Archiv der Kategorie: Kultur

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen kulturellen Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

IFA

Nein, ich war nicht bei der Internationalen Funkausstellung in Berlin. Mich hat zwar sehr interessiert, was dort vorgestellt wurde, aber als normaler Besucher wird man in erster Linie mit den vielen Menschen konfrontiert, die ebenfalls dort sein werden. Und das halte ich schwer aus. Es missfällt mir ohnehin und sicher vielen Menschen auch, in der U-Bahn, auf den Straßen und Plätzen dieser Stadt in Aufzügen und auf Rolltreppen, anderen Menschen zu begegnen, die – wie ich natürlich auch – nur ihr eigenes rasches Fortkommen im Auge haben.

Wird sich daran aufgrund der Produkte, die auf der IfA präsentiert werden, etwas ändern? Unklar. Die Technik schreitet voran, ermöglicht es, zumindest dann im Smart-Home-Bereich einiger begüterter Menschen per Knopfdruck oder auf Ansprache, alle Helfer in Bewegung zu setzen. Zunächst sparen wir Wege zu Hause, später müssen wir vielleicht auch nicht mehr vor die Tür. Zu Hause werden dann – angefangen vom Fernseher – alle Haushaltsgeräte mit uns sprechen und unseren Befehlen folgen, insbesondere unser Kühlschrank, der uns am Fernsehtisch besucht, uns mit Bier versorgt und dabei etwas ins Gedränge kommt mit der heranrollenden Popcorn-Maschine.

Die fällt um und ruft nach dem Staubsauger, der die herumfliegenden Popcorn-Krümel beseitigt. Indes entschuldigt sich der Kühlschrank bei der Popcorn-Maschine, während diese vom herbeieilenden Allzweckroboter wiederaufgerichtet wird. Smart Grid des Haushalts funktioniert auch draußen. Keinen Schritt muss ich mehr machen, der nicht allein meiner Fitnessoptimierung dient, meine Nutrition wird mir anstandslos besorgt, wie Kleider oder Freunde, die ich zum Spieleabend einlade. Ja, es sind meine Freunde. Ich kenne sie doch, ihre Gesichter, ihre Bewegungen, ihre Witze und Anzüglichkeiten. Doch, das geht! Alle meine Freunde haben sich in 3-D scannen lassen.

Die Art und Weise, wie sie sprechen, hat ein Sprachsteuerungsprogramm gelernt und ist inzwischen raffiniert genug, bei der Wiedergabe emotionale und intellektuelle Eigenheiten meiner Freunde zu berücksichtigen. Dabei ist ja das Besondere, dass jeder meiner Freunde jederzeit selbst wieder die Regie über seinen in meine Wohnung projizierten Avatar übernehmen kann. Und ich merke das noch nicht einmal. Ist das nicht geil? Mit meinen realen Freunden und ihren Projektionen hat es angefangen. Ich muss nicht mehr aus dem Haus. Alles, was da draußen geschieht, kommt zu mir oder ich projiziere mich nach draußen, zum Beispiel auf die Funkausstellung. Der direkten Konfrontation mit Menschen, ihrem Gedrängel, Geschubse, ihren Gerüchen und Rücksichtslosigkeiten muss ich mich nicht mehr aussetzen. Ist das nicht herrlich?

Na klar, aber, kürzlich ist mir aufgefallen, dass wildfremde Menschen plötzlich in meiner Wohnung waren, die mit meinem Fernseher und meinen Küchengeräten sprachen. Sie saßen an meinem Tisch und spielten, veranstalteten Partys in einer Lautstärke bis spät in die Nacht, die mich am Schlafen hinderte. Ich habe gehört, dass jetzt Ausknöpfe für die gesamte Stromversorgung von Häusern, Bezirken und Gemeinden hoch im Kurs stünden. Leider lassen sich aber nicht sämtliche Batterien in Handys, Fernbedienungen außer Kraft setzen, obwohl ich ständig „aus, aus, aus“ rufe.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Denkmal

Es erklingt der Zapfenstreich. Die Denkmäler sollen heim ins Reich ihrer fragwürdigen und niederträchtigen Vorbilder. Denkmäler werden geschleift, geschreddert, gevierteilt und gerädert. Mit ihnen soll geschehen, was man an denjenigen, die sie verkörpern, nicht mehr vollziehen kann. Die Jagdzeit für Denkmäler ist wiedereröffnet. Auch derzeit in den USA.

Alle Denkmäler stehen zur Disposition, sogar die der Gründerväter Washington und Jefferson. Nicht erst seit der französischen Revolution weiß man, dass jeder noch so bedeutende Mensch Dreck am Stecken hat oder haben könnte. Die kollektive Beseitigung von Störendem hat epidemischen Charakter. Was in den USA derzeit an Fahrt aufnimmt, greift auch über auf Frankreich und Deutschland. Weg mit Napoleon, den Kaiser- oder Bismarckdenkmälern! Schaffen wir uns aus den Augen, was uns stört!

Ja, darum geht es: Störendes soll beseitigt werden. Wir wollen uns nicht mehr daran erinnern lassen, was gewesen ist und uns nicht unserer Geschichte stellen. Denkmäler sind nicht nur Heroisierungen von Personen und Ereignissen. Denkmäler fordern zur Auseinandersetzung auf. Sie machen uns bewusst, dass sich unser Leben unter Irrungen und Wirrungen, aber auch in der Erkenntnis des Richtigen vollzieht. Diejenigen, die auf dem Sockel stehen, sind wie wir. Indem wir sie stürzen wollen, beabsichtigen wir auch, unsere eigene kollektive Verantwortung zu beseitigen.

Wir schulden es uns und künftigen Generationen daher, Denkmäler zu erhalten und dabei den Entwicklungsprozess zu verdeutlichen, den wir als Menschen notwendigerweise durchstehen müssen, um die gleichen Fehler nicht immer wieder zu begehen. Ist das Halali auf Denkmäler einmal eröffnet, gibt es kein Halten mehr. Je nach Macht und Möglichkeit werden gerade dann auch die Denkmäler beseitigt und Straßennamen überschrieben, deren Erhalt für eine verantwortungsvolle Gesellschaft unverzichtbar sind.

Was in den USA Projektionsflächen für tiefgreifende gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit Toten und Verletzten bietet, wird auch auf Europa überschwappen und uns sprachlos werden lassen, wenn wir nicht jetzt einen eindeutigen Standpunkt beziehen. Denkmäler fordern uns auf zum Denken. Wir dürfen das Denken nicht verlernen, weil es keinen Gegenstand sonst mehr gibt, der das Denken auslösen kann.

Nach dem Bildersturm ist in Russland auch wieder Ruhe eingekehrt. Unweit des Flughafens in Petersburg steht ein Lenin, der bei längerer Beobachtung zu tanzen scheint. Der Künstler, der diese Skulptur schuf, vermittelte uns mit seinem Werk auch eine Botschaft, die den Auftraggebern überhaupt nicht passte. Schauen wir uns Denkmäler in der Zukunft genauer an. Vielleicht lernen wir mehr von ihnen als wir ahnen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Die Unaussprechlichen

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Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Geteiltes Leid

Geteiltes Leid sei halbes Leid, so will es ein sehr bekanntes Sprichwort wissen. Ist das auch so? Wir müssen das herausfinden! Wir geben also unserem Gesprächspartner ein Stichwort, indem wir zum Beispiel auf unsere eigenen Rückenschmerzen verweisen. Was dann passiert, ist oft erstaunlich. Anstatt sich mitfühlend mir und meinen Rückenschmerzen zuzuwenden, erzählt der Angesprochene seine eigene Leidensgeschichte, und zwar angefangen vom Rücken bis zum Magen, von der Schulter bis zur Hüfte. Werden damit mein Leid und meine Leiden geteilt?

Ich glaube nicht, das Leid wird nicht geringer, sondern nur durch das Erzählen profanisiert. Das Leid wird verdoppelt und sogar bei mir und meinem Gesprächspartner vervielfacht. Abgewogen wird allerdings das Maß des Leids und dies kann die Genugtuung verschaffen, dass man selbst ja noch recht gut dabei weggekommen sei. Auf diese Art und Weise entlastet das Leid der Anderen – auch wenn es als aufgedrängt empfunden sein sollte. Je umfassender so die Kenntnis vom Leid anderer ist, desto entlastender wirkt es sich auf jeden Leidenden aus. Die Gemeinschaft des Leids kann daher im sozialen Kontext den sprichwörtlichen Anspruch erfüllen.

Wirkliches Leid aber ist etwas höchst Privates und kann von niemandem geteilt werden und dies auch dann nicht, wenn es allgemein bekannt ist.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ausreden

Jede Ausrede ist billig. Obwohl wir dies wissen, benutzen wir sie dennoch. Wir sind auch nicht so blöd zu glauben, dass der Adressat der Ausrede unser Anliegen nicht durchschaut. Die Ausrede ist ein verabredetes soziales Phänomen und erlaubt eine Gesichtswahrung selbst noch dann, wenn man sich eigentlich schämen müsste. Da Ausreden zur sprachlichen Ausrüstung jedes Menschen gehören, wird ein gewisses Kontingent davon auch nicht sozial geächtet, aber bemerkt.

Häufen sich die Ausreden, schadet dies der Verlässlichkeit. Das soziale Ansehen sinkt, der inflationäre Gebrauch an Ausreden schafft Unglaubwürdigkeit, es sei denn, die Ausreden erreichen ein politisch relevantes Niveau. Beispiele: Weil wir die Souveränität fremder Staaten nicht verletzten wollen, können wir Menschenrechtsverletzungen, Vergewaltigungen und Metzeleien nicht verhindern.

Um die Währungsstabilität nicht zu gefährden, müssen öffentliche Bauvorhaben, wie Straßenbau und Schulsanierungen, warten. Sicherheit und Ordnung ist leider nicht mehr zu gewährleisten, weil wir zu wenig Polizisten haben. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Manche der Behauptungen mögen war sein, aber zu jeder Ausrede im politischen Raum gesellt sich auch ein Grund für das fehlerhafte Verhalten. Dieser Grund wird nicht benannt, sondern allein die Ausrede soll den Grund liefern.

Wie im politischen verhält es sich zuweilen auch im privaten Bereich. Die Ausrede lautet u. a.: Weil man mir nichts beigebracht hat, kann ich auch nicht arbeiten, sondern bin auf Hartz VI angewiesen. Ich bin dick, weil meine Drüsen nicht richtig funktionieren. Ich soll anderen helfen, aber wer hilft mir? Auch hier steckt in jeder Ausrede wiederum ein wahrer Kern. Dennoch wird die fehlende Bereitschaft für sich und andere etwas zu leisten mit einem allgemein umschriebenen Unvermögen kaschiert. Dass auch dies eine Ausrede ist, erkennt man an der Vehemenz, mit der sie vorgebracht wird. Derjenige, der die Ausrede erkennt, kommt dann noch glimpflich davon, wenn ihm attestiert wird, dass er gut reden könne, aber die Situation natürlich völlig verkenne. Was soll man auch machen, wenn man als Mensch von seinen Genen, seinem sozialen Umfeld und davon bestimmt ist, ob man zu den Reichen oder den Armen gehört.

Was bleibt, ist also nur, sich in sein Schicksal zu fügen und jedem zu erzählen, wie schlecht es einem geht. Bloß nicht versuchen, etwas zu ändern und dabei das Gelingen oder Scheitern in Kauf zu nehmen. Mit Ausreden lebt es sich einfach bequemer.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zufälle

Ein flüchtiger Blick auf die Uhr. Es ist 12.12 Uhr. Eine nicht verbredete Begegnung mit einem guten Freund aus Berlin, zum Beispiel auf dem Jungfernstieg in Hamburg oder in der MoMA in New York. Oder, das richtige Kreuz auf dem Tippschein? Alles Zufälle? Ja und nein.

Wer nicht Lotto tippt, kann auch nichts gewinnen. Wer nicht nach Hamburg oder New York fährt, wird dort auch keinem Freund begegnen. Der Blick auf die Uhr mit ähnlichen symmetrischen Ergebnisse ist jede Stunde möglich. Wir zählen auch nicht, wenn es nicht klappt. Also, nichts Besonderes?! Ja und nein.

Bestimmte Menschen nehmen die ihnen zufallenden Umstände wahr, andere nicht. Zufälle sind abhängig von Zeit und Gelegenheit, auf die wir durchaus Einfluss nehmen können. Zufälle sind also geplante Ereignisse, die sich erst in einen bestimmten Moment bewähren. Den Herstellungsprozess für Zufälle können wir uns vielleicht so vorstellen: alle Möglichkeiten zum Beispiel eines Lottogewinns, einer Begegnung oder sonstigen Ereignisses werden durch Siebe geschüttet, die sich immer mehr verjüngen, bis schließlich nur noch eine Möglichkeit im bewahrenden Moment durch das Sieb aufgefangen wird. In dieser Sekunde wird deutlich, dass der Zufall folgerichtig und unausweichlich ist.

Es ist an uns, die Zutaten in Siebe zu geben und sie so fein zu filtern, dass sie den uns überraschenden Erwartung entsprechen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Vivre quand même

Bei Sartre heißt es, dass das Leben absurd sei, man aber dennoch leben möge. Auf diese philosophische Tiefe möchte ich mich aber nicht begeben, sondern vom alltäglichen Lebenstrotz berichten. Der Trotz hat einen Bezug zur Niveaulosigkeit, die ich in weiten Bereichen unseres Lebens heute feststelle. Der Begriff Niveaulosigkeit muss allerdings hinterfragt werden, denn es ist keineswegs gesichert, was unter Niveau zu verstehen ist.

Früher benannte das Niveau eine allgemein verständliche gesellschaftliche Verhaltensweise, die konsensfähig war und weitgreifend in der Gesellschaft auch geachtet wurde. Das beinhaltete, dass man wusste, wie man sich gab, kleidete, aß, sich Nachbarn und anderen gegenüber verhielt. Es war keine Ordnung des Herzens, sondern der Anschauung. Die Attacken dagegen waren unausweichlich und spätestens in den 68er Jahren war jedem klar, diese Ordnung taugt nicht mehr, sie wird in Frage gestellt bzw. abgeschafft. Viele, unter anderem auch ich, haben dies als Befreiung empfunden. Die Befreiung von Zwängen eröffnet Möglichkeiten, neue Erfahrungen zu erproben, Verabredungen zu treffen und Bündnisse zu schmieden. Doch, was ist aus dieser Freiheit geworden?

Aus meiner Sicht nichts Gutes, denn es folgte dem libertären Ideal die Libertinage. Sinnbildlich ist dies unter anderem im Berliner öffentlichen Nahverkehr zu erleben. Als steter Nutzer habe ich dort fast alles schon erlebt, was die Niveaulosigkeit zu belegen geeignet ist. Der rücksichtslose Umgang einiger Reisegenossen mit ihrem Bedürfnis nach ungestörter Selbstverwirklichung zwingt oft zum inneren Abdanken vor der geschmacklosen Wirklichkeit. Wird diese im Einzelfall von einem der Mitreisenden thematisiert, scheitert die Abhilfe nicht an vorhandenen Möglichkeiten, sondern an der Irritation der betroffenen Täter. Diese verstehen einfach nicht, um was es geht und was man von ihnen will. Da es kein konsensfähiges Verhalten mehr zu geben scheint, ist es auch nicht verwunderlich, in Restaurants vor allem junge Menschen dabei zu beobachten, wie sie fast hilflos mit Messer und Gabel umgehen oder mutig den Nachbartisch an der eigenen verbalen Feierlaune teilnehmen lassen.

Auch wenn das Motto zu lauten scheint: Ich zuerst, so ist das keine Frage des inneren Wollens, sondern eine Antwort auf das allgemeine Angebot. Die wirtschaftsmächtige Industrie hat sich der Libertinage bemächtigt und in der Vereinzelung des Menschen außerhalb eines gesellschaftlichen Niveaus enorme Marktchancen entdeckt, die es zu nutzen und zu erhalten gilt. Die so entstandene Rücksichtslosigkeit trägt keine aggressiven Züge, sondern verkörpert ein konturloses Konsumentenniveau. Der einzelne Mensch aber ist nach wie vor hilfsbereit, freundlich, offen und emphatisch. Deshalb ist es gut, trotz der beklagenswerten Niveaulosigkeit weiter zuversichtlich zu leben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Körper

Ohne Körper sind wir Menschen unvollständig. Nur Geist und Seele. Das reicht nicht. Es würde das Gefäß fehlen. Der Körper. Unsere Zellen verändern, vermehren, teilen und erneuern sich, was bleibt, ist aber unser Körper. Unser Körper muss alles aushalten, Vernachlässigungen wie auch Zuwendungen. Wir Menschen haben von Geburt an unterschiedliche Körper. Sie sind die Projektionsflächen unseres Lebens. Es zeichnet sich an unserem Körper die Beziehung zu unserer Familie, zu Ernährungsgewohnheiten, zur Arbeit und zur Freizeit ab.

Wir sind nicht nur, was wir essen, aber was wir und wie wir essen formt das Gefäß, das wir als Körper be­zeichnen. Ist dieses Gefäß verformt, droht es im übertragenen Sinne zu brechen, d. h. es ist nicht mehr geeignet für unsere Lebensabsicht. Unser Körper ist duldsam, verzeiht Übertretungen und ist bereit, soweit es in seiner Macht steht, uns immer wieder eine Chance zu geben. Viele Menschen helfen ihrem Körper, sich wieder zu regenerieren, treiben Sport, sorgen für Ruhe und Ausgeglichenheit und eine akzeptable Ernährung.

Kontraproduktiv kann es allerdings sein, mittel unspezifischer und unpassender Vorhaben den Körper zu zwingen. Aufgestachelt von Werbung und Selbstvermarktungsstrategien, Präparaten und digitalen Geräten, Nahrungsergänzungsmitteln und sportlichem Overkill versuchen manche Menschen aus ihrem Körper etwas Anderes zu gestalten, als er es ist. Sie machen aus ihrem Körper ein Produkt des Lifestyles, entäußern ihn seines eigenen Selbsts und überantworten ihn Fitnessmaschinen und Beratern.

Die Organe des Körpers, Haut, Muskeln und alle Extremitäten werden so zu Chiffren eines fremden Seins, Wahrnehmungsangeboten an Kunden im Internet und zeitweiliger Identitäten mit anderen. Der so entfremdete Körper setzt ein Zeichen. Die Identität ist dann die Projektion des Ichs in eine andere Körperlichkeit, die dem eigenen Ich bedrohlich näherkommen kann, wenn das Ideal scheitert. Das kann jederzeit geschehen aus Schwäche, Krankheit, familiären oder sozialen Veränderungen. Das auf den idealisierten Körper ausgerichtete Bewusstsein kann die Attacken auch des Alters nicht überspielen und scheitert an der Unerbittlichkeit jeder natürlichen Veränderung.

Bei aller Übertreibung ist der Körper ein analoger Protest gegen die virtuelle Welt. Er zeigt, dass der mutige und schöne Organismus Sinnlichkeit und Verstand beherbergt, Genuss ermöglicht und begehrenswert für andere Menschen ist. Wir haben allen Grund, unseren verführbaren Körper zu lieben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Verseuchung

Ein Film, den ich vor Kurzem im Fernsehen sah, handelte davon, dass eine junge Frau als erzwungener Drogenkurier unfreiwillig verseucht wurde. Eine Droge, die in einem Plastiksäckchen verpackt, ihr unter die Bauchhaut eingenäht wurde, platzte und setzte einen Stoff frei, der dazu führte, dass Zellen ihres und anderer Körper in schwindelerregendem Tempo miteinander kommunizierten und schließlich ihre kognitiven Fähigkeiten auf 100 % erweiterte. Dann war sie tot und was von ihr blieb, war ein Computerstick.

Eine interessante Parabel des menschlichen Lebens und Scheiterns die hintergründig aufzeigt, dass eine digitale Maschine 100%ige kognitive Leistungsfähigkeit erwerben kann, aber daran nicht scheitern wird. Unsere Zellen dagegen sind dem, was wir heute schon Reizüberflutung nennen, nicht gewachsen. Wir können es nicht sehen, fühlen oder schmecken, aber nicht nur kosmische Strahlen, sondern ein dichtes Netz an Informationen umgibt uns.

Wir können nur hören, was für uns bestimmt ist, nur abrufen über elektronischen Geräte, die Informationen zu entschlüsseln vermögen. Sind die Geräte ausgeschaltet, sind diese Informationen aber nicht weg, sondern und durchgeistern weiterhin alle Zellen unseres Körpers, kommunizieren mit uns jenseits der kognitiven Wahrnehmung. Wir sind verseucht und trauen uns dies nicht einzugestehen. Nirgendwo wird uns eine Möglichkeit gegeben, uns von der Verseuchung zu reinigen. Wir sind den von uns elektronisch ausgelösten Informationen auf Dauer ausgeliefert.

Die elektronischen Impulse sind nicht abhängig von unserer Wahrnehmung, sondern haben unseren Schutzbereich schon seit längerem verlassen und begonnen, den gesamten Weltraum mit Informationen zu verseuchen. Ist das schlimm? Diese Frage stellt sich meines Erachtens nicht mehr, da es keine Frage nachträglicher Einschätzungen sein kann, sondern wir nur noch wahrzunehmen haben, was geschieht. Nichts ist gut daran oder böse. Diese Art der Verseuchung war unabwendbar. Da intelligenten Geräten nunmehr weltweit Informationen zur Verfügung stehen, werden sie sich dieser bedienen und damit eine exklusive Einsicht in unser Leben erlangen, die uns mangels ausreichender kognitiver Fähigkeiten verschlossen bleibt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Abstumpfung

Noli me tangere. Berühr mich nicht. Das ist das Mantra einer an medialen Eindrücken überfütterten Gesellschaft. Die Reizschwelle des optischen Erlebens wird immer mehr angehoben. Hier ein Clip von verhungernden Kindern, dort ein mitgefilmtes Attentat, detonierende Häuser und verbrennende Menschen. Alles live, aber so wenig unterscheidbar von Killerspielen und Darbietungen in sensationellen Events der Virtualität.

Die Frage ist nicht, was ist noch real, sondern was geht uns noch das reale Elend dieser Welt an? Auch ich nehme eher nur beiläufig ein schlimmes Vorkommnis, ein Attentat oder Ähnliches wahr. Selbstverständlich finde ich die Grausamkeiten in dieser Welt empörend und bedaure alle Opfer eines Attentates oder Unglücks. Und doch bleiben meine Emotionen kalkuliert, der Verstand abwehrbereit. Einmal abgesehen von einem Umstand, der meiner Familie oder mir persönlich nahekommen würde, scheinen die Bilder mehr zu distanzieren, als Nähe zuzulassen.

Mit dem Schock stellt sich Abwehr ein und nach vielen Schocks ist der Erkenntnisprozess versiegt. Ich glaube, wir müssen nicht alles wissen. Ich glaube, es muss uns nicht alles vorgeführt werden, um uns begreifbar zu machen, dass bedrängte Menschen und Opfer einen Anspruch auf unseren Schutz haben. Wir sollten uns zurücknehmen in der Opulenz des Betrachtens, den Voyeurismus einschränken und aus der Fülle der Schreckensangebote nur das auswählen, was wir zu verarbeiten bereit sind. Verarbeiten heißt dabei nicht wegschieben, sondern mit Empathie und Engagement daran zu arbeiten, dass wir mitfühlende und helfende Menschen trotz Reizüberflutung bleiben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski