Verhalten anderer beruhen. Wir sind nach unserer Einschätzung nicht krank, weil wir uns selbst durch unsere Ernährungsweise und durch Genussmittel gefährdet haben, sondern es ist stets eine Kombination zwischen Umwelt und Verführung, die uns krankmacht.

Den Stress, dem wir uns ausgesetzt sehen, haben wir nicht selbst verschuldet, sondern Andere stressen, ob Arbeitgeber oder Kinder. Bei der Beurteilung des Verhaltens anderer Menschen erkennen wir oft viel deutlicher, was sie in Gefahr bringt, anstatt bei uns selbst nachzuforschen. Das Maß der „Selbstoptimierung“, das wir an uns vollziehen, bekritteln wir bei anderen Menschen als anmaßend und egozentrisch. Wir haben aufgehört, unsere Verhaltensweise in Frage zu stellen, sei es bei der Arbeit, beim Konsum oder in der Freizeit.

Das Normative unserer üblichen Tätigkeit enthebt uns von der Betrachtung deren Sinns. Für alles, was den Menschen in seinem sozialen Verhalten im weitesten Sinne während seines Lebens ausmacht, gibt es inzwischen Muster. Es sind die Kindheitsmuster, die Bildungsmuster, die Erwerbsmuster, die Konsummuster, das Seniorenmuster, das Burnout-Muster, das Pflegemuster und alle Muster der Krankheiten.

Ein durchgemustertes Menschenleben lässt wenig Raum für Fehler, Umwege, Muße und andere Formen der Nutzung der Lebenszeit. Bezeichnenderweise bezeichnen wir jede Normabweichung als Verschwendung. Der Mensch definiert sich gemäß seinem Verhalten. Begreift er, dass alles von Menschen für Menschen gemacht wird, könnte er das Maß seiner Beurteilung anderer Menschen verändern und damit auch selbst mehr Freiheit bei der kritischen Selbstbetrachtung erlangen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski