Archiv für den Monat: März 2014

Die Idee der Philanthropie

Stiftungen, überhaupt alle Einrichtungen im philanthropischen Bereich gehen oft fast wie selbstverständlich davon aus, dass der Mensch erwarte, dass man sich um ihn kümmere, ihn fördere und unterstütze. Ist das überhaupt richtig? Durch jede auch noch so wohlmeinende Förderung und Unterstützungshandlung mischen wir uns in den Lebensbereich eines anderen Menschen ein. Dies widerspricht eigentlich dem Idealbild der Selbstbestimmung des Menschen, d. h. seinem Anspruch, selbst dafür zu sorgen, wie er   sein   Leben   gestalten   und   das   Potenzial   seiner  Entfaltungsmöglichkeiten  voll ausschöpfen kann. Insofern geht es bei der Philanthropie durch Einmischung in fremde Lebenssachverhalte stets auch um Macht, und zwar die Macht des Guten über andere Menschen. Dessen müssen wir uns bewusst sein, um das Unbehagen, auf das man zuweilen auch als philanthropische Einrichtung stößt, richtig auszudeuten.

Der Zuwendungsempfänger gemeinnütziger Leistungen steckt in einem großen Zwiespalt. Einerseits wehrt er sich gegen die Einmischung von außen und muss dies auch tun. Andererseits ist er sich seiner Hilfsbedürftigkeit bewusst, unterwirft sich der Einsicht, dass er allein nicht mehr weiterkommt, sondern Hilfe erwartet. Zur Verwirklichung seiner Ideen, Projekte und Vorhaben oder zur Erleichterung seiner Lebenssituation benötigt er gerade diese  Form  der  Einmischung.  Es  bleibt  ihm  aber  die  Erwartung,  dennoch  Herr  des gesamten  Projekts  oder  seiner  Situation  zu  bleiben.  Das  ist  ein  nachvollziehbarer Zwiespalt, der bei sämtlichen Förderleistungen und Unterstützungen jedweder Art sorgfältigster   Betrachtung   bedarf,   d. h.   der   Zuwendungsempfänger   gemeinnütziger Leistungen muss stets davon überzeugt werden, dass man nicht nur sein Bestes will, sondern   dass   er   derjenige   ist,   der   weiterhin   die   Leistungen   und  deren   Umfang mitbestimmt,  der  selbst  verantwortlich  bleibt.

Nicht  unähnlich  verhält  es  sich  bei denjenigen,  die  man  dafür  gewinnen  möchte,  zu  stiften,  zuzustiften  oder  Spenden  zu geben.   Meckern,   wenn   man   seine   Unzufriedenheit  über   Missstände  in  unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen will, ist die eine Seite der Medaille – die andere, etwas  selbst  zu  tun,  um  diesen  Missständen  abzuhelfen.  In  einer  aktiven Bürgergesellschaft vermag der eine oder andere gestaltend einzugreifen, die Chancen, etwas zu ändern, sind indes sehr gering und abhängig davon, welche Möglichkeiten diese meist wenigen Bürger haben, zum Beispiel Politik mitzubestimmen, die Wirtschaft zu ordnen, überhaupt in Bereiche unserer Daseinsfürsorge einzugreifen. Bürger engagieren sich daher in der Regel mit anderen zusammen in Stiftungen und Vereinen, um ihrer Unzufriedenheit sowie ihrem Gestaltungswillen, eine konstruktive Richtung zu geben. Die entschlossenen Bürger brauchen Verbündete. Da nicht alle mitmachen können und/oder wollen, werben die engagiert handelnden Bürger für ihre unterschiedlichsten Projekte Geldmittel  ein  und  erfahren  dabei  zuweilen,  dass  zahlreiche  Mitmenschen  zwar  ihr Anliegen durchaus versteht und auch als richtig empfindet, für sich selbst aber weder persönlich noch wirtschaftlich eine Möglichkeit sieht, sich an diesen für ihn fremden Projekten zu beteiligen. Die Enttäuschung über die fehlende Hilfsbereitschaft dieser Menschen ist bei den Engagierten oft groß. Dabei ist deren Verhalten durchaus verständlich. Denn auch hier gilt, dass der Mensch in erster Linie selbstbestimmt ist. So wenig, wie er will, dass sich jemand um ihn kümmert, will er sich auch von anderen nicht vorschreiben lassen, ob er sich um jemanden kümmern sollte bzw. wer das sein könnte. Der Mensch ist in seinem Wesen eigennützig. Das darin steckende Potential Potenzial ist zu entdecken und zu nutzen, und zwar dadurch, dass man dem Menschen aufzeigt, dass sich sein Engagement für andere auch für ihn auszahlen könnte. Dies geschieht meist in der  Form  der  Hilfe  zur  Selbsthilfe,  die  es  dem  so  Angesprochenen  erlaubt,  das  Maß seines Engagements selbst zu bestimmen, etwas frei zu tun oder zu lassen und vor allem eigenverantwortlich   festzulegen,   wie   er   sich   bei   der  Förderung  fremder  Anliegen einbringen will. Natürlich benötigen philanthropische Einrichtungen die Unterstützung anderer Bürger. In keinem Gespräch, welches ich mit potenziellen Unterstützern heute führe, spreche ich zunächst die finanzielle Unterstützung an, sondern ich versuche vor allem,  festzustellen,  welche  Bereiche  des  Handelns  meinen  Gesprächspartner interessieren könnten. Sobald ich dies festgestellt habe, diene ich ihm die Idee seines eigenen persönlichen Engagements an und gebe ihm Gelegenheit, selbst darüber nachzudenken und sich zu befragen, ob und wie er diese Unterstützung gegebenenfalls künftig gestalten wolle. Vielleicht sieht er persönlich keine Möglichkeit, sich finanziell oder auch ehrenamtlich einzubringen. Vielleicht hat er aber Kontakte, die ihm im Verlauf des Gesprächs oder zu einem späteren Zeitpunkt bewusst werden. Diese Entwicklung der Ideen gilt es abzuwarten, und zwar nicht im Sinne der Beendigung eines lästigen Dialogs oder  einer  finanziellen  Herausforderung,  sondern  in  der  Strukturierung  eines  sich allmählich entwickelnden Anliegens des von mir Angesprochenen bei sich selbst.

Der entschlossene Mensch gibt. Sobald der Entschluss sich zu engagieren gefasst ist, zögert der Mensch meist nicht mehr. Agape gilt dem eigenen Engagement, seiner eigenen Gestaltungsfähigkeit und der Freude am Entstehenden. Diesen Prozess begleitet er in Zukunft mit großem Stolz, in der Erwartung des Erfolges und in der Erkenntnis, dass er es selbst  gewesen  ist,  der  wesentlich  zum  Gelingen  des  Ganzen  beigetragen  hat.  Wir können  uns  daher  sicher  sein,  dass  dieser  Mensch  auch  in  Zukunft  das  von  ihm geförderte Projekt mit großer Anteilnahme begleitet und alles dafür tun wird, um ein künftiges Einschlafen des Projektes zu vermeiden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ruck – Stiftung des Aufbruchs

Im Februar 2007 wurde die gemeinnützige, staatlich anerkannte Ruck – Stiftung des Aufbruchs in Berlin gegründet, um sich stark zu machen für bürgerliches Engagement und eine Gesellschaft der Selbstverantwortung und Solidarität.

Die Ruck – Stiftung des Aufbruchs versteht sich als operativ tätige Stiftung, die Denkanstöße gibt, Paradigmenwechsel fördert und Veränderungen bewirkt. Wir wollen einen Beitrag leisten zu mehr Bürgerbewusstsein, Verantwortlichkeit und Innovationsfreude in unserer Gesellschaft.

Wer den Aufbruch wagt und mit Freude bereit ist, „täglich das Unmögliche zu tun“, findet in der Ruck – Stiftung des Aufbruchs einen zuverlässigen Partner. Die Stiftung steht allen offen, die sich mit ihr und für sie engagieren und dadurch auch Anregungen für eigene Projekte erfahren wollen.

Viva Familia! ist das Kernprojekt der Ruck-Stiftung und konzentriert sich auf den Bereich der frühkindlichen Bildung. Ziel ist es, die Bildungsbereitschaft von Eltern zu stärken und ihre Aufmerksamkeit für das Lerninteresse ihrer Kinder zu wecken.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Europa der Regionen

Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in seiner Entscheidung vom 30.06.2009 zum Lissabonvertrag einerseits die politisch motivierten Einwendungen zurückgewiesen, zum anderen aber deutlich angemahnt, dass die Entscheidungshoheiten in Europa auch in Zukunft – jedenfalls was Deutschland anbetrifft – bei seinen Organen liegen sollte. Direkt und indirekt beinhaltet die Entscheidung eine Absage an eine Verwaltungsgesetzgebung in Brüssel, einen Staatenbund oder auch eine demokratisch legitimierte gesamteuropäische Regierung. Diese Sichtweise mag rechtlich begründet sein, ändert aber nichts an dem gesamteuropäischen Verständnis seiner Völker, die gerne alle Opportunitäten persönlicher und wirtschaftlicher Betätigungen innerhalb Europas wahrnehmen möchten. Nicht der Auflösung staatlicher Kompetenzen wird hier das Wort geredet, sondern die Stärkung von Verbänden staatlicher und halbstaatlicher Art, die dazu eingerichtet sind, Regionen zu stärken und ihnen mehr Einfluss in Europa zu verschaffen, und zwar über die Ländergrenzen Europas hinweg. Sollte dies nicht gelingen, wird es immer ein Europa der reichen und der armen Regionen geben. Dies schafft Konfliktpotential und belastet zum einen die europäische Integration, zum anderen macht es Europa nicht ausreichend widerstandsfähig gegen globale, bisher unzureichend betrachtete Einflüsse wirtschaftlicher Art, Migration und kriegerische Auseinandersetzungen. Ein starkes Europa wird seine Regionen stärken müssen, um sich über die Landesgrenzen hinweg gegen Angriffe von außen und innere Zerfallsprozesse zu immunisieren. Es sind die Bürger Europas, die Vertrauen zueinander finden, sich einbringen müssen in eine europäische Zivilgesellschaft, die legitimiert ist durch ihre Taten, insbesondere im philanthropischen Bereich.

Darin  liegen  die  Chance  und  die  Herausforderung  Europas  in  der  Zukunft.  Eine  europäische  Kulturverfassung  ist  dabei  die Klammer, die es den unterschiedlichen europäischen Staaten und Regionen erlaubt, gemeinsam daran zu arbeiten, dass Europa in  der  Welt  –  wenn  nicht  als  Bundesstaat  oder  Staatenbund  –  so  doch  als  eine  durch  Überzeugung  und  Inhalt  geprägte Gemeinschaft auftritt. Nicht nur die traditionellen Errungenschaften Europas sind es wert, verteidigt zu werden, sondern Europa hat  aufgrund  seiner  Vielfältigkeit  Potential,  die  globale  Wertegemeinschaft  mitzugestalten,  sei  es  im  Bereich  CSR,  Good Governance oder Regelung der Finanzmärkte unter dem Aspekt des „ehrlichen Kaufmanns“. Die europäische Einigung verschafft nicht nur die Grundlage für ein friedfertiges Europa, sondern kann als Beispiel für die ganze Welt dienen, dass Konflikte ein für alle  mal  waffenfrei  beigelegt  werden  können.  Ein  geeintes  Europa  dient  aufgrund  seiner  festen  Grundüberzeugungen  bei gleichzeitig vorhandener Neugierde und Toleranz der ständigen Erneuerung und Motivierung große Potentiale unserer Weltgemeinschaft. Europäische Kulturen sind beispielgebend, durch schmerzhafte Häutungen entstanden, durch Fremdheit und Nähe, durch Reibung und Gemeinsinn. Auch, wenn die Sprachen Europas signifikante Unterschiede setzen und staatlich verantwortliche Organe oft nur um die eigene Sache ringen, darf nicht vergessen werden, dass die Bürger Europas, insbesondere die jungen Menschen bei Arbeit und Tourismus, Liebe und Freizeit nichts Trennendes erkennen, sondern sich den Platz in der europäischen Gemeinschaft erobern, von dem sie selbst glauben, dass er für sie passend sei.

Durch  Europa  ist  die  Wirtschaft  stark  geworden,  eine  gemeinsame  europäische  Währung  hat  Konvergenzschwierigkeiten abgebaut und schließlich sind die im wirtschaftlichen Bereich erzielten Errungenschaften auch übertragbar auf alle Bereiche des gemeinschaftlichen Handelns unter anderem im Stiftungsbereich. Ein gesamteuropäisches philanthropisches Handeln ist von den Gerichten  nicht  nur  unter  gemeinnützigen  Gesichtspunkten  mit  allen  Vorteilen  der  steuerlichen  Berücksichtigung  anerkannt worden, sondern eröffnet auch die Möglichkeit durch Abgleichung der jeweiligen einzelstaatlichen Potentiale, ‚Social Franchising’ und staatenübergreifendes ‚Entrepreneurship’, Projekte nachhaltiger zu entwickeln als dies bisher heute schon geschieht.

Die Ruck – Stiftung des Aufbruchs verfolgt diese Anliegen mit Nachdruck. Bitte informieren Sie sich unter  www.ruck-stiftung.de.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Die Europäische Kulturverfassung – Präambel

Die  Europäischen  Staaten  sind  sich  sicher,  dass  die  Garantie  der  kulturellen  Entwicklung  jedes  einzelnen  Menschen,  von Gruppen und Ländern in Vielfalt und gegenseitiger Achtung und Verständnis der Erhaltung, der Entwicklung und dem Fortbestand der Menschheit in Würde, Respekt und Bereitschaft zu friedlichen Problemlösungen dient.

Dies vorausgeschickt kommen die vertragsschließenden Staaten in Folgendem überein:

Artikel 1
Das Recht jedes einzelnen Menschen, sich kulturell frei und vielfältig im Rahmen dieser Verfassung zu entwickeln, ist unantastbar.

Artikel 2
Die kulturelle Betätigung von einzelnen Gruppen, Gebieten und Staaten steht unter dem Schutz der Gemeinschaft, und zwar auch dann, wenn sie regional oder allgemein den jeweils herrschenden Auffassungen widerspricht.

Artikel 3
Es  ist  die  Aufgabe  jeder  staatlichen  Stelle,  kulturelle  Entwicklungen,  aber  auch Visionen  und  Utopien  aktiv  zu  fördern  und sämtliche Errungenschaften vor der Zerstörung zu schützen.

Artikel 4
Jeder kann sich entsprechend seiner Fähigkeiten, seiner Visionen, seiner Utopien verwirklichen, solange er die Grundwerte der menschlichen Gemeinschaft respektiert.

Artikel 5
Die  staatlichen  Stellen  und  die  Gemeinschaft  insgesamt  fördern  nachhaltig  den „Dritten  Sektor“,  d. h.  die  Entwicklung  der Bürgergesellschaft durch deren uneigennütziges, ideelles Engagement, durch finanziellen Einsatz und Arbeitskraft und durch Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen.

Artikel 6
Staatliche Stellen schützen Kultureinrichtungen jeder Art, wobei die Freiheit der kulturellen Betätigung sowie von Kunst und Kultur nicht am Geschmack oder der Einsicht von wenigen orientiert ist.

Artikel 7
Staatliche Stellen richten ein, bewahren und stellen der Allgemeinheit das gesamte kulturelle Erbe zur Verfügung, damit deren Erfahrungen einschränkungslos weitergegeben werden können.

Artikel 8
Kulturelles Engagement erfährt keine Begrenzung und erstreckt sich infolgedessen auf sämtliche Nationen, ethnische Gruppen, religiöse Zusammenschlüsse etc. dieser Welt. Soweit die kulturelle Betätigung sich im Rahmen des internationalen Kodex der Menschenrechte bewegt, besteht bei Maßnahmen des Kulturtransfers stets freies Geleit.

Artikel 9
Sämtliche staatliche Einrichtungen gewähren Wissens- und Bildungsfreiheit, wissenschaftliche Freiheit wird ebenfalls umfassend gewährt im Rahmen der Festlegung der Ethikkommission der Vereinten Nationen. Die Grenzen sind dort zu ziehen, wo sich die menschliche Gemeinschaft selbst experimentell gefährdet. Dem wissenschaftlichen Forschungsdrang an sich sind insofern dort Grenzen gesetzt, wo er menschenfeindlich ist.

Artikel 10
Intoleranz, Gewalt, Terrorismus, Verfolgung von Minderheiten etc. stehen im Widerspruch zu den Grundzügen dieser Verfassung und werden geächtet und abgelehnt. Staatliche Stellen werden das Nötige tun, um dem entgegenzuwirken.

Artikel 11
Die Religionsausübung ist frei, soweit sie den Nächsten in der Gemeinschaft in seiner Würde achtet.

Artikel 12
Es besteht umfassende Informations- und Bildungsfreiheit. Zensur jeder Art findet nicht statt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kultur in Europa, Teil 4

Die Europäische Kulturverfassung trägt den Gemeinsamkeiten der kulturellen Entwicklung in Europa Rechnung, aber auch den starken regionalen Unterschieden. Die Kulturverfassung will diese Unterschiede erhalten; ferner Gelegenheit geben, das Gemeinsame  an  der  kulturellen  Entwicklung  zu  beleben,  das  Vergangene  zu  bewahren  und  Zukunftsperspektiven  auch  mit starken gesamteuropäischen Akzenten in allen kulturellen Bereichen, der Wissenschaft, Forschung, Lehre und der Bildung zu schaffen.

Die Europäische Kulturverfassung schützt den Einzelnen bei der Ausübung und der Rezeption von Kunst und Kultur, stärkt den Erfindergeist und ermutigt diejenigen, die Visionen und Utopien für die menschliche Zukunft entwickeln.

Die Europäische Kulturverfassung fördert das bürgerschaftliche Engagement, finanziell und ideell für die kulturelle Entwicklung Europas einzutreten.

Die Europäische Kulturverfassung schützt und bewahrt nicht nur das europäische Kulturerbe und setzt sich für dessen Erhalt ein, sondern  eröffnet  auch  den  permanenten Dialog  mit  fremden  Kulturen  und  Vorstellungen  und  verschließt  sich  auch  deren Einsichten nicht.

Sämtliche staatliche Institutionen sind dazu aufgerufen, die Pluralität zu erhalten und zu fördern, kulturelles Erbe zu bewahren und jedem zugänglich zu machen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kultur in Europa, Teil 3

Wenn wir die moralische Kraft dazu haben, können wir aber auch sterben lassen und doch Neues schaffen. Wir müssen uns nicht verkrampfen in einem ausweglosen Wettkampf mit unserer Tradition. Wir müssen nicht glauben, dass wir Verrat begehen oder dafür bestraft werden, wenn wir unser Handeln überprüfen, wenn wir uns selbst überprüfen. Aber es geht auch darum, aus der Tiefe unseres kollektiven Gedächtnisses Anregungen für die Gestaltung der Zukunft zu finden. Hierfür benötigen wir allerdings Mut, um uns auf gänzlich neue Herausforderungen einzulassen. Wir müssen wieder grenzenlos denken lernen. Wir müssen erkennen, was uns die neue Zeit bietet an materiellen und moralischen Herausforderungen sowohl in der Realität als auch in der Virtualität. Wir müssen schlussendlich akzeptieren, dass wir in einer Risikogesellschaft leben. Wir müssen unser Risiko bewusst und freudig annehmen, damit wir aus der Dualität zwischen entschlossenem Handeln und neuer Wachheit Lebensentwürfe gestalten können, die wieder für eine Zeit Gültigkeit haben können. Trotz Abwägung aller Umstände erkennen wir, dass es besser ist, etwas zu tun, als überhaupt nichts zu tun. Was sich nicht bewegt, erstarrt. Es hat keinen Nutzen. Versuchen wir, jeden Schritt mit der Vorsicht zu paaren und uns Rückwege offen zu halten, zementieren wir die Rückversicherungsgesellschaft. Eine solche Gesellschaft ist nicht nur individuell sondern auch kollektiv kulturwidrig. Im Politikverständnis entspricht sie uns traditionell in großem Maße: Neid, Missgunst, Egoismus gepaart mit einem mittleren Maß an Misstrauen. Wer will schon gerne loslassen von der Macht und sich der Herausforderung seines Wählers aussetzen. Die große Errungenschaft unserer heutigen staatsverfassten Demokratie ist der Wahlzettel. Auf sublime Art und Weise verkörpert er die Garantie allseitiger  Zufriedenheit.  In  einer  Neidgesellschaft  gibt  es  damit  Korrektive. Institutionell  kommt  keiner  zu  kurz  und  plebiszitäre Übermütigkeiten sind damit abgehakt.

Der Wahlzettel schützt die Politiker in noch stärkerem Maße. Sie sind ausschließlich ihrem Wiedergewähltwerden verantwortlich. Sie behalten die Macht und garantieren dadurch den sozialen Frieden. Plakativ gesehen besteht ein großer Konsens zwischen der Mehrheit der Regierten und der Regierung, auch wenn es zuweilen Unruhe gibt. Ein Fortschritt kommt damit aber nicht zustande. Die verfestigten Strukturen sind reformunfähig und können dem Sterben ideeller Werte etc. keinen Einhalt gebieten. Auf aggressive Art und Weise werden sich Gruppen entwickeln, die ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen etc. Raum greifen für die Darstellung ihrer Hilflosigkeit oder ihrer Utopien. Da Geschichte viel gründlicher ist, als man gemeinhin denkt, muss an dieser Stelle an die RAF erinnert werden. Die Terroristen der nächsten Generation stehen vor der Tür. Einhalt gebieten können wir hier nicht, sondern wir können nur Gegenentwürfe fertigen, die überzeugend auch den Einzelnen miteinbeziehen, weil er wieder frei ist, zu entscheiden. Nur die frei verfasste, zivile Gesellschaft ist in der Lage, sich diesen Herausforderungen zu stellen, und zwar in allen kulturellen Aspekten der geistigen Grenzenlosigkeit, des moralischen Erinnerns, des Besinnens auf die Transzendenz allmenschlichen Tuns, die Ausschöpfung neuer materieller Ressourcen, in Verantwortung für die Zukunft und mutualer Verantwortung.

Da dies kein nationales oder nationalstaatliches Problem ist, stellt sich die Frage nach neuen kulturellen Identitäten. Da wir kaum in der Lage sein können, Aussagen für die ganze Welt zu treffen, weil die Entwicklungsstufen der Menschheit global sehr unterschiedlich sind, müssen wir uns darum bemühen, zumindest unsere eigene europäische Situation zu erfassen, grundlegend Gemeinsames aufzudecken und uns neu zu orientieren.

Wenn uns der Druck hierfür noch nicht groß genug erscheint, müssen wir bedenken, dass die Globalisierung, die demokratischen Entwicklungen in Europa, die materiellen und ökologischen Veränderungen insgesamt unweigerlich dazu führen, dass sich Europa ebenfalls ändert. Für uns geht es darum, ob wir an der Spitze dieses Prozesses stehen werden, oder ob der Druck von außen, die Immigrationsbewegungen, die neuen Handelsströme etc. dazu führen werden, dass Europa in der Welt vergessen wird.

Da wir uns gemeinsam dem Neubeginn öffnen sollten, stelle ich nunmehr im Folgenden die europäische Kulturverfassung zur Diskussion: die Europäische Kulturverfassung.

Mehr dazu im nächsten Blogbeitrag …

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kultur in Europa, Teil 2

Es ist erstaunlich, dass sich Europa als kulturelles Gesamtgebilde so schnell verabschieden will, aber nicht verwunderlich angesichts der persönlichen Bedrohung, der sich die Menschen Europas ausgesetzt sehen. Glaubte der Mensch früher, seine Gesetze würden auch auf dem Rathaus gemacht, Pfarrer, Banker, Rechtsanwalt, Notar, Bürgermeister und Stadtverordneter würden es schon richten, erfährt er nun auch bei der klitzekleinsten Herausforderung seine lokale Ohnmacht. Der moderne Europäer weiß, dass es kein Zurück vor der Globalisierung mehr gibt, will aber gerade deshalb zumindest mit einem Teil von sich selbst unter die Käseglocke.

Wie sieht es nun aber unter den europäischen Käseglocken aus? Zunehmend schimmlig und ranzig, wobei dies nicht nur denjenigen zum Vorwurf gemacht wird, die sich dahin zurückgezogen haben. Könnte es die Angst der Politiker selbst sein oder ihre Unsicherheit, da sie einerseits selbst mit unter der Käseglocke sitzen, andererseits nach Europa gehen wollen oder müssen, dazu, dass sich an der Situation nichts ändert? Von der infantilen Gesellschaft ist die Rede, von der Spaßgesellschaft und von der ungebildeten Gesellschaft. Alles ist pauschal richtig. Höhnisch dürfte man noch hinzufügen, dass es eine Gesellschaft mit kindischen Kindern und Gouvernanten geworden ist. Leben wir in einer infantilen Gesellschaft? Ist damit die kulturelle europäische Enge erklärbar? Eines erscheint mir zumindest deutlich zu sein: Eine mit ihren eigenen Ängsten, Schwächen und Unsicherheiten beschäftigte Gesellschaft mag nicht mehr irritiert werden, sondern vollzieht – verbissen – ihre eigenen kulturellen Riten, in der Hoffnung, daran zu gesunden. Ist es eine Stärke, in der eine Kraft liegt? Wir sind uns dessen nicht sicher, wir können uns dessen nicht sicher sein. Wir vermögen nicht mehr zu heilen, sondern versuchen, den Schmerz zu lindern, uns abzulenken von Europa.

Das ist auch der große Moment des Entertainments. In großer Vielfalt kann sich auf unserer Käseglocke ein buntes Repertoire von Gesang, Liedern, Tanz, Musik in allen Varianten abbilden, und zwar ohne uns zu berühren, ohne uns zu belästigen oder zu belasten. Wir sind geschützt, auch wenn sich eine irische Tanztruppe oder Sänger der Mailänder „Scala“ auf unserem Bildschirm einstellen. Wir sind kulturellen Angeboten Europas nicht verpflichtet, sondern nur frei, sie zu konsumieren.

Unsere eigene kulturelle Entwicklung vollziehen wir im Stillen, d. h. unter unserer Käseglocke, im richtigen Empfinden, dass es etwas zu bewahren gibt, und in der Hoffnung, dass das Bewahrte überhaupt noch einen Sinn macht.

Das dürfte ein Fehler sein. Was sich nicht mehr entwickelt, stirbt. Wir sind damit sozusagen an der Schwelle zum Tode: moralisch, geistig, kulturell. Das gilt augenblicklich leider für Europa.

Das muss nicht schlimm sein, wenn man begreift, dass jede Entwicklung irgendwann ihren Höhepunkt hatte und dann langsam zu sterben begann. Wittenberg z. B. bildete im 16. Jahrhundert den Nabel der Welt, heute ist es ein verschlafenes Provinznest.

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Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kultur in Europa, Teil 1

Die Schaffung der europäischen Komplexität ist gewollt. Immer umfassendere Integrationsvorhaben in Europa machen es erforderlich, den Details einer solchen Entwicklung Rechnung zu tragen. Ein immer umfassenderes Regelwerk gewährt uns die scheinbare Sicherheit, trotz immer wieder neuer Herausforderungen und Novitäten des europäischen Einigungsprozesses den Maßstab für uns alle zu finden und damit zu verhindern, dass ein Mitglied der Gemeinschaft oder ein potenzieller Kandidat seine eigennützigen Beherrschungsgelüste durchsetzen kann. Europas Bestimmungen und Verordnungen werden es schon richten. Da sind wir uns ganz sicher und laden insbesondere osteuropäische Partnerstaaten dazu ein, mitzumachen, weil wir wissen: Wenn sie einmal dabei sind, haben sie kaum eine Chance mehr, sich gegen Europa zu stellen und Meinungsverschiedenheiten kriegerisch auszutragen. Dies ist allerdings auch nicht schlimm, denn die politische und wirtschaftliche Integration Europas ist gewollt.

Was dabei nicht bedacht wird, ist, dass die kulturelle Integration Europas sich nicht gleichförmig vollziehen kann, sondern oft sogar gegenläufig ist. Je umfassender sich Europa bildet, desto partikulärer entwickelt sich die Kultur in Europa. Das hängt damit zusammen, dass die Kultur offenbar noch das Einzige ist, was wir etwas schützen können. Kultur ist der Nukleus unserer Identität, unserer Geschichte und schließlich das Erinnern an unseren spezifischen Sinn. Dies ist aber nicht alles. Kultur ist unsere Bastion, unser Schutzschild, unser Trotz. Es ist naheliegend, dass wir, angesichts der Komplexität des europäischen Einigungsprozesses, dem gefühlten Irrsinn von Verordnungen und Bestimmungen, der Aufweichung unserer staatlichen Ordnung etwas entgegensetzen wollen, was wir als einzigartig begreifen: unsere Kultur.

Was verstehen wir in diesem Zusammenhang unter unserer Kultur? Unsere Kultur hat verschiedene Aspekte. Zunächst die ganz lokale Erfahrung: Heimatrituale, deren Sinn darin besteht, uns die Sicherheit einer spezifischen Bestimmung zu gewähren. Dann die europäische Kultur, die angesichts der europäischen Zersplitterung in Nationalstaaten und Kleinstwirtschaften sozusagen die europäische Integration auf einem anderen Feld vorweggenommen hat.

Heute ist sie nicht mehr gefragt. Zwar lassen wir Kulturaustausch und Kulturtransferleistungen zu, allerdings wird ein russischer Pianist nicht mehr dadurch Deutscher, dass er in Deutschland wirkt und spielt oder ein deutscher Baumeister und Architekt nicht dadurch Russe, dass er in Moskau Gebäudekomplexe zaubert. Die Italiener sind am deutschen Film nicht interessiert und wir auch nicht an französischen Musicals. Selbst Sprache wechselt nur noch im Rahmen von Programmen die Fronten, die gemeinsame Sprache besteht nicht mehr oder noch nicht.

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Hans Eike von Oppeln-Bronikowski