Archiv für den Monat: Februar 2013

Doppelmoral

Der frühere Berliner Finanzsenator ist aus mehreren Gründen bekannt: zum einen, weil er sich als Steuereintreiber und Sparkommissar hervorgetan hat („Wir kriegen euch alle!“), zum anderen auch deshalb, weil er als vorbildlicher Erzieher Hartz-IV-Empfänger ermahnte („Wenn ihr im Winter friert, müsst ihr euch eben mehrere Pullover anziehen“). Was den erstaunten Zuhörern, ggf. auch Bewunderern des Finanzsenators bisher verborgen geblieben ist, ist, dass seine beiden extremen Positionen sich im Raum schneiden. Eine Betrachtung soll dies verdeutlichen:

Herr Sarrazin tat sich dadurch hervor, dass er kurz nach seinem Amtsantritt kategorisch die Subventionen des sozialen Wohnungsbaus beschnitt und der zugesagten Anschlussförderung eine Abfuhr erteilte. Sämtliche Klagen der betroffenen Wohnungsbaugesellschaften blieben erfolglos. Für die Nöte dieser Gesellschaften und ihrer Anleger, meist Personen, die durch ihre Beteiligungen an Immobilienfonds eine Alterssicherung aufbauen wollten, hatte er kein Ohr. Er verschloss sich auch der Erkenntnis, dass der Ausstieg aus der Anschlussförderung das Land Berlin letztlich mehr Geld kosten werde als deren Beibehaltung. Die betroffenen Gesellschaften und die Anleger argumentierten bis zum Bundesverwaltungsgericht juristisch mit Vorhaltungen wie „Wortbruch der öffentlichen Hand“, „Verletzung erteilter Zusagen“ etc. In der ganzen Diskussion ist allerdings ein Argument noch nicht Sprache gekommen, und zwar der Schaden, den die Stadt Berlin durch die Eigenmächtigkeiten des Finanzsenators bei den Mietern angerichtet hat.

Wohnungsbauförderung und staatlich garantierte Mieten locken nämlich nicht in erster Linie Investitionshaie an, die glauben, große Renditen im Wohnungsmarkt zu erwirtschaften, sondern sie sorgen dafür, dass unsere Städte im sozialen Bestand erhalten und ausgebaut werden können. Kreuzberg ist hierfür ein Paradebeispiel. Aber nicht nur Kreuzberg, sondern jeder Bezirk Berlins hat ähnliche Erfahrungen mit Neubau- und Altbausanierungen gemacht. Und jetzt? Die Mieten steigen. Mietneubauten zu vernünftigen Preisen werden nicht mehr errichtet. Die Altbausanierung fällt flach. Damit verstärkt sich das gesellschaftliche Ungleichgewicht und gewinnt die soziale Verelendung nicht nur von Menschen, sondern von ganzen Stadtbezirken an Gestalt. Unerkennbar für die Öffentlichkeit waren aus Sarrazins Aladin-Flaschen beide Geister entwichen: Einsparen von Leistungen auf Kosten der Investoren einerseits und auf Kosten der Sozialhilfeempfänger andererseits. Diese Geister wieder in die Flasche zurück zu locken, wird kaum möglich sein. Derjenige, der den Pfropfen selbstherrlich aus der Flasche gezogen hat, hat sich bekanntlich inzwischen aus dem Staub gemacht. Vielleicht wurde er auch verjagt. Verantwortlich ist jedenfalls keiner mehr. Die Zeche zahlen wir aber alle.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Unglaubliche Geschichten

Neulich erzählte mir ein Freund eine unglaubliche Geschichte:

Stell dir vor, du bist seit 35 Jahren Kunde einer Bank. Du hast beruflich bedingt dieser Bank im Laufe deiner Berufsjahre Millionen an Geldern anvertraut. Für die Bank ein sehr lukratives Geschäft, denn sie konnte dieses Geld anderen Banken wieder mit erheblichem Aufschlag verleihen. Selbstverständlich hat dir die Bank auch Kredite gegeben. Diese hast du auch stets auf Heller und Pfennig zurückgezahlt. Niemals bist du der Bank irgendetwas schuldig geblieben. Natürlich kennst du den Vorstand der Bank, verkehrst mit ihm auf gesellschaftlicher Ebene und früher machten die Filialleiter bei dir Aufwartungsbesuche.

Und heute?

Ja, stell dir einmal vor, der Kunde wollte bei der Bank seinen Überziehungskredit verlängern. Es hatte sich für ihn aber eine entscheidende Veränderung ergeben, und zwar die Finanzkrise! Seine Bank wie die anderen Banken waren ins Schlingern geraten, weil sie enorme Renditen erwirtschaften wollten durch ungesicherte Bankkredite im Ausland und Derivategeschäfte.

Und der Kunde?

Der Kunde hat niemals in seinem Leben eine Aktie besessen. Er ist stets gewissenhaft seinen Geschäften nachgegangen, solide, immer ansprechbar und anderen Menschen zugewandt. Ich habe gehört, dass er sich in seiner Freizeit statt Golf oder Tennis zu spielen oder sonstigen Vergnügungen nachzugehen fast ausschließlich um gemeinnützige Projekte kümmert. Auch hat er Familie und Kinder, für die er überwiegend noch finanziell zu sorgen hat.

Aber wo ist da das Problem?

Ja, dieser Mensch will seinen Überziehungskredit verlängern. Man sagt ihm aber seitens der Bank, das gehe nicht mehr, da er die „Punktzahl“ überschritten habe.

Welche Punktzahl?

Ja, die Banken machen neuerdings für ihre Kunden Punkte und für jeden negativen Aspekt gibt es ebensolche.

Und das wären welche Aspekte?

Zunächst das Alter des Kunden. Er ist schon über 60 Jahre alt.

Aber das ist doch kein Argument. Unsere Gesellschaft wird doch insgesamt älter.

Dann die Anzahl der unterhaltspflichtigen Kinder. Schließlich hat sich sein Umsatz gegenüber dem Vorjahr halbiert. Er wird in diesem Jahr wohl keine großen Gewinne mehr machen.

Aber ist er der Bank etwas schuldig geblieben?

Nein, überhaupt nicht. Bisher hat er alles bezahlt und bei seinen Kunden erhebliche Außenstände, die – wenn sie bezahlt würden – den Umsatz des Vorjahres wieder wett machen würden.

Aber warum zahlen denn dann die Kunden nicht?

Ja, da fragst du mich aber Sachen. Wahrscheinlich können sie nicht bezahlen, weil ihnen die Bank keinen Kredit mehr gibt. Vielleicht wird sich das Verhalten der Banken jetzt auf die gesamte Wirtschaft niederschlagen und den ganzen Warenverkehr und Geldtransfer blockieren. Wer weiß das schon?

Und wie sieht der Kunde das?

Ja, der ist sehr enttäuscht, überlegt, seine Zusammenarbeit mit der Bank einzustellen und wird wohl auch künftig keine Geldgeschäfte mehr über diese Bank abwickeln. Damit entgehen der Bank nicht nur die Einnahmen dieses Kunden, sondern wenn alle Kunden dies machten, würde die Bank eigentlich überflüssig. Sie kann ja aber mit dem Geld, welches ihr der Staat liefert, fortfahren, auf den Finanzmärkten zu spekulieren. Der Kunde wird, wenn ihm nicht eine andere Lösung gelingt, wahrscheinlich seinen Beruf aufgeben. In der Vergangenheit hat er immer pünktlich, zeitnah und im oberen Bereich Steuern bezahlt. Das fällt jetzt flach. Vermögensreserven sind nicht vorhanden. Er und seine Familie werden Sozialfälle. Wie das mit der Ausbildung der Kinder weitergeht, kann kein Mensch sagen. Seine gemeinnützige Tätigkeit muss dieser Kunde einstellen, vielleicht wird er auch krank. Sarkastisch könnte man sagen: die Gesellschaft kann ihm und seiner Familie jetzt das zurückgeben, was er bisher der Gesellschaft und dem Staat gegeben hat. Ob viel dabei rauskommt? Was meinst Du?

Und was ist mit den Verantwortlichen bei der Bank? Wissen sie von diesen Konsequenzen ihres Punktesystems?

Nein, das glaube ich nicht. Das Raffinierte an diesem Punktesystem ist ja, dass es objektiv daherkommt. Der Bankmitarbeiter sagt: „Das tut mir aber leid, aber sehen Sie, ich kann da überhaupt nichts machen. Es sind mir die Hände gebunden. Sie können in Ihrem Leben alles richtig gemacht haben, Sie sind sogar beliebt und anerkannt und haben anderen viel gegeben. Das spielt leider keine Rolle. Es gibt hier dieses Punktesystem und nach diesen Kriterien darf ich Ihnen den Überziehungskredit nicht verlängern. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nichts für Sie tun. Die Daten werden in eine Maschine eingegeben und das Ergebnis können wir selbst nicht mehr korrigieren. Nochmals: Uns sind leider die Hände gebunden. Sie waren uns immer ein guter Kunde und Partner. Schade, dass Sie keine Geschäfte mehr mit uns machen wollen, aber sollten Sie wieder Geld haben, können Sie es uns gerne bringen. Ihre Konten können wir auf der Guthabenbasis führen. Das bringt Ihnen zwar wenig Zinsen aber Sie müssen dann auch nicht mehr 11,5 % Überziehungszinsen bezahlen. Eigentlich sollten Sie doch froh sein.“

Was wird aus solchen Bankmitarbeitern?

Wenn sie anfangen, am System zu zweifeln, werden sie verzweifeln, nicht mehr sicher sein, ob das Menschliche verlässlich ist.

Wie meinst du das?

Naja, sie wurden eben dazu gezwungen, in systemischen Beurteilungsräumen zu leben, und um keine Brüche zu erfahren, müssen sie ihre Familie, ihre Freunde, überhaupt das ganze Leben systemisch überdenken. Diejenigen, die nichts mehr bringen, die kein Geld haben und gesellschaftlich nicht relevant sind, überschreiten die erlaubte Punktzahl. Von denen muss man sich trennen, so leid es einem auch sein mag. Aber es ist vor allem wichtig, sich davor zu schützen, vor diesem Verständnis, diesem Mitleid und dieser Menschlichkeit. Sonst kann man vielleicht nicht mehr mitmachen, wird versucht sein, etwas zu ändern, um nicht angesteckt zu werden von der Vereinsamung und der Ausschließung anderer Menschen. Erst neulich habe ich gelesen, dass solches Verhalten ansteckend wirkt. Selbst ein ganzes Volk kann von der Krankheit der Ausgrenzung anderer Menschen befallen werden. Nicht nur der Ausgegrenzte, sondern auch diejenigen, die ihn ausgeschlossen haben, werden krank. Was für eine Perspektive angesichts eines kleinen Überziehungskredites!

Ja, aber es geht nicht nur um Überziehungskredite, sondern es geht um den einzelnen Menschen, seine Bereitschaft, verantwortlich zu handeln, und darum, Systeme abzuschaffen, die unmenschlich und volkswirtschaftlich schädlich sind.

Können wir das?

Ja, natürlich: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Und wenn der Bankmitarbeiter selbst kein Geld mehr erhält, arbeitslos ist? Wer hilft ihm, wenn er auf die Hilfe anderer angewiesen ist? Das System? Die Maschine? Und was ist, wenn er nicht genug Punkte hat oder zu viele?

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich als Kind gehört habe. „Der Vater war alt geworden. Bei Tisch zerbrach ihm zuweilen der Teller, weil er ihn nicht mehr halten konnte und ihn auf den Boden fallen ließ. Auch schwappte die Suppe über und lief auf den Tisch. Sohn und Schwiegertochter verbannten den Alten an einen Katzentisch und gaben ihm eine Schale aus Holz für seine Suppe. Tags darauf sahen sie ihrem Sohn zu, wie er etwas schnitzte. Sie fragten ihn neugierig: ‚Was machst du da?‘ Er antwortete ihnen: ‚Ich schnitze einen Teller für die Zeit, wenn ihr alt seid.‘ Noch am selben Tage nahm der Alte wieder seinen Platz am Familientisch ein und aß seine Suppe künftig aus einem Porzellanteller.“

Dem Kunden, von dem ich dir berichte, geht es um die Verlängerung seines Überziehungskredites. Das mag ja für viele überhaupt nicht interessant sein, weil sie solche Probleme nicht kennen. Aber das eine Mal geht es um Überziehungskredite, das andere Mal um körperliche Hilfe oder seelischen Beistand. Kriterien nicht erfüllt. Punkte nicht erworben. Keine Chance. Vielleicht hat der Herr aller Dinge auch ein derartiges Punktesystem, eine Maschine, die alles richtet. Er muss es haben, denn bei der Vielzahl an Menschen und Geschöpfen kann es Zwischenmenschliches oder Barmherziges zwischen Gott und Menschen nicht mehr geben. Es muss ein Punktesystem sein. Eine Maschine, deren Ergebnisse selbst der Himmel nicht mehr korrigieren kann. Dabei habe ich einmal gedacht, das Leben sei eine wunderbare, lange Veranstaltung, die dem Menschen Gelegenheit gibt, sich auszubilden, als Mensch zu bewerten, was wesentlich ist oder nicht, Fehler zu korrigieren, nicht auf Sicherheit zu setzen, sondern auf Risiko, Wagnisse einzugehen und sich für andere Menschen und ihre Probleme zu öffnen. Ach weißt du, alles Geschwätz. Statistisch irrelevant. Genormt. Gestanzt. Gefaltet. Hauptsache Punkte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski