Den Versuch will ich machen, das Selbstverstehen des Menschen anzureißen, welches sich nicht durch die Übernahme philosophischer oder religiöser Ansichten Anderer formt, sondern durch Nachdenken und Nachempfinden der eigenen emotionalen und rationalen Verfassung. Dieser Herausforderung kann nur in dem Bewusstsein entsprochen werden, dass der Mensch an sich alle Eigenschaften aufspürt, die ihm diese Wahrnehmung ermöglichen. Der Mensch ist Teil der mechanischen Natur und ergänzt doch Verstand und Gefühle. Jede Selbsterfahrungsmöglichkeit des Menschen ist inspiriert durch seine Gene und geformt durch Bildung, Herkunft und Intuition. Aber erst das brennende Verlangen, sich selbst zu fokussieren und daraus Erkenntnisse zu schöpfen, vermag dem Bedürfnis Ausdruck zu verleihen, hinter die Maske des Offensichtlichen zu schauen.
Das Offensichtliche am Menschen ist schnell erklärt und könnte dennoch auf Hunderten von Seiten facettenreich ausgebreitet werden. Die Erkenntnis würde es kaum befördern, denn wir alle wissen um das Offensichtliche, weil wir es täglich beschreiben. Aber auch dieses Offensichtliche hat Teil an der Erkenntnis durch den Zustand des Verbergens. Das Nichtsehenkönnen ist das eine sehr nahe liegende Problem, das sich Nichtoffenbaren ein weiteres, das wir schwer begreifen, noch weniger verarbeiten können, das uns aber immer gegenwärtig ist.
Einmal als ich durch das Riesengebirge wanderte kam mir in den Sinn, dass, wenn ich jetzt Rübezahl rufen und er antworteten würde, plötzlich nicht nur dieses Märchen, sondern alle Märchen wahr würden. Ein einziger solcher Hinweis würde genügen, um das ganze Mysterium zu bestätigen, welches seit Menschengedenken um seine Anerkennung kämpft. Obwohl sich alles in der Natur so darbot, wie in den Märchen beschrieben stand, zeigte sich Rübezahl nicht. Dennoch verließ ich am Abend inspiriert den Wald, mehr denn je überzeugt, dass es Rübezahl gibt. Es gilt, etwas zu erkennen, das wir nicht benennen können, was sich unserer offensichtlichen Erkenntnis verschließt, weil wir es aufgrund eigens geschaffener Blindheit nicht sehen wollen und weil es uns nicht zu rufen scheint.
Dieses Nichtbenennenkönnen ist so etwas wie ein Labyrinth oder auch eine Matrix, die alles birgt, aber anscheinend nichts aufzuweisen hat, erst von uns geprägt werden muss. Vielleicht ist das Bild anschaulicher von einer fri- schen Schneelandschaft und den ersten Spuren darin, die aber, sobald sie getreten sind, einschmelzen oder übertreten werden durch andere Spuren und damit ihre Konturen verlieren. Die fehlende Ausdifferenzierung der Werkzeuge unserer Erkenntnis macht es schwer, ein gleichzeitig umfassendes, aber auch spezifisches Verständnis unseres Ichs zu finden, den Menschen als Teil der Natur, als vernunftbegabtes aber auch durch seine Seele inspiriertes Wesen wahrzunehmen. Teilweise sind die Ansichten über uns selbst verankerbar, teilweise Behauptungen, die einem vorausbestätigten Selbstverständnis entspringen, sich an Hoffnungen klammern und sich über Zuversicht und Glauben absichern. Beweise. Zum Beispiel, der eine sagt, dass Gott nicht beweisbar sei und folglich der Mensch als Teil dieser entwickelten Natur, logisch und emotional geprägt durch die Synapsen seines Hirns, ungebändigt und selbstbestimmt durch die Zivilisation eile. Die Anderen meinen, dass diese profane Sichtweise nicht gilt, solange der Beweis nicht geführt wurde, dass es Gott nicht gibt. Der Glaube müsse sich nicht beweisen, deshalb bliebe die Pattsituation erhalten. So werden aber keine Erkenntnisse gefördert, sondern wohlbegründete oder gar dürftige Meinungen nur bekräftigt. Zumindest empirisch ist dagegen bedeutsam, dass viele Menschen zu spüren scheinen, dass mehr in ihnen ist und um sie herum, als sie ohne Weiteres durch ihre Sinne erfahren kön- nen. Dieses Gespür entspringt den schon immer in den Menschen im- plantierten Erinnerungen an das Vorhandene oder einer nicht erfüllten Erwartung, eine Suche nach der Vervollständigung seiner Existenz. Der Mensch verfügt über disparate Ichs. Eines strebt immer nach seiner weltlichen Vervollkommnung und beherbergt das materielle Ich, das geistige und das emotionale Ich. Das andere, das unvollendete Ich befindet sich in einem fortwährenden Entwicklungsstadium, signalisiert Unvollkommenheit und vermittelt die Eindrücke der allumfassenden Ich-Last. Das unvollkommene Ich wird als Belastung empfunden und, wenn nicht gar abgekop- pelt, so doch – um dieses Bild zu bemühen – vor die Türe gestellt. Das unvollendete Ich kann nicht nur mit menschlichen Attributen wie Neugier, Schutzbedürftigkeit, Beeindruckbarkeit beschrieben werden, sondern auch als vorgeprägt, belastet, erschreckt und ungeheuerlich. Würden wir uns für einen Moment der gesamten Last unseres unvollendeten Ichs bewusst, könnten wir so, wie wir dies tun in dieser Welt, nicht mehr leben. Aber wir tragen diese Bürde des unvollendeten Ichs wie jene alte Frau in dem Märchen des Rübezahl in dem Wissen, dass jederzeit etwas hinter dem Felsen hervortreten und uns die Augen öffnen kann. Das Andere ist also Teil von uns, ob wir es beweisen können oder nicht, ob wir es anerkennen oder nicht, ob wir glauben oder nicht, denn dieser Teil unseres Ichs ist nicht abhängig von unserer Anerkenntnis und unserem Glauben daran. Würde es nicht sein, würde es sich uns nicht zeigen. Ist es aber, bleiben wir gespannt auf die nächste Entscheidung und arbeiten weiter an unserer Erkenntnis.
Eine Gegenprobe wollen wir verlangen. Es gilt, dass es das unvollendete Ich nicht gibt. Gäbe es nichts, wonach der Mensch strebte, so wäre alles, was ihn ausmacht, in einem Augenblick der Erkenntnis gefangen. Diese Erkenntnis würde ihm eine lückenlose Übersicht über seine biologischen, geistigen und emotionalen Daten verschaffen. In diesem Augenblick der völligen Übersicht hätte sich der Mensch selbst überwunden. Sein Höhe- punkt wäre erreicht. Der Mensch müsste erlöschen. Die bloße Reproduktion des schon immer Gewesenen benötigte kein Gedächtnis und schon gar keine Entwürfe von Neuem.
An der vollendeten Erkenntnis würde der Mensch verbrennen. Er kann sich aber methodisch einem Selbstverstehen nähern. Methode bedeutet, sich zu öffnen gegenüber allen Möglichkeiten der Spiritualität als auch deren Verneinung. Der Mensch kann sich auf keine Seite schlagen und trotzig verkünden, dass es so sei, sondern der Mensch, der das Selbstverständnis sucht, befindet sich in einer ständigen Meditation und muss alle Ressourcen nutzen, um mehr über sich zu erfahren, und ist dabei stets erwartungsfroh. Dass der Mensch ein Zeichen erhält, ist nie ausgeschlossen, selbst dann nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist, dass er es sofort bemerkt.
Es folgen nun Einzelbetrachtungen, die sich irgendwie zum Ganzen formen, also Selbstverständnisse bilden.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski