Archiv für den Monat: Juni 2013

Geld

Geld mache nicht glücklich, so heißt es im Volksmund. Aber wenn das so ist, warum wollen fast alle Menschen Geld haben? Mit Geld erkaufe man sich Freiheit, behaupten die einen. Die anderen verweisen auf den Aspekt der Unabhängigkeit, nichts mehr mit der Last des Alltags tun zu haben müssen. Die Last des Geldes? Eher die Last des Gelderwerbs. Viele Menschen auf dieser Welt schuften bis zur körperlichen Erschöpfung und erhalten gerade so viel Geld, um sich das Nötigste zum Überleben kaufen zu können. Andere schwimmen im Geld. Dabei ist auch von ihrem „Verdienst“, sogar in Millionenhöhe, die Rede. Der Aspekt des Dienens ist dabei allerdings nicht erkennbar. Bei den Armen heißt erworbenes Geld daher auch nicht Verdienst, sondern allenfalls Lohn. Eine Art Geschenk des Dienstherrn. Mit Geld werden gesellschaftliche Rituale belebt. Nicht nur, dass Geld stofflich nichts bedeutet, sondern Geld verkörpert auch an sich keinen Wert. Entscheidend ist der jeweilige Aspekt der Betrachtung, die Legitimität seiner Wertigkeit. Der genügsame Mensch, der genug Geld hat, um von anderen unabhängig zu sein, wähnt sich reich. Der Reiche, der tagaus tagein um den Verlust seines Reichtums zittert, wähnt sich bereits arm zu einem Zeitpunkt, zu dem er es noch nicht ist. Sein Misstrauen hat das Geld bereits entzaubert. Es ist ihm schon eine wahre Last, darauf aufpassen zu müssen. Zum Gelde zieht’s. Zum Gelde strebt’s. Tausendjährige Menschheitsgeschichte vermag daran nichts zu ändern. Nicht mehr der Alchemist, sondern wir versuchen, aus nichts Geld zu machen. Wir hoffen, dass die anderen uns versprechen, das Produkt unserer Fantasie zu achten. Gäben wir das Geld der Lächerlichkeit preis, schon wäre es verschwunden.

Aber das ist nicht alles. Geld ist auch die „Lingua franca“ der Welt. Auch wenn sich Esperanto nicht durchgesetzt hat und wir alle unterschiedliche Sprachen sprechen, Geld und die mit dem Handel verbundenen Handbewegungen versteht jeder. Geld ist das herausragende Kommunikationsmittel und damit wirkungsmächtig. Geld hat mit Ziffern und Zahlen zu tun. In Ziffern und Zahlen vollzieht sich unser ganzer Lebensrhythmus, vom pulsierenden Computer bis zum Herzen. Alles im Takt. Meist auch im Takt des Geldes. So ist Geld auch ein Teil von uns. Es zu verlieren, setzte uns selbst aufs Spiel. Wagen wir aber etwas, verdoppeln wir die Einsätze, dann gewinnen wir noch weit höher. Vielleicht ausnahmsweise einmal nicht Geld.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Staatsabgaben

Unter Staatsabgaben verstehe ich die Verpflichtung des Bürgers, einen Beitrag dafür zu leisten, dass der Staat funktioniert. Neulich besuchte mich ein Mandant und bat um Hilfe. Sein Anliegen war nicht ungewöhnlich. Er ist selbstständig, hatte stets im obersten Bereich der Verpflichtungsskala Steuern gezahlt, musste aber aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise in unserem Lande mit der Arbeit kürzer treten. Aufträge, mit denen er fest gerechnet hatte, blieben aus. Die Zahlungsmoral seiner Kunden ließ ebenfalls zu wünschen übrig. Was blieb, war eine Steuerlast aus vergangener Zeit, die es zu tilgen galt. Über die Höhe der Verpflichtungen, aber auch den Grund der Inanspruchnahme kam es zu keinerlei Differenzen mit dem Finanzamt. Nach den geltenden Gesetzen war der Anspruch der Finanzbehörde gerechtfertigt, nur aus den vorhandenen Einnahmen nicht zu erbringen.

Mein Mandant verfügte über keinerlei Vermögen, nachweisbar hatte er jedes verfügbare Einkommen in die Regulierung von Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seiner geschiedenen Frau, die einkommenslos war, und die Sicherung der Ausbildung der Kinder gesteckt. Sein Motto war immer, dass die Unterstützung der Familie das Wichtigste sei. Weit hergeholt war dies nicht, denn wie sonst sollen die Leistungsträger von morgen denn anders auch geschaffen werden? Nichts von dem ganzen Erziehungsaufwand war indes steuerlich abzugsfähig. Es blieb bei einem Teil der Steuerlast, der jetzt aus finanziellen Mitteln nicht mehr zu bewältigen war. Aus systemischen Gründen erhielt er übrigens auch keinen Kredit. Er hätte auch nicht gewusst, wie er diesen wieder hätte zurückzahlen können. Also blieb nur die Insolvenz. Anstelle der Fortführung des Geschäfts und der Unterhaltssicherung der Familie: Hartz IV. Auf meine Nachfrage, ob er denn wirklich kein Geld habe, denn in unserer Gesellschaft kein Geld zu haben, sei ja ein Unding an sich, versicherte mir mein Mandant, da sei wirklich nichts zu holen. Er habe auch schon einen Vollstreckungsschutzantrag gegenüber dem Finanzamt ab- und detailliert Auskunft gegeben über sämtliche pfändbaren Gegenstände einschließlich seines Bargeldbestandes, der sich auf derzeit 349,50 Euro belaufe.

Aber, so erklärte mir mein Mandant mit einer gewissen Genugtuung, er verfüge doch über erhebliche Fähigkeiten. Er habe sich in der Vergangenheit gemeinnützig engagiert, insbesondere auf dem Bildungssektor für die Ausbildung von Hauptschülern, Vermittlung von Studenten ins Ausland bis hin zur Renovierung von Kindergärten und Schulen zusammen mit seinen Mitarbeitern, Lehrern und Eltern. Er könne doch, so lautete der Vorschlag meines Mandanten, statt Geld dem Finanzamt seine persönliche Leistung anbieten. Er sei ein geschickter Verhandler, er könne sein gemeinnütziges Engagement von derzeit vielleicht 30 % auf 60 % steigern. Er könne in seiner Freizeit als Pfleger in einem Krankenhaus arbeiten und vielleicht sogar das Finanzamt renovieren. Im Übrigen falle es ihm sicher leicht, Formulare zu entwerfen und Briefe zu schreiben. Er habe inzwischen an so vielen Podiumsdiskussionen teilgenommen, Reden gehört und Reden verfasst, dass auch dort ein Kompetenzschwerpunkt liegen könne. Kurzum: Ob ich es nicht für möglich erachte, dass wir dem Finanzamt statt des Geldes einfach ihn und seine Leistungsfähigkeit anbieten, denn schließlich sei Geld auch nichts anderes als geronnene Arbeit. Aus dem Tauschhandel sei ohnehin alles abzuleiten und Geld würde diesen Tausch im Prinzip nur erleichtern. Wenn aber kein Geld da sei, bliebe doch noch immer die verrichtbare Leistung. Das klang verblüffend, aber auch sehr überzeugend. Doch was, so gab ich zu bedenken, wenn der Staat seine Leistung gar nicht wolle, sondern Geld vorziehe, um selbst zu entscheiden, was er zu tun gedenke? Ja ja, warf mein Mandant da ein, das verstehe er gut. Er selbst hätte ja auch gerne Geld von seinen Kunden und es wäre sicher auch alles einfacher, wenn alle alle bezahlen würden. Aber wenn nun kein Geld da sei, müsse man doch zumindest Alternativen erwägen. Im Übrigen gehe es doch sicher nicht nur ihm so, sondern seines sei eventuell sogar das Schicksal vieler Menschen. Wenn man beim Finanzamt eine Liste derjenigen Personen führen würde, die einfach nicht bezahlen können, und stattdessen anzeige, was als alternative Leistung in Betracht käme, bestünde sogar die Möglichkeit, untereinander Fähigkeiten zu handeln, um das ganze Programm noch effektiver zu gestalten. Im Übrigen wäre es doch interessant, einmal eine Bedarfsliste des Staates zu bekommen, um festzustellen, wo er Hilfe wirklich dringend benötigt.

Vielleicht könnten dann die Bürger gemeinsam überlegen, wie sie dem Staat zur Seite stehen, die Probleme mit ihm gemeinsam lösen könnten. Aber, so warf ich ein, dafür gibt es doch die gewählten Vertreter. Mein Mandant lächelte etwas matt. Was meinen Sie, Herr Rechtsanwalt, was war zuerst da, das Ei oder das Huhn? Die Frage verstand ich nicht. Können Sie meinen Eindruck widerlegen, meinte er, dass der Staat von seinen Bürgern zu allererst Geld einzieht und erst dann verrät, für was er das Geld verbraucht? Vielleicht habe ich nicht immer richtig aufgepasst. Es gibt ja auch Haushaltsentwürfe usw., aber niemals wurde mir gesagt, dass ich für das oder jenes Vorhaben etwas zu bezahlen hätte oder mir gar Geld zurückgewährt würde, wenn ich erführe, dass es an anderer Stelle hilfreicher gewesen wäre als dort, wo es zunächst hingeflossen sei. Würden die Steuern nicht benötigt, so versickere das Geld, also auch das von mir gezahlte Geld irgendwo. Während mein Mandant redete, dachte ich für einen Moment darüber nach, was passieren würde, wenn ich das Geld, welches mir ein Mandant für bestimmte Aufgaben anvertraut hat, woanders einsetzen würde, sobald ich feststellte, dass seine Schuld doch nicht so hoch sei oder es mir gelungen war, die Forderung, die ich einziehen sollte, runterzuhandeln. Er könne doch auch einen Jahresbeitrag für eventuell anfallende Gebühren bezahlen, den ich dann allmählich unter Opportunitätsgesichtspunkten verbrauchen würde. Geeignete Fälle könnte ich dank meiner Kreativität sicher finden. Aber es muss sich dabei um völlig unterschiedliche Sachverhalte handeln … Also sagte ich meinem Mandanten nur: Grundsätzlich kann ich Sie ja verstehen. Auf einen Versuch sollte es daher ankommen. Wir probieren es mit dem Angebot Ihrer Fähigkeiten bei der Finanzverwaltung aus und hoffen, dass man Sie nicht auf die schwarze Liste schreibt. Schwarze Liste? Welche schwarze Liste, wollte mein Mandant noch wissen. Ach wissen Sie, sagte ich ihm, das ist eine ganz andere Geschichte, eine systemische. Das System schätzt Abweichler und Querdenker nicht besonders. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird gut.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Das System

Das System hat Augen und Ohren. Es sieht und hört. Es notiert, was ich sage. Das, was ich sage, wertet es aus. Das System legt Listen an und fertigt Berichte. Das System weiß genau über mich Bescheid. Das glaubt es. Es glaubt auch zu wissen, was ich denke, was ich fühle, kalkuliert meine Reaktionen. Ob sich das System da nicht irrt? Statistisch gesehen ist das System im Vorteil. Das System sagt: 80 % der Menschen fühlen, denken, handeln auf die gleiche Art und Weise. Das System hat sich so Maßstäbe geschaffen und vermag alle diejenigen zu erfassen, die unsystemisch fühlen, denken und handeln. Das System ist anscheinend im Vorteil. Es genießt die Unterstützung von 80 % seiner Mitglieder, die beileibe zwar nicht immer ruhig und angepasst sind, aber deren Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Systems stillschweigend erledigt werden. So war das bisher. Und die anderen? Die restlichen 20 %? Denen werden gute Chancen und Möglichkeiten vorgegaukelt, um sie auch gefügig zu machen. Ein eher geringerer Teil von ihnen wird mit Ehrungen überhäuft, denn nichts isoliert einen Menschen so von den anderen wie Auszeichnungen, die für die Mehrheit nicht erreichbar sein dürften.

Individualisten erleiden Einzelschicksale. Nicht systemrelevant. Also Kollateralschaden. Ein letzter kleiner Teil der Systemverweigerer wird als Projektionsfläche für Neid, Missgunst und dergleichen in der Öffentlichkeit angeprangert. An diesen lässt das System die Mehrheit sich abarbeiten, denn diese lustvolle Beschäftigung mit den Schwächen und Nöten anderer, ihrem Fehlverhalten und ihrem Unangepasstsein lenkt von den Unzulänglichkeiten des Systems selbst ab. Unzulänglichkeiten? Gibt es eine Fehlbarkeit des Systems, das aus dem eigenen Selbstverständnis heraus herrscht? Schwer vorstellbar. System oder Systeme vereinfachen unser Leben, machen es kompatibel für alle Menschen. Das Rad im Getriebe. Es bleibt nicht stehen. Aber ein Körnchen Sand, nur ein Körnchen Sand kann die Maschine zum Stillstand bringen. Deshalb ist das System so wachsam. Es hat Späher, Zuträger, Informanten. Das System hat keinen Grund, sich infrage zu stellen. Legitimiert durch allerhöchste Weihen nimmt es den Kampf gegen jeden Dissidenten auf. Das System wacht, hat dich, mich, also uns im Auge. Das System weiß alles über uns. Das System kennt unsere geheimsten Gedanken, unsere Gefühle, kontrolliert unsere Handlungen, bevor wir sie ausgeführt haben. Das System weiß, dass wir es bedrohen könnten, wenn wir darauf beharren, als Mensch und Bürger eigentlicher Souverän unseres Lebens und dieses Staates zu sein. Das System weiß sich bedroht durch unsere Forderung der Subsidiarität staatlichen Handelns. Das System ist in Aufruhr, wenn wir nicht bereit sind, öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen. Das System glaubt, wir seien Sozialisten, wenn wir die Ansicht vertreten, Geld sei geronnene Arbeit. Das System ist argwöhnisch gegenüber unserer Souveränität. Das System will das ändern. Das System glaubt, am längeren Hebel zu sitzen. Ob sich das System da nicht irrt?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Aldi

„Aldi“ steht für „billig“ und „viel“. Das Überfließen der Gesellschaft mit Waren des Konsums. Eitle Wonnen! Die Brüder Aldi sollen sehr reich sein, Milliardäre, so heißt es. Wir haben sie dazu gemacht. Uns allen einen herzlichen Glückwunsch zu unserer Großtat.

„All die“, die dazu beigetragen haben, konnten viel und billig essen in den vergangenen Jahren. Ihre Bäuche sind geschwollen. In ihren Heimen stapeln sich Computer. Alles Schnäppchen, deren Entsorgung sich schwieriger gestaltet als der Kauf. Kommt her, „all die“, die noch nicht genug haben vom Konsum. Sie können euch erquicken. Das System ist clever, keine Frage. Das vermeintlich Preiswerte der Ware steigert die Bereitschaft zur Gier. Zwischen dem, was man wirklich zum Leben gebraucht hätte, und dem, was man sich dank Aldi einverleiben durfte, besteht ein seltsames Verhältnis. Am Ende aller Tage haben wir dank Aldi mehr konsumiert, als wir wollten, und dadurch auch mehr bezahlt, als wir hätten bezahlen müssen, hätten wir uns bedarfsgerecht eingeschränkt. Insofern ist Aldi außerordentlich teuer, kommt insbesondere denjenigen teuer zu stehen, der ohnehin wenig hat. Andere werden dadurch reich, mehren ihr Vermögen ins Unermessliche, verhöhnen durch ihren gefräßigen Reichtum die Armut ihrer Gefolgschaft. Täuschung, insbesondere Selbsttäuschung erlebt sich am besten in Massen.

Es hat schon mit Trotz zu tun, wenn Kunden behaupten, dass sie sich nicht irren könnten. Das Opfer verteidigt bis zum letzten Gabelbissen den Täter, verteidigt die Beschaffungswege, die Ausbeutung und die Lieblosigkeit der Verkaufsstätten. Er glaubt, all dies nütze ihm. Sein Egoismus lässt ihn dies glauben. Dabei verkennt der Käufer, dass die anderen noch egoistischer sind als er selbst und seine Bewunderung des Prinzips nicht ihm, sondern dem Ausbeuter nützt. Das System Aldi. Unter diesem oder anderen Namen wird es sich immer durch die Taschen der ärmeren Menschen fressen. Bis zu dem Tag, an dem jemand den Spieß umdreht. The winner is …

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Riten oder Rituale

Am 20. Mai 2010 hatte ich das Vergnügen, auf Einladung der Gottlieb-Daimler- und Karl-Benz-Stiftung einen Vortrag des Direktors der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt/Main, Prof. Dr. Wolf Singer, zu seinem Thema „Ritual und Freiheit“ zu hören. Professor Singer wies darauf hin, dass ihm dieses Thema vorgegeben worden sei, er in Verbindung mit dem Begriff „Ritual“ von Freiheit nicht sprechen könne. Der Aspekt der Freiheit kam folglich in seinem Referat nicht vor. Auf der Suche nach Beantwortung der Frage, die er sich selbst stellte, wie sich Rituale entwickelt haben könnten, unterbreitete er den Gedanken, dass die Erkenntnis der Zeit ein bestimmendes Merkmal von Ritualen sei. In den Wiederholungen von Ritualen fixierten sich Gegenwart, aber auch Vergangenheit und Zukunft. Zur Illustration seines Vortrages ließ Professor Singer Fotos einspielen, die überwiegend Menschen zeigten, die sich im Zuge ritueller Spiele erhebliche Verletzungen beigebracht haben.

Mich ließ dieser eloquente Vortrag ratlos. Wurde die Frage nach dem Ritual und seinen Ursachen tatsächlich hinreichend geklärt? Das, was Professor Singer aufzeigte, schienen mir eher Riten zu sein, Verhaltensweisen, die die Zusammengehörigkeit eines Stammes oder Volkes dokumentieren, aber nicht in erster Linie von Wiederholungen bestimmt waren. Eine Zeitenkopplung konnte ich jedenfalls beim Versuch des Nachvollziehens dieser Gedanken nicht in erster Linie erleben. Alles scheint mir mit bestimmten Absichten zu geschehen. Die rituelle Beschneidung zum Beispiel dient dazu, die Ansteckungsgefahren durch Geschlechtskrankheiten zu vermindern. Die Beschneidung von jungen Mädchen soll ihre Lust dämpfen, mit anderen als mit dem eigenen Mann zu schlafen. Ich glaube, ähnliche Begründungen lassen sich fast für alle Riten dieser Welt finden. Sie sollen die Zugehörigkeit zu einem Volk durch ein rituelles Bündnis kräftigen. Wenn ich meiner Frau am Morgen die erste Tasse Kaffee ans Bett bringe, verspreche ich ihr meine ungebrochene Zuneigung, und zwar aus freien Stücken. Eine Versicherungsgeste, die sonst auch im Arbeitsleben und unter Freunden wirkt. Zeremonien und Rituale bestimmen unser soziales Leben und gewähren bei Einhaltung der Spielregeln Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten, die im Weigerungsfall dem Misstrauen und der Angst geopfert werden würden. Rituale lassen Kreativität und Schöpfungsmacht zu, sind die Inaugurationsriten in einer sich stets verändernden Gesellschaft, die dabei Angst macht. Direkt und indirekt hat alles mit der Zeit zu tun, aber die Verkoppelung von Zeit und Ritual als Bestimmungsmerkmal vermag ich nicht zu sehen. Die Zeit vollzieht sich in jedem Leben und wird wahrgenommen durch hell und dunkel, heiß und kalt und deren Addition. Im Ritual bekräftigen wir allenfalls unsere Einsicht in das Vorhandensein von Umständen, die wir nicht ändern können, aber aus Gründen des Selbstschutzes akzeptieren wollen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Hey, big Spender

Wer bewundert ihn nicht, den reichen Gönner, der uns an seinem Überfluss teilhaben lässt. Mag er alt und krank und nicht mehr ganz bei Sinnen sein, wenn das Geld fließt, der Rubel rollt, die Geldscheine auf den Zockertisch flattern, es Champagner, Kaviar und Mädchen im Überfluss gibt, wer schaut da noch genau hin? Wer schaut da noch genau hin, woher der plötzliche Überfluss, der Reichtum kommt und wie lange das Spiel dauern wird? Katzenjammer? Jedenfalls dann nicht, wenn das Spiel am Schönsten ist – und später ist nun mal später. Warum jetzt Sorgen machen? Hey, big Spender!

Natürlich ist hier nicht der legendäre einsame Mann und seine letzte Party gemeint, sondern unsere letzte Party, die Party unseres Staates, denn wir, die Bürger des Staates, sind das Volk, der Souverän. Eine ganze Zeit lang wurde ohne uns gefeiert, und zwar, als es am Schönsten war. Jetzt dürfen wir mitmachen, weil das Geld ausgeht. Das ist zwar nicht ganz richtig, denn Geld gibt es mehr als je zuvor, sozusagen im Überfluss. Aber das Spiel funktioniert nicht mehr richtig, denn trotz hoher Einsätze sind die Chips nichts mehr wert. Sogar, dass der Staat seine Bürger verzockt, bleibt ohne Eindruck. In kaum einem Stall finden sich noch Esel, die Gold scheißen. Wir können arbeiten, bis wir umfallen, und vermögen doch nicht die Münzen aus Edelmetall zu kneten, die erforderlich sind, um der Zockerzunft Glanz zu verleihen.

Was bleibt? Die Croupiers räumen ab. Das Kasino wird geschlossen und wir fangen von vorne an, kramen zusammen, was wir für Wert halten, bringen es zur Bank und lassen uns versprechen, dass die von uns beauftragten Politiker sorgfältig unsere Schätze prüfen, deren Wert taxieren und damit das Maß unserer Währung bestimmen. Was wir geben, wollen wir zurück, mit Zins und Zinseszins! Auf Heller und Pfennig! Oder auf Euro und Cent! Wer auf eigene Rechnung Geld druckt, fliegt raus. Die Zockerbuden bleiben geschlossen und gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Das kann auch einmal Champagner und Kaviar sein, aber nicht dauernd. Das hält kein Mensch aus.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wegfall der Geschäftsgrundlage

Unter „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ versteht der Jurist einen Umstand, der es objektiv rechtfertigt, dass eine Vertragspartei am geschlossenen Vertrag nicht mehr festhält. Die Ursache muss deutlich abweichen von dem mit der Vertragsdurchführung beabsichtigten Zweck bzw. geeignet sein, diesen zu vereiteln. Hierfür will ich ein Beispiel nennen:

Üblicherweise schließt ein Mensch spätestens zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit einen Vertrag mit der Gesellschaft, der es ihm gestatten soll, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wobei er die Verpflichtung eingeht, pünktlich seine Steuern zu zahlen und zu wählen. Um dies zu gewährleisten, müssen in der Gesellschaft bestimmte Spielregeln eingehalten werden. Eine der Spielregeln lautet, unbeschadet der spezifischen Eigentumsgarantie des Artikels 14 GG dem Menschen die Mittel zum Leben zu belassen, die er benötigt, um möglichst ohne finanzielle staatliche Zuwendung durch eigene Arbeit sein Leben zu gestalten und für sein Alter vorzusorgen. Das ist jedenfalls die Erwartungshaltung eines jungen Menschen und ein sittliches Gebot. Diese den Staat entlastende Haltung wird kaum jemand als verwerflich erachten. Das ist das Sollmaß eines Jugendlichen, welches er an die Gesellschaft anlegt. Wie aber ist die Wirklichkeit für ihn bestellt?

Als junger Jurist hatte ich die Wahl, entweder als Richter in den Staatsdienst zu gehen oder Rechtsanwalt zu werden. Ich habe mich für das Letztere entschieden, weil ich hoffte, im Beruf des Rechtsanwalts eine größere Gestaltungsfreiheit zu haben, ein auch wirtschaftlich selbstbestimmtes Leben führen zu können. Kurz nach Aufnahme meiner Anwaltstätigkeit hatte ich die Wahl, entweder freiwillig in die staatliche Rentenversicherung einzuzahlen, einem sich gerade formierenden Berufsversorgungswerk freiwillig beizutreten oder eine auskömmliche Lebensversicherung abzuschließen. Für das Letztere habe ich mich 1975 entschieden, und zwar in der durchaus durch die Agenten der Versicherung vermittelten Erwartung, dass ich, unabhängig von vielleicht noch höheren Zahlungen an meine Erben im Fall meines Todes, im Erlebensfalle mit 800.000 D-Mark höchst auskömmlich dotiert sei. Zunächst hatte ich auch überhaupt keinen Grund, an meiner Entscheidung zu zweifeln, zumal sich eine Dynamik des Wertzuwachses und eine Überschussbeteiligung abzeichneten. Irgendwann, genau kann ich das überhaupt nicht sagen, ist das gesamte System aber gekippt. Jede Mark, die ich an meine Versicherung bezahlte, hatte ich selbst verdient und auch versteuert. Ich baute mir so ein selbsterworbenes Vermögen auf und war stolz auf meine Leistung.

Dann merkte ich aber, dass es eigentlich nicht sein kann, dass ich einerseits mit hohem persönlichem Aufwand meine Lebensversicherungsbeiträge erwirtschaftete, andererseits mir für den Kauf eines Hauses der Anruf bei meiner Bank genügte und schon wurde ohne größere Komplikation viel Geld zur Verfügung gestellt. Spätestens nach der Wende, also in den 90er-Jahren, floss das Geld in Strömen. Wer würde da nicht zugreifen und kaufen wollen, was nur geht? Bemerkenswerterweise stagnierte dann allmählich die Dynamik des Wertzuwachses meiner Lebensversicherungen und die Überschussbeteiligung erlahmte dadurch. Das sah so aus: sinkende Rendite bei den Lebensversicherungen und hohe Zinslast auf der anderen Seite. Von der Gefährdung der Lebensversicherung durch die dann notwendige Absicherung des Kreditengagements will ich überhaupt nicht sprechen, aber davon, dass die nächste Überraschung ins Haus stand: der Euro. Die Einführung des Euro ging nicht einher mit einer Revision der Finanzsysteme, sondern schlicht und ergreifend mit einer Währungshalbierung. Die Zinsen und die Laufzeit der Zinsen blieben, aber die Währungsreform halbierte rein numerisch die Rentenerwartungen meiner Lebensversicherung. Statt 800.000 D-Mark jetzt 400.000 Euro. Natürlich halbierten sich auch numerisch die Kreditverbindlichkeiten, aber während diese selbstgenügsame Kraft den Zinsanspruch in gleicher Höhe aufrechterhielt, schmolz das Kapital weg, auf welches es bekanntermaßen kaum ankommt, da dessen Rückzahlungsmodus schon von Gesetzes wegen an letzter Stelle steht. Zuerst wird bekanntlich auf die Kosten, dann auf die Zinsen und schließlich auf die Hauptforderung eines Darlehensanspruchs gezahlt. Anders verhält es sich aber mit meinen Rentenversicherungsansprüchen. Diese nahmen vom ersten Tag der Geldmengenvernichtung und der Währungsumstellung an der Entwertung EU-weit teil. Keiner wird mir heute mehr zusichern wollen, dass ich bei Auszahlung des Kapitals meiner Lebensversicherung von 400.000 Euro am Tage der Vollendung meines 65. Lebensjahres in der Lage sein werde, den Rest meines Lebens – wahrscheinlich werde ich 120 Jahre alt – meine Altersversorgung zu bestreiten. Für Hartz IV bin ich nicht tauglich. Gegen den öffentlichen Dienst, der keine Probleme damit hat, je nach Wetterlage die Ansprüche seiner Vasallen zu korrigieren, habe ich mich seinerzeit bewusst entschieden. Ich war aber so blauäugig, der Gesellschaft zu vertrauen. Meines Erachtens ist diesem gesellschaftlichen Vertrag nun die Geschäftsgrundlage entzogen. Im Vertrauen darauf habe ich Investitionen in meine Kinder getätigt, den Beruf gewissenhaft ausgeübt und Steuern bezahlt. Jetzt möchte ich von der Gesellschaft das zurück, was sie mir durch das Vorgaukeln falscher Tatsachen entzogen hat, notfalls fechte ich den mit mir geschlossenen Vertrag wegen arglistiger Täuschung an. Auch ich sollte wieder eine Chance haben, oder? Eine Frage der objektiven Betrachtung. Einzelschicksale unergiebig. Eher peinlich, reden wir besser nicht darüber.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Farbenlehre

Im Spannungsverhältnis zwischen Goethe und Newton, aber auch Kant/Schiller und Goethe wird deutlich, was Wissenschaft mit Einstellung zu tun hat. Wissenschaft schafft Wissen auf der Grundlage anscheinend objektiver Tatsachen. Die wissenschaftliche Erkenntnis ist durch Theorie und ggf. auch praktische Erprobung gefestigt. Da tritt Goethe, der Rebell, auf den Plan, bezichtigt nicht nur Newton der Vergewaltigung der Natur, sondern schafft auch einen Faust, der die Natur herausfordert und nur in ihrer Beherrschung Erlösung erfährt.

Ich möchte Goethe zustimmen. Ohne die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Sicherungsrituale, die damit verbunden sind, gäbe es keine Grundlage für menschliche Transformationsprozesse. Aber auch die scheinbar am besten gesicherten wissenschaftlichen Ergebnisse sind auf menschliche Akzeptanz und subjektive Umsetzung angewiesen, wenn sie nicht im Selbstverständnis der Natur verharren wollen. Die Mechanik der Natur ist völlig unabhängig vom menschlichen Denken, Fühlen und Verstehen. Sie ist erst durch den menschlichen Bearbeitungsprozess für das Prinzip offenbar geworden und erfährt unsere Anerkennung. Wir erkennen nicht nur an, sondern in der Wiedererkennung der in der Forschung erworbenen Einsichten erleben wir die Bestätigung unseres eigenen Seins. Der Dialog ist gerichtet auf Sicherung und Fortschritt. Erkenntnis stärkt die Erwartungen und prägt Utopien, aber nicht nur die wissenschaftliche Erkenntnis allein, sondern das, was sie uns vermittelt, lässt uns hoffen, bewirkt, dass wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, unsere Erkenntnisfähigkeit zu stärken und immer wieder Neues und zuweilen auch Wahres erfahren.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski