Es könnte sein, dass sich der Mensch rächen möchte an seiner Existenz. Natürlich kann nicht geleugnet werden, dass der Mensch auch genetisch bestimmt ist, d. h. bestimmte Anlagen in ihm vorhanden sind, die seinen Charakter, seine Verhaltensweise auf diese oder jene Art prägen. Ein Verhalten, welches nicht nur artgebunden ist und allgemein zu völlig unterschiedlichen Lebenserfahrungen führen muss. Möglicherweise ist es aber auch so, dass bereits in den Genen das Misstrauen, der Argwohn und/oder auch die Unbekümmertheit einer großen Lebenserwartung transportiert werden. Dem Kleinkind ist anzumerken, dass es auf sein Dasein besteht und auf seine Umwelt und deren Verhalten reagiert durch Lachen, Weinen oder Schreien. Das Kind ist da, geplant oder ungeplant, gewollt oder ungewollt, geliebt oder nicht geliebt: Es besteht auf seine Anwesenheit. Wenn wir uns vorstellen, dass das Kind auf alles wartet, aber noch nichts versprochen ist, vermag man den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit unmittelbar zu erkennen. Der junge Mensch tritt auf und behauptet seinen Anspruch auf Leben und Verwirklichung. Mit seiner Wachheit beginnt für den jungen Menschen sein eigenes Leben, so als hätten die anderen Leben zuvor niemals existiert. Diese Erwartungshaltung provoziert ein katastrophales Missverständnis. Der junge Mensch begegnet einer müden Welt, die sich abgearbeitet hat an geschichtlicher Schuld, an persönlichem Versagen, an Umwelt-belastungen, an Vorschriften und Regularien, an Einschränkungen und Entbehrungen, Hunger und Durst, an Arm und Reich, an Schön und weniger Schön, an Liebe und Gefühllosigkeit, an Erotik, Sex und schließlich sozusagen über allem: Geld. Konfrontiert mit Lebensentwürfen, die von den vorgenannten Merkmalen geprägt worden sind, erhält der junge Mensch, sozusagen als Survival-Kit ein Handbuch, in dem umfassend und detailliert beschrieben eigentlich nur ein einziger Satz steht: Friss oder stirb! Die Brutalität, mit der das verfasste Leben auf den jungen Menschen einwirkt, prägt ihn, macht ihn misstrauisch, habgierig, falsch, wendig aber auch atemlos, depressiv und bald genauso erschöpft und gleichgültig wie alle Anderen auch in unserer Gesellschaft. Natürlich gibt es Revolten, den Protest gegen die Unerbittlichkeit des vorgefundenen Seins, der sich ausdrückt in jugendlichen Ritualen, Sprachverhalten und ganz generell in der Ablehnung und Abwehr Erwachsener. Doch helfen kann dies angesichts der mächtigen Strukturen und des abgebrühten Verhaltens vieler Menschen wenig. Nimmt das Verhalten der Jugendlichen exzessive Züge an, landen sie im Gefängnis, sind arbeitslos und ausgegrenzt. Die gesellschaftliche Norm unseres Lebens ist die Erwachsenenwelt, an der sich alle messen lassen müssen. Die Erwachsenenwelt bestimmt, was jugendlich ist, was kindlich, was sich im Alter gehört. Die Erwachsenenwelt definiert den Lifestyle. Dies soll an ein paar Beispielen festgemacht werden:
Medien. Ich bin ein Star, holt mich hier raus!
Dem Menschen kann es nicht verwehrt sein, selbst die ekligsten Sachen über sich ergehen zu lassen, wenn es ihm Freude macht. Es ist aber nicht die Freude, die dem Spiel innewohnt, sondern der verzweifelte Versuch der Selbstbehauptung des Menschen, in einer anonymen und gleichgültigen Welt.
„Ich werde gesehen, also bin ich.“ Dieses Format gilt selbstverständlich nicht nur für Prominente, die konsequent zu Talkshows wallfahren, sondern auch für Nachmittags-Talksoaps mit „Hinz und Kunz“. Trotz aller Fragwürdigkeit und Beliebigkeit aller an solchen Veranstaltungen Beteiligten bleibt der Eindruck, dass wir uns alle, Probanden und Zuschauer, in diesen Minuten medialer Begegnung näher kommen, miteinander verwandt sind. „Ich werde gesehen, also bin ich.“ Ich darf ihn/sie sehen, also bin auch ich einbezogen. Die mediale Zwiesprache ist selten auf Distanz angelegt, sondern auf Nähe. Die Sängerin singt nur für den einsamen Zuschauer, der Koch kocht nur für die erlebnisbereite Hausfrau etc. Natürlich wissen wir, dass dies in der Wirklichkeit nicht so ist. Wenn wir aber, was uns ja empfohlen wird, die Realität ausblenden, dann ist es so, wie es gesagt wird. Wir sind nicht mehr ganz so alleine und fühlen uns sicherer durch diese gemeinsam erlebte Orientierung.
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Hans Eike von Oppeln-Bronikowski