Archiv der Kategorie: Kultur

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen kulturellen Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Interpretation

„Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn.“

Eine scheinbar völlig harmlose Aussage, die wir Johann Wolfgang von Goethe verdanken. Was hat er sich dabei gedacht, als er diesen Satz niederschrieb? Was wollte er mit diesem Satz ausdrücken? Wenn wir uns als Adressaten des Satzes begreifen, was nehmen wir zur Kenntnis, was denken oder empfinden wir, wenn wir diesen Satz hören oder lesen? In welchem Kontext zur Persönlichkeit und zum Schaffen des Verfassers, unserem Leben und Erfahrungen steht dieser Satz? Worauf liegt seine Betonung? Nimmt der Verfasser Kontakt zu uns auf oder spricht er ausschließlich zu sich?

Wenn wir unsere Sphäre der Wahrnehmung verlassen und eintauchen in die Sprache, das geschriebene und gesprochene Wort, und uns dem Metrum widmen, werden wir wissen wollen, weshalb der Verfasser dieser Zeile nicht innehielt, sondern ein Versmaß wählte, mit welchem er uns aufmerksam und neugierig macht, uns von der Beschreibung des Offensichtlichen mehr und mehr mit seiner eigenen Walderfahrung vertraut macht. Was sucht er in diesem Wald?

Erwartet er eine Überraschung, sucht er etwas, ohne dabei einen bestimmten Blick und ein bestimmtes Ziel zu haben? Setzt er auf Erkenntnis, weil er weiß, dass das Nichts ohne das Etwas nicht genannt werden kann? Und was will er im Wald? Er könnte ins Offene gehen, er bevorzugt aber den Wald. Hat er dafür Gründe, setzt er auf die Dunkelheit des Waldes und auf eine Überraschung, ein Abenteuer? Er behauptet, nichts im Sinn zu haben, sondern nur zu gehen. Bedeutet das, dass er sich der Verantwortung für sein Verhalten entledigen will, ganz egal, was in diesem Wald passiert?

Auch, wenn er angeblich nichts sucht, so hat er doch etwas vor, indem er geht, aber die Gründe hierfür nicht offenbart. Dabei weiß er wohl, dass ihm der Wald etwas ermöglicht, denn auch dann, wenn er nichts sucht, so lässt er dennoch zu, dass sich etwas unerwartet einstellt. Wir wissen nicht, wer uns anspricht. Ist es ein Mann oder eine Frau oder beides? Je nach biologischem oder sozialem Geschlecht des Waldgängers oder der Waldgängerin, welche Perspektiven ergeben sich hieraus auf das beschriebene Vorkommnis?

Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass offensichtlich von einem noch nicht abgeschlossenen Vorgang berichtet wird, der seinen unbekannten Anfang schon hinter sich hat und sich auf ein Bekanntwerden des kommenden Ereignisses einstellt. Wer immer hier in den Wald gehen mag, er bleibt stets auf unsere Wahrnehmung und uns als Interpreten angewiesen.

Allein unsere Bewertung individualisiert den Waldgänger und bewertet sein Verhalten. Der Leser vermag sich der Zukunft zuzuwenden, da die beschriebene Vergangenheit bereits in einem abgeschlossenen Vorgang die Projektionsfläche für ein noch denkbares kommendes Geschehen bildet. Hätte sich der Verfasser ausschließlich darauf beschränkt, uns einen Waldbesuch zu beschreiben, bei dem er nichts gesucht habe, würden wir uns wahrscheinlich gefoppt fühlen. Tatsächlich fordert er aber unsere Neugierde heraus, will, dass wir wissen wollen, was geschehen wird. Das verrät er uns, aber das ist eine andere Geschichte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Superlative

„Das ist wirklich wahnsinnig nett von Ihnen, dass Sie dies schreiben.“ Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen überhaupt noch mitbekommen, wie ihre Sprache inzwischen mit Superlativen durchsetzt ist. Ich glaube, die meisten Menschen haben sich daran gewöhnt und nehmen diesen Zustand einfach hin oder nutzen selbst die Möglichkeit, ihrer Aussage eine besondere Bedeutung beizumessen, wohlwissend, dass diese Bedarfssteigerung vom Empfänger als korrekt und selbstverständlich angesehen wird. Nichts ist kaum mehr schön, nett oder gut, ohne, dass es durch das Attribut wahnsinnig verstärkt wird.

Das Wort „wahnsinnig“, dass entweder vermitteln soll, dass ich selbst wahnsinnig bin oder meinen Gesprächspartner wahnsinnig machen möchte oder erwarte, dass er von selbst wahnsinnig wird, wenn er meine Botschaft empfängt, durchschreitet offenbar unterschiedliche Bedeutungshöfe, um schließlich aber doch nur auszudrücken, dass etwas nett oder schön ist. Wenn man sich allerdings wahnsinnig freut, ist es schon nahe eines Zustandes, der nach einer psychiatrischen Betreuung ruft. Das ist aber nicht gemeint.

Ich will nur sagen, dass ich mich freue, und zwar richtig, also nicht nur so tue, als würde ich mich freuen. Damit wird ein weiterer Aspekt der Superlative deutlich: Ich als Verwender will von vornherein Zweifel an meiner Aufrichtigkeit und der Ernsthaftigkeit meiner Freude ausschließen. Da die Freude allerdings auch riesig oder zum Beispiel mega sein kann, werden stets neue oder andere Superlative benötigt, um der Ausdrucksform die erwünschte Endgültigkeit zu verleihen. Superlative sind aber nicht steigerungsfähig. Nur neue Wortschöpfungen können dafür sorgen, dass ich am „optimal-sten“ ausdrücken kann, wie die ungeheure Zahl an Attributen und Adjektiven noch gesteigert werden könnte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Europäische Kulturverfassung

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist der Auffassung, es ginge in Europa auch ohne ein gemeinsames kulturelles Verständnis, d. h. jeder Staat präge seine eigene kulturelle Identität, die dann in einem Europa der Vaterländer miteinander konkurriert. Dies ist geschichtsvergessen, denn kein europäischer Staat hat je durchgängig eine umfassende eigene Identität aufweisen können, sondern wurde vielmehr stets beeinflusst durch andere, seien diese Eroberer, Migranten oder Visionäre. Ein Europa der Vielfalt weist folglich auch seine Identität durch ein gemeinsames kulturelles Grundverständnis aus. Dies sollte durch eine längst überfällige europäische Kulturverfassung zum Ausdruck kommen. Ich könnte mir deren Prinzipien wie folgt vorstellen:

Präambel

Die Europäischen Staaten sind sich sicher, dass die Garantie der kultu­rellen Ent­wicklung jedes einzelnen Menschen, von Gruppen und Län­dern, in Vielfalt und gegenseitiger Achtung und Verständnis der Er­haltung, der Entwicklung und dem Fortbestand der Menschheit in Würde, Respekt und Bereitschaft zu friedlichen Problemlösungen dient.

Dies vorausgeschickt kommen die vertragsschließenden Staaten in Folgendem über­ein:

Artikel 1

Das Recht jedes einzelnen Menschen, sich kulturell frei und vielfältig im Rahmen die­ser Verfassung zu entwickeln, ist unantastbar.

Artikel 2

Die kulturelle Betätigung von einzelnen Gruppen, Gebieten und Staa­ten steht un­ter dem Schutz der Gemeinschaft und zwar auch dann, wenn sie regional oder all­gemein den jeweils herrschenden Auffas­sungen widersprechen.

Artikel 3

Es ist die Aufgabe jeder staatlichen Stelle, kulturelle Entwicklungen aber auch Vi­sionen und Utopien aktiv zu fördern und sämtliche Er­rungenschaften vor der Zer­störung zu sichern.

Artikel 4

Jeder kann sich entsprechend seiner Fähigkeiten, seiner Visionen, sei­ner Utopien verwirklichen, solange er die Grundwerte der menschli­chen Gemeinschaft respek­tiert.

Artikel 5

Die staatlichen Stellen und die Gemeinschaft insgesamt fördern nach­haltig den „Dritten Sektor“, d. h. die Entwicklung der Bürgergesell­schaft durch deren unei­gennütziges, ideelles Engagement, durch fi­nanziellen Einsatz und Arbeitskraft und durch Schaffung der gesetzli­chen Voraussetzungen.

Artikel 6

Staatliche Stellen schützen Kultureinrichtungen jeder Art, wobei die Freiheit der kulturellen Betätigung sowie Kunst und Kultur nicht am Geschmack oder der Ein­sicht von wenigen orientiert ist.

Artikel 7

Staatliche Stellen richten ein, bewahren und stellen der Allgemeinheit das ge­samte kulturelle Erbe zur Verfügung, damit deren Erfahrungen einschränkungslos wei­tergegeben werden können.

Artikel 8

Kulturelles Engagement erfährt keine Begrenzung und erstreckt sich in­folge dessen auf sämtliche Nationen, ethnische Gruppen, religiöse Zu­sammenschlüsse etc. dieser Welt. Soweit die kulturelle Betätigung sich im Rahmen des internationalen Kodex der Men­schenrechte bewegt, besteht bei Maßnahmen des Kulturtransfers stets freies Geleit.

Artikel 9

Sämtliche staatlichen Einrichtungen gewähren Wissens- und Bil­dungsfreiheit, wis­senschaftliche Freiheit wird ebenfalls umfassend gewährt im Rahmen der Festle­gung der Ethikkommission der Verein­ten Nationen. Die Grenzen sind dort zu ziehen, wo sich die menschli­che Gemeinschaft selbst experimentell gefährdet. Dem wissenschaftli­chen Forschungsdrang an sich sind insofern dort Grenzen ge­setzt, wo er menschenfeindlich ist.

Artikel 10

Intoleranz, Gewalt, Terrorismus, Verfolgung von Minderheiten etc. stehen im Wi­derspruch zu den Grundzügen dieser Verfassung und werden geächtet und abge­lehnt. Staatliche Stellen werden das Nötige tun, um dem entgegenzuwirken.

Artikel 11

Die Religionsausübung ist frei, soweit sie den Nächsten in der Ge­meinschaft in sei­ner Würde achtet.

Artikel 12

Es besteht umfassende Informations- und Bildungsfreiheit. Zensur je­der Art findet nicht statt.

Wäre eine derartige europäische Kulturverfassung bei Zeiten geschaffen worden, wären Entscheidungen, wie sie in Ungarn und auch in Polen getroffen werden, eher unwahrscheinlich.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Stadtbürger – Bürgerstadt

Etliche Städte waren früher nach meinem historischen Verständnis von einer starken und einflussreichen Bürgerschaft geprägt, denken wir zum Beispiel an Hamburg. Diese Bürgerschaft war nicht nur einflussreich, sondern sie war auch in der Stadt sichtbar, bestimmte nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern sorgte für eine gewisse, wenn auch nicht abschließende Kohärenz der Stadtgesellschaft. Und, wie sieht dies heute aus?

Nehmen wir zum Beispiel die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland: Berlin. Wo ist in dieser Stadt die Bürgerschaft verortet und welchen Einfluss hat sie auf die Gestaltung der Stadt und den Zusammenhalt der Menschen, die in dieser Stadt leben? Für Berlin ist diese Frage möglicherweise schon deshalb etwas schwierig zu beantworten, weil Berlin stark durch seine Bezirke geprägt ist und jeder dieser Bezirke schon traditionell eine unterschiedliche bürgerschaftliche Prägung in Bezug auf seine Urbanität aufweist. Berlin scheint sich hier von anderen Städten in Deutschland zu unterscheiden.

Und doch, wenn auch die Bürgerschaften in Berlin in der Vergangenheit bezirksnah konkurrierten, war jedem Bewohner die stolze Aussage geläufig: „Ick bin een Berliner!“ Hat sich dies, was sich Bürgerstolz nennen darf, gehalten? Ich bin da skeptisch. Ein Pariser bleibt weiterhin Pariser, ein New Yorker New Yorker, um von Rom, London und Madrid gar nicht erst zu sprechen. Wie verhält es sich nun mit Berlin?

Trotz der Nazis und auch des 2. Weltkriegs mit anschließender Teilung und Verlust von wirtschaftlicher und urbaner Bedeutung, konnte bis zur Wende Berlin den Nimbus des Besonderen ausstrahlen und dies sogar nach der Wende, als Hauptstadt aufgewertet, zumindest vorübergehend, noch verstärken. Die Erwartungen waren bei den Bewohnern Berlins groß, dass es gelingen möge, eine selbstbewusste Bürgergesellschaft in dieser Stadt zu erhalten und gar zu stärken. Ist dies gelungen? Und wenn nein, was könnten Gründe für das Scheitern sein?

Ich glaube, dass es viele Lieferanten für meine Skepsis gibt, die miteinander nicht konkurrieren, sondern sich ergänzen. Zum einen ist es die Übernahme Berlins durch die Bonner Politik. Berlin wurde neu als Hauptstadt auserkoren und nicht selbstverständlich aufgrund seines historischen Verständnisses als Hauptstadt anerkannt. Mit Berlin gab es keine politischen Schlachten mehr zu gewinnen, es wurde damit als Stadt politisch bedeutungslos und als wirtschaftlicher Kostgänger lästig. Es galt künftig als Gnade, in und für Berlin etwas zu tun und die Stadt bettelte um Beachtung. Dies durchaus erfolgreich bei jüngeren und älteren Menschen. Berlin war wohlfeil zu haben und im Bereich Kultur und Unterhaltung üppig ausgestattet.

Naheliegenderweise vollzog sich damit auch eine Transformation der Gesellschaft in dieser Stadt, der sich weder die Politik, die Wirtschaft, noch die Bürger entgegenstellen wollten oder konnten. Teilweise stolz, teilweise hilflos empfingen sie diejenigen, die ihr Rentenalter hier in Berlin verbringen wollten, als auch diejenigen, die Berlin als Sprungbrett ihrer Wirtschaftskariere planten. Man sprach jetzt Englisch als Hauptstadtsprache, knüpfte wirtschaftlichen Erfolg an Start-Ups, ließ junge Menschen bei der Übernahme von Straßen, Plätze und Parks für ihre nächtlichen Partys gewähren. Ist die Transformation einer Stadt in etwas anderes einmal eingeleitet, ist eine Schubumkehr kaum mehr möglich. Da vieles in dieser Stadt schon geduldet wurde, obwohl Gesetze, Verordnungen und Regeln eines rücksichtsvollen Zusammenlebens ständig verletzt wurden, scheint sich heute das Gefühl in dieser Stadt ausgebreitet zu haben, dass es besser sei, alles hinzunehmen, weil eine Änderung aussichtslos zu sein scheint. Diese Aussichtslosigkeit drückt sich vielfältig aus, angefangen vom Straßenverkehr bis zur Verwaltung. Nicht, dass der Wille nicht bestünde, etwas ändern zu wollen, aber keiner weiß in dieser Stadt mehr, wie dies zu bewerkstelligen sein könnte und ob es überhaupt noch sinnvoll sei, etwas zu tun.

Die Stadt selbst, die Verwaltung, aber auch viele Bürger, die hier leben, sind einfach von dieser Stadt überfordert. Auch, wenn sie infolge einer verständlichen opportunistischen Haltung noch mitmachen, innerlich haben sie sich bereits abgewandt und sehnen sich weg aus dieser Stadt. Es war einmal ihre Stadt gewesen. Heute ist sie im Griff derjenigen, die die Stadt nur noch als Kulisse für ihre Selbstdarstellung nutzen und denen die Bürger dieser Stadt und ihre Bedürfnisse fremd sind.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Verlust

Häufig passiert es wohl jedem Menschen, dass ein guter Gedanke, der gerade noch da war, plötzlich verschwindet. Er bleibt dennoch da, aber wo er ist, das wissen wir nicht. Irgendwo in unserem neuralen Netz wartet er darauf, dass er wiedergefunden wird und erneut zum Glühen kommt. Deshalb haben Menschen in der Vergangenheit Notizbücher bei sich gehabt, bei einem auftauchenden Gedanken innegehalten, ihn notiert, um ihn später wieder aufrufen zu können.

Sich auf die Präsenz aller Gedanken zu verlassen, ist waghalsig. Deshalb heißt es auch: „Wer schreibt, der bleibt.“ Mit einer Verschriftlichung unserer Gedanken gestalten wir die Facetten unserer Existenz. Nun ist heute das Schreiben nicht gänzlich aus der Mode gekommen, allerdings ersetzt die Tastatur weitgehend das Schreiben mit der Hand. Damit ist es möglich, einen Gedanken festzuhalten und ggf. auch mit anderen zu teilen.

Dies erfolgt heute in großer Häufigkeit. Zumindest junge Menschen verschicken unermüdlich ihre Gedanken – teilweise mit sogenannten Emojis und Bildern versehen – an andere Menschen, die zur gemeinsamen Chatgruppe gehören. In gleicher Flut erhalten sie von diesen deren Gedanken und Eindrücke, wobei es naheliegend ist, anzunehmen, dass sich hieraus ein Geflecht von Gedanken, einem neuralen Netz vergleichbar, bildet.

Ist der einzelne Gedanke dort wieder auffindbar, einer Reflexion zugänglich und bearbeitungsfähig oder geht er in der Flut aller Informationen verloren? Diese Gefahr besteht jedenfalls, wenn technische Möglichkeiten für stete Neuerungen sorgen und das Besondere an einem Gedanken überstrahlt. Jeder Nutzer eines Smartphones macht diese Erfahrung, dass er nach einiger Zeit unzählige Bilder geladen hat, aber überhaupt nicht mehr weiß, was er dort verwahrt.

Es ist das Smartphone selbst bzw. das auf ihm installierte Programm, welches ungefragt Bilder auswählt und diese dem Nutzer präsentiert. Könnte dies in Bälde auch mit unseren Gedanken geschehen, soweit sie auf dem Smartphone abgelegt sind? Welcher Anteil gehört von dieser Präsentation dann noch uns und welchen Anteil müssen wir der Allgemeinheit opfern?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Du

Uns inzwischen wohl vertraut, werden wir von Ikea mit Du angesprochen. Wir wissen natürlich, dass diese Form der Anrede in Schweden allgemein üblich ist. Für uns hier hingegen nicht. Es ist noch nicht lange her, da konnten sich selbst 15jährige Jungen und Mädchen darauf verlassen, dass sie der vertrauten Anrede mit „Du“ entwachsen und mit „Sie“ angesprochen werden. Das war auch ein Signal für ihre Aufnahme in die Welt der Erwachsenen, wobei für die Umgangsform untereinander das „Du“ weiterhin üblich war.

Nur einige Internate und Vorzeigeschulen fielen aus dem Rahmen. Die älteren Jugendlichen wurden von den Jüngeren ebenfalls mit „Sie“ adressiert. Inzwischen haben sich die Umgangsformen geändert, ohne, dass das „Sie“ gänzlich aus unserem Wortschatz verschwunden wäre.

Im öffentlichen Umgang ist die Anredeform „Sie“ unter Erwachsenen nach wie vor verbreitet, aber nicht ausschließlich. Es bringt wohl die Amerikanisierung unserer Sprache mit sich, dass auch Erwachsene sich zunehmend mit dem Vornamen anreden, es dabei zunächst bei dem „Sie“ belassen, aber bei einer sich bald bietenden Gelegenheit einer Abänderung ins vertraute „Du“ bevorzugen. Bei erwachsenen Jugendlichen, die der selben Generation angehören, dürfte das „Du“ überwiegen. Es ist bei ihnen auch die Ansprache, mit der sie üblicherweise Geschäfte machen, wenn sie nicht überhaupt auf den Gebrauch der deutschen Sprache verzichten und auf Englisch ihre Anliegen regeln. Obwohl dies natürlich nicht passt, wird dabei aus dem „You“ schnell ein „Du“.

Die Sprache des Umgangs und des Geschäfts bestimmt zudem die Werbung und veranlasst die Werbetreibenden, ihre Kunden generell nur noch mit einem anonymen „Du“ anzusprechen. Der Sog dieser Vereinfachung ist so mächtig, dass er inzwischen sämtliche Kommunikationsbereiche erfasst hat.

Ob Formulare oder Internetauskünfte, stets muss ich mich darauf einstellen, dass jemand, den ich überhaupt nicht kenne, ein vertrautes „Du“ in seiner Ansprache wählt. Weder kann ich mich dagegen wehren, noch dieser Vereinnahmung ein respekterwartendes „Sie“ entgegensetzen. Das „Du“ hat die Welt erobert und gestaltet mein Leben ungefragt. Es verschafft mir aber das Gefühl einer grenzenlosen Dazugehörigkeit.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Geistesblitz

Seit 2013 schreibe ich Beiträge für einen Blog, der von Frau Jette Klame mit ihrem Unternehmen administriert wird und in dem etwa 3 Veröffentlichungen zu unterschiedlichen Themen monatlich erscheinen. Trotz einer Reichweite weltweit, eines offenbaren Interesses, welches an den Klickzahlen und an der Verweildauer festzumachen ist, habe ich schon oft darüber nachgedacht, die Veröffentlichungen wieder einzustellen, weil sie keinen Diskurs mit den Lesern erlauben.

Natürlich habe ich ziemlich früh angeregt, eine Kommentierung meiner Beiträge zuzulassen, aber auf Rat erfahrener Freunde davon abgesehen, weil die Befürchtung bestände, dass statt eines Dialogs und inhaltlicher Auseinandersetzung ich auch mit persönlichen Angriffen rechnen müsste. Eine solche Erwartung habe ich natürlich überhaupt nicht, aber leider weist die Erfahrung von Menschen, die Kommentierungen zulassen, in diese Richtung.

Schade, denn so bin ich bis auf den Austausch mit Freunden, die meine Blogbeiträge lesen, nur im Zwiegespräch mit mir. In diesem Gespräch muss ich klären, worüber ich schreiben möchte und was mögliche Leser interessieren könnte. Ich versuche, empfängerorientiert die Themen zu wählen, wobei natürlich persönliche Begegnungen oder auch die Auseinandersetzung mit Erfahrenem und Gelesenem meine Auswahl prägen. Ich mache mir Notizen, aber selten ´schreibe´ ich kurze Texte, denn alle meine Beiträge werden von mir diktiert und dann vom Diktat in den Text übertragen. Das hat Vorteile, denn das Diktat ist näher am Dialog.

Ich spreche also, wenn ich schreibe. Vieles entwickelt sich erst während des Diktats und bezieht dabei auch meine jeweilige Stimmung mit ein. Allerdings wird jeder Text anschließend kritisch bearbeitet und nach Möglichkeit auf Fehler hin überprüft. Dennoch ist es nicht zu vermeiden, dass ich nicht nur mit meinen Ansichten danebenliege, sondern mich auch sprachlich und grammatikalisch vertue. Jeder, der schreibt, geht ein Risiko ein, so unbekümmert die Texte zuweilen erscheinen mögen, Geistesblitze sind eher selten dabei.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Befreiung

Das Leben ist eine ungeplante Last für jeden Menschen. Stets ist er daher auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich von dieser zu befreien, ohne sich zu beschädigen oder gar zu eliminieren. Da ihm materielle und ideelle Vorteile dies zu versprechen scheinen, arbeitet er unentwegt an entsprechenden Konstruktionen.

Dabei erfährt er permanente Unterstützung derjenigen, die ihrerseits meinen, dass sich dies für sie vorteilhaft auswirken wird. Es sind die sich den Menschen bietenden Gewinnmöglichkeiten, gepaart mit Verlustängsten, die das erfolgversprechende Lebensmuster prägen.

So versucht der Mensch alle sich ihm bietenden Möglichkeiten auf eine Weise zu manipulieren, dass sie ihm stets günstig erscheinen. Für die Menschen ist es schwer zu entscheiden, was ihn einsichtig machen, von dem „Geworfensein“ ins Leben befreien könnte. Daher bleibt er in den angestammten Lebensmustern und wünscht sich seine Befreiung – zumindest virtuell, wenn dies gelingen sollte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Renaissance

Gerade lese ich ein äußerst spannendes Buch darüber, wie die Renaissance begann. Mit Verblüffung und Wehmut stelle ich bei der Lektüre fest, wie verschüttet für mich als Leser diese Zeit ist. Dies auch für den Protagonisten des Buches, einen Vatikanmitarbeiter, dem die griechisch-römische Vergangenheit der Menschheit und deren kulturelle Vielfältigkeiten und Erkenntnisse aufregend neu erschienen sind.

Auch, wenn Lukrezens Schrift vom „Wesen der Natur“, der Initialzündung der Renaissance, spätestens seit ihrer Wiederentdeckung nicht mehr unbekannt war, so erfahre auch ich immer wieder, dass zwar unsere Alltäglichkeit begrifflich von Gewesenem geprägt ist, aber die meisten Menschen den umfassenden Nutzen der Bildung nicht mehr vergegenwärtigen wollen oder können.

All das, was vor 500 Jahren entdeckt oder wieder entdeckt und vor 2.000 Jahren auf Pergamentrollen geschrieben wurde, was niedergelegt war in Briefen und aus Reden überliefert wurde, ganze Bibliotheken von Alexandria bis Athen füllte, Lesestoff in Schulen und Gesprächsstoff für hitzige Auseinandersetzungen sorgte, später in unendlicher Klein- und Feinarbeit von Mönchen kopiert wurde, damit uns Überlieferungen erhalten bleiben, ist heute profan abgelegt bei Wikipedia und allenfalls Kenntnisstoff im althumanistischen und altsprachlichen Unterricht.

Was wir im Internet nun abrufen können, scheint mir an Erkenntnis verloren zu haben. Ich stelle mir die Frage, was wir tun könnten, um die Vergangenheit, ihre Kulturen, ihre Lebensanregungen wieder umfassend für unsere Zeit erlebbar zu machen. Ich stelle mir vor, dass es möglich sein könnte, dass wir uns statt zu Podiumsdiskussionen in Gesprächskreisen treffen und uns austauschen über Dinge, die nicht offensichtlich sind, über Gedichte, Literatur und natürlich auch über Anregungen aus fernen griechisch/römischen Zeiten.

Ich weiß schon, dass dies vereinzelt geschieht, aber Schulen heute kaum noch Anregungen in dieser Richtung vermitteln. Wenn der Mensch aber nicht umfassend geübt ist, dann verliert er schnell die Fähigkeit, mit seinen Möglichkeiten intelligent umzugehen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Farbenspiele

In letzter Zeit lese ich viel über Persons, People, sogar über Jugendliche, Studierende, Touristen und überhaupt Menschen „of Colour“. Einmal abgesehen davon, dass ich ohnehin jede Amerikanisierung unserer Sprache als unnütz und irreführend empfinde, weil Sprache generell Botschaften aus unterschiedlichen Kulturbereichen vermittelt, erlebe ich zudem ein großes Störgefühl dadurch, dass ich die verballhornten Aussagen über andere Menschen ein Wegstehlen aus der Verantwortung und letztlich als eine Form der nur konsensmodulierten Form der Diskriminierung begreife.

Heute würden wir doch nur noch schwerlich wagen, statt Colour die Adjektive „farbig“ oder „bunt“ für andere Menschen zu nutzen. Solche Zuschreibungen würden die Verwender diskreditieren, so dass sie es vorziehen, die Flucht in die englische Sprache zu wagen, um sich abzusichern. Wäre es aber nicht sinnvoll, überhaupt auf pigmentbestimmte Unterscheidungskriterien zu verzichten, zumal derartige Abstufungen zum Beispiel bei Weißhäutigen in der öffentlichen Diskussion wohl kaum erfolgt, es sei denn, man käme auf die Kategorisierungen „Blondine“ oder „weißer alter Mann“ zu sprechen, um diese Gruppierungen zu disqualifizieren oder lächerlich zu machen.

Um Stigmatisierungen durch Äußerungen zu vermeiden, so wohlmeinend sie auch in fremder Sprache klingen mögen, ist eine Aneignung des Anderen in seinem Aussehen, seiner Kultur, seiner Sprache und seines Verhaltens erforderlich, denn nur so kann ich erfahren, teilen und mich selbst so ebenbürtig begreifen, wie ich jeden anderen Menschen auch wahrnehmen sollte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski