Archiv für den Monat: Oktober 2014

Ein Prosit auf das mir vertraute fremde deutsche Land!

Rothenburg ob der Tauber bei Regen. Mein Schlüsselsatz, um Deutschland überall auf der Welt zu jeder Zeit zu begehren. Die Magie Deutschlands ist gegenwärtig. Sie ist in unser aller Gemüt, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt. Ich bin ein Deutscher. Ich bin in Deutschland geboren. Ich habe deutsche Vorfahren und unterschiedliche deutsche Heimaten. Es ist nicht das Anderssein, welches mich gestaltet, sondern die Identität mit meinem Land, meinem Volk und meiner Geschichte. Daran knüpfe ich keine Erwartungen, sondern ich stelle einen Sachverhalt fest. Ich beschäftige mich mit meinem Deutschsein in unterschiedlichster Weise. Zunächst denke ich darüber nach, wie weit der Stammbaum meiner Familie in die Vergangenheit zurückwirkt. Nicht der Stolz begleitet meine Gedanken, sondern die erwartete Gewissheit einer mittleren Ewigkeit des Daseins. Nachdem ich die Anker wieder gelichtet habe versuche ich, die Fahrt nachzuempfinden, die ich in dem Familienkahn die vielen hundert Jahre zurückgelegt habe. An fremde Gestade wurde das Schiff gespült, Polen, England, Schweden und sogar Russland. Immer wieder hat das Boot Fahrt aufgenommen und ist hier- und dorthin geeilt. Der eine wurde ausgeladen, der andere an Bord genommen. Das war die für mich bestimmte Fahrt, eine Fahrt, die mich zum Deutschen gemacht hat. Deutsch sind die Erfahrungen unserer Gesellschaft, deutsch ist aber auch jeder aktuelle Aspekt der Gegenwart. Wie in einem Kaleidoskop spiegeln wir uns vielfältig in jedem Augenblick unserer Geschichte und stellen dabei fest, dass das Glück des Deutschen darin besteht, lernen zu dürfen. Indem er das Guckrohr dreht, bricht sich das Bild und offenbar neue, zumindest aber andere Bilder als die in seiner bisherigen Wahrnehmung entstehen. Der ständig lernende Mensch, das sollte des Deutschen Stolz sein.

Des Deutschen Stolz ist durch das Dritte Reich erschüttert worden. So empfinden wir es mehrheitlich zumeist. Das Selbsterschrecken des Holocaust.

Es gibt keine Möglichkeit, die Schoah zu relativieren. Sie entzieht sich jeglicher Ausdeutbarkeit und lässt nur erahnen, was in uns allen Menschen, also auch dem deutschen Menschen steckt.

Das furchtbare der Wahrnehmung ist dabei aus dem Gesetz abzuleiten. Franz Kafka hat mit seiner Erzählung aus der „Strafkolonie“ die Rituale für die geistige, körperliche und seelische Verwüstung aufgezeigt. Die Deutschen waren fähig so zu handeln, wie dies geschah, weil ihre rechtspositivistische Einstellung ihrem „Führer“ Gelegenheit gegeben hat, sie zu beherrschen. Deutsche waren und sind gesetzestreu. Das ist an sich nichts Schlechtes, aber das Gesetz an sich ist noch kein überzeugendes Argument. Es ist ein politisches Argument, in einem Rechtsstaat sogar ein rechtsstaatliches, am Gemeinwohl orientiertes Argument. Es ist aber kein Argument, welches ipso jure sich über alle anderen Argumente erheben dürfte, d. h. über alle Argumente der Sinnlichkeit, der Rationalität, der Vernunft, der Menschlichkeit, des Empfindens und des integren Handelns. Gilt ausschließlich das Gesetz, macht es denjenigen, der das Gesetz bricht, zum Verräter und schafft demjenigen, der sich an das Gesetz hält, die scheinbare Ruhe eines aufrechten Menschen. Nur so ist es erklärbar, dass manche Deutsche sich trotz ihrer mehrheitlich schlimmen Verbrechen aufrecht und ehrbar haben fühlen können.

Kein Deutscher muss an der Vergangenheit seines Volkes verzweifeln. Die deutsche Geschichte ist auch eine solche der Aufklärung und des mutvollen Handelns. Alexander von Humboldt als Naturwissenschafter, Martin Luther als Theologe oder Friedrich Hölderlin als ungestüm empfindsamer Dichter haben aus dem deutschen Wesen das herausgewendet, was uns Würde verleiht. Es geht nicht nur um die Würde jedes einzelnen Menschen, sondern auch um die Würde unserer aller Menschen, um die Würde unserer Gesellschaft und unseres Volkes. Wenn wir uns darin spiegeln, erblicken wir die Verantwortung, die uns allen und jedem Einzelnen von uns auferlegt wird, um die kulturellen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben zu meistern.

‚Deutschland, das Land der Erfinder’, so wird getitelt. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, der Philosophen und Schriftsteller, Techniker und einer außerordentlich gewissenhaften Arbeiterschaft. Deutschland als Exportweltmeister, Deutschland als Zukunftsland der Gesundheit und Bildungsoffensive ohne seinesgleichen. Deutschland, ein Land, welches andere Menschen, aus anderen Heimaten, aufnimmt, integriert, ihnen wieder Heimat gibt, ihnen erlaubt, auch Deutsche zu sein. All dies stellt man sich vor, erwartet und erträumt man sich.

Deutschland, der deutsche Mensch, ist dazu fähig, sich dieser Herausforderung zu stellen. Da bin ich mir ganz sicher. Aber oft gewinne ich den Eindruck, dass er dies gar nicht will. Noch immer scheint der Deutsche auf der Flucht vor seiner Verantwortung zu sein, am Arbeitsplatz oder der Familie oder gar vor sich selbst. Deutschland ist ein Land der immerwährenden Ferien, Events und Belustigungen. Am liebsten würden wir alle Freizeitaktivitäten über das Jahr so verknüpfen, dass es kein Ende und keinen Start gibt. Dabei ist nicht die Vergnügungssucht der eigentliche Motor unserer weltumspannenden Hetze nach Frohsinn und Urlaub. Wir versichern uns durch unser Verhalten der ständigen Anwesenheit in der Realität. „Wir sind noch da!“ ist ein beständiger Schlachtruf nach dem Zweiten Weltkrieg. Indem wir uns im Internet verknüpfen, ständig in Vereinen, Lokalen und Bierwirtschaften herumhängen, versichern wir uns wechselseitig unseres Daseins. Um ganz sicher zu gehen, dass sich diese Form der Wahrnehmung gleichmäßig auf die gesamte Gesellschaft verteilt, achten wir auf eine allumfassende Versicherung unseres Lebens in jeder nur denkbaren Hinsicht.

Versicherungen sind einer der Triumphe unseres deutschen Wesens. Wir haben nicht nur Kranken-, Lebens-, Pflege-, Auto-, Hausrat-, Rechts- und Reisekostenversicherung, sondern sämtliche Formen der Versicherung gegen jedes Lebenswagnis einschließlich der Kosten für unsere Beerdigung. Wir sind abgesichert, sogar gegenüber unserem eigenen Übermut. Wir können nicht ohne Weiteres kündigen, was wir selbst so fest gezurrt haben. Wir müssen Bezugsberechtigungen ändern und Altersvorteile neu regeln, Doppelversicherungen in Kauf nehmen und schließlich doch noch Regelungslücken erkennen. Regelungslücken und deutsche Gründlichkeit. Das ist einer der Supergaus, die leider so häufig vorkommen und uns schmerzlich unsere Verletzlichkeit vor Augen führen. Erkennt der Politiker eine Regelungslücke, wird er sofort alles daran setzen, diese zu schließen und dabei auf Gerechtigkeit zu achten.

Gerechtigkeit ist das Banner einer homogenen deutschen Gesellschaft, die Heuschreckenschwärme vertreiben und Korruptionssümpfe austrocknen soll. Ist Gerechtigkeit eher auf der Nehmer- oder Geberseite? Wer bestimmt das Maß? Eines der Rätsel unserer Gemeinschaft ist die Delegation jeglichen selbstbestimmten Verhaltens an die Politik. Der Staat soll es richten. Früher der Fürst, jetzt der Staat? Wahr ist womöglich, dass wir in guten Zeiten die Demokratie nur eingeschränkt benötigen, eher die starke, austeilende und gerechte Hand. Aber in schweren Zeiten ist Demokratie besonders vonnöten, d. h. die Kontrolle der Verhältnisse durch den Bürger. Wann kann man wie lange noch zuwarten? Die deutsche Demokratie darf nicht nur, sondern muss selbstbewusst sein angesichts bisheriger geschichtlicher Verhängnisse. Der Bürger ist der Souverän und nicht die Politik. Der Bürger schließt seinen Vertrag mit dem Staat und vertraut diesem Aufgaben an, die dieser für ihn erledigen soll. Eine nachhaltig wirksame deutsche Bürgergesellschaft fertigt Politikentwürfe, leitet hierzu den großen gesellschaftlichen Diskurs ein und überantwortet das Ergebnis der Politik zur Prüfung der Umsetzbarkeit und des Vollzugs.

Wir brauchen keine weiteren Museen, in denen wir die deutsche Geschichte anstarren wie eine Maus die Schlange. Wir benötigen zentrale Plätze wie z. B. das Humboldtforum in Berlin-Mitte, das Stadtschloss als Ersatz des Palastes der Republik, um in diesen Räumen den gesamtdeutschen Dialog mit unserer ganzen Gesellschaft und unseren europäischen Nachbarn zu fördern, um aus Deutschland einen Impuls zu setzen für die Schaffung eines geeinten integrativen bürgerschaftlichen Gemeinwesens aller europäischen Heimaten.

Ein solches Deutschland, ein solches Europa würde auch mir nicht mehr fremd sein und Barbarossa unter dem Kyffhäuser könnte endlich seinen Bart aus dem Tisch ziehen und dadurch ein Märchen wahr werden lassen.

Dann würden alle Märchen wahr.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Mehr davon gibt es im nächsten Beitrag …

Das Nationaldenkmal

Von Tilleda aus bin ich hinaufgestiegen zum Kyffhäuser, unserem Nationaldenkmal. Der Weg war beschwerlich. Nun stehe ich vor diesem Monument und betrachte den mürrisch dreinblickenden Barbarossa und einen in Bronze stolzen Hauptes reitenden Wilhelm I. Das Nationaldenkmal wurde 1890-1896 geschaffen in dem Bewusstsein, einen Beitrag zur deutschen Einigung zu leisten. Die Deutschen sollten in Krieg und Frieden zusammenstehen wie ein Mann oder die Frau hinter dem Mann. Heute würde kein Fürst mehr vergessen, auch der Frauen zu gedenken, sonst würde die Gleichstellungsbeauftragte protestieren. Geschichte ist nicht korrigierbar. Wir versuchen aber, aus ihr zu lernen.

Einträchtig staunt rundherum das Volk. Es steht wegen der Erhabenheit und Größe der Darstellung dieser Helden in gebührendem Ab- stand. Nach Anreise und schwerem Aufstieg hat es sich gestärkt mit Thüringer Rostbratwurst oder erfreut an einer Tüte Eis. Ringsum sehe ich nur zufriedene Gesichter. Die Menschen liegen auf der Lauer mit Fotoapparaten und Videokameras. „Dem Deutschen Volk“. Das deutsche Volk hat seine Ehrung angenommen, die ihm vor mehr als 100 Jahren widerfahren ist, und zehrt noch heute von diesem in Stein gehauenen Glück. Trotz der hohen Eintrittspreise sind alle mit ihrer Entscheidung, hierher gekommen zu sein, offensichtlich einverstanden. Aus den aufzuschnappenden Bemerkungen wird der Stolz deutlich, der die Besucher angesichts dieser monumentalen Pracht erfüllt. Ich bin ein Deutscher! Ich bin vom Kaiser persönlich angesprochen worden an diesem frühen Ostersonntagnachmittag.

Das Volk. Das deutsche Volk. Es hat sich aufgemacht zur massenhaften Einkehr. Unterhalb des Kyffhäusers lockt eine Walhalla des Essens, Trinkens und des bürgerlichen Frohsinns, Biker wie Bustouristen, Naturfreunde und Wanderer. Alle haben sich versammelt zu Schweineschnitzel in vielen Variationen, Wildgulasch und Forelle. Auge, Magen und Gemüt schmausen, stärken die Vorfreude auf das kommende Erleben. Es ist dem Ordnungssinn der Kellner und dem Geschäftssinn der Gaststättenleitung zu danken, dass alles in wohl- geordneten Bahnen verläuft und so die Zufriedenheit erhalten bleibt. Durch den Einwurf von Glückssteinen in einen Brunnen ist es möglich, Kaiser Barbarossa in der Tiefe seiner Höhle anzurufen. Kinderspielplätze und Erlebnisbereiche schaffen Parallelerfahrungen von nachhaltigem Erinnerungswert.

Sinnend stehe ich noch vor Kaiser und Barbarossa und werde mir des Opfers bewusst, welches die beiden erbringen mussten, um dem deutschen Volk einen österlichen Anschauungsfrieden zu verschaffen. Ich schaue in die Gesichter, die mit mir hochblicken zum Reiter, beobachte eine ältere Frau, die ihre Handtasche über den Kopf hält, um die Sichtweise trotz Sonneneinstrahlung zu verbessern, und ein Kind, welches dabei ist, sich mit dem Ärmel der Jacke das Eis aus Mund und Nase zu wischen. Seht her, ihr Kaiser und Könige. Euer Volk ist gekommen, um eure Herrlichkeit zu bewundern. Während schon die Bikermotoren aufheulen, bin auch ich aufgebrochen, um über gut ausgeschilderte Wege wieder diese Monumentenstätte zu verlassen. Die eben noch unterscheidbaren Geräusche von Lachen, Schreien und Hupen werden allmählich gedämpft durch die Geschäftigkeit des Waldes, während ich ins Tal stürze.

Auf welcher Seite stehe ich? Ein Gefühl sagt mir, dass nicht das Volk die Schuld an dieser Banalität trägt, sondern die mit den Insignien der Macht ausgestatteten Helden. Ihnen hat man den schwarzen Peter zugeschoben. In ihrem steinernen Glanz sonnt man sich nun, um dem Volk stellvertretend ein Beispiel zu geben, wie die eigenen Möglichkeiten, die niemals genutzt werden, beschaffen sein könnten. Aber diese Zufriedenheit. Womit kann ich sie erklären? Reicht es, Andere dafür zu bewundern, was sie für Deutschland erledigt haben? Sind unsere Kaiser und Könige etwa Vorbilder? Wie sollten sie es denn sein, wo wir sie doch abgeschafft haben. Sie sind Teil des deutschen Geschichts- und Sagenschatzes. Sie haben keinen Einfluss mehr! Und doch sind wir stolz auf sie. Es muss eine außergewöhnliche Verbindung bestehen zwischen uns und denen, die wir erledigt haben. Hitler zum Beispiel. Natürlich distanzieren wir uns von ihm, aber er ist harmlos gegenwärtig in Witzen und Betrachtungen zu seinen Malkünsten und kriegerischen Fähigkeiten. In unseren Museen hat alles Platz. Wir archivieren das Banale und den Schrecken, schaffen Holocaustdenkmale und zapfen flott daneben bayerisches Bier. Das wirkliche deutsche Denkmal ist die Fähigkeit des Deutschen, mit sich selbst einverstanden zu sein im Anspruch und der Verweigerungshandlung gleichermaßen. Hier stehe ich und kann nicht anders. Der trotzige Reformatorenspruch bedeutet dem Deutschen das Eingeständnis, nicht bewegungsfähig zu sein. Er beansprucht die eigene Sicherheit von der Wiege bis zur Bahre und gibt Anderen nur dann, wenn es ihm einen Vorteil verschafft. Mir scheint, der lebendige Deutsche unterscheidet sich wenig von dem in Stein gemeißelten Monument.

In dieser Ähnlichkeit sind sie sich vertraut, deshalb die Freude und der Frohsinn an diesem schönen Osterspaziergangsnachmittag.

Als ich Tilleda erreiche, schäme ich mich wegen meiner abgründig bösen Gedanken und wechsle ein paar nette Worte mit dem Wirt, der mir einen klaren Apfelschnaps einschenkt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Mehr davon gibt es im nächsten Beitrag …

VORWORT

Hans Eike von Oppeln-BronikowskiLiebe Leserinnen und Leser,

dieses Sammelsurium ist ein Korb voller Ideen und spontaner Ansichten, weder geordnet noch jemals vollständig gefüllt, ohne Anspruch auf Wahrheit oder Wichtigkeit, einfach einer momentanen Eingebung folgend, als an eine Erinnerung an den Augenblick gedacht.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Fremdes Land

Deutschland ist ein fremdes Land. Diese Behauptung fordert zum Widerspruch heraus, denn wir Deutsche kennen uns doch genau oder? Wir sehnen uns nach uns selbst, wenn wir in der Fremde sind. Wir wünschen uns weg und bleiben doch hier. Wir schaudern vor der geschichtlichen Hypothek,  erkennen  aber  auch  unsere  Möglichkeiten  zu  gestalten,  uns  einzubringen  in  die Herausforderungen einer  komplexen  und  sich ändernden Welt. Deutschland als Werkstatt, als Atelier der Zukunftsentwürfe und Produktionsstätte von Ideen. Wie fremd ist uns das Fremde immer auch noch dann, wenn wir uns ihm genähert haben? Lösungen gibt es nicht, wir können aber Asymptoten ziehen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

 

Kontrollverlust

Profillosigkeit hat Methode. Ein Politiker ohne Profil fällt medial weniger auf. Die Kanzlerin ist dafür ein beredtes Beispiel. Möglichst keine Stellung beziehen. Wenn dies unumgänglich ist, dann Sachverhalte mit Worten ausdrücken, die einfach sind. „Wenn etwas kaputt geht, zum Beispiel bei der Bundeswehr, dann muss man es halt reparieren.“ Das sei ja beim Auto leider genauso. Wo sie Recht hat, hat sie Recht und mehr zu sagen hätte allenfalls die zuständige Verteidigungsministerin. Diese verweist ihrerseits auf Sachzwänge und Vorgänger. Sie steht dennoch etwas dumm da im Gegensatz zur Kanzlerin. Sie hat die Kontrolle verloren und muss befürchten, doch nicht unsere nächste Kanzlerin zu werden.

Für uns selbst schätzen wir aber die Kontrollverluste, denn sie bieten uns Gelegenheit, andere dafür verantwortlich zu machen, dass etwas schief geht. Irgendjemand wird letztlich schon für die Schadensbeseitigung sorgen. Das ist auch gut so. Dies ist auch gut für uns.

Ist das wirklich so? Einerseits sicher ja, andererseits aber reiben wir uns an dieser Profillosigkeit, dieser geschmeidigen Fürsorge, die jeden Elan beseitigt. Was ist an Libertinage noch liberal? Was ist noch Christliches an unserem Sozialsystem? Wie gerecht ist die gesellschaftliche Aufteilung des „Volks“-Vermögens? Viele Detailfragen und noch mehr Fürsorge und konstruktive Antworten der Politiker darauf. Doch wollen wir das, wir der Souverän, die Bürger? Sind uns die Parteien und ihre Programme noch vertraut, attraktiv und korrespondieren sie mit unserer Sehnsucht nach umfassenden Lebensentwürfen? Wenn Freiheit, direkte Demokratie und Liberalismus ausdekliniert sind, was sollen wir dann damit noch anfangen? Dies gilt für Christ- und Sozialdemokratie ebenfalls. Und es gibt andere Parteien wie die AfD, was machen die anders oder besser? Eigentlich nichts konkretes, aber sie wecken unsere Begeisterungsfähigkeit? Früher einmal war Liberalismus noch ein Kampfbegriff, heute eine Chimäre. Und, was sollen wir tun? Die vollmundigen Ideengeber wählen, die Führer, die sich vorgenommen haben, ihrerseits Kontrolle über uns zu erlangen? Das wäre Regen in die Traufe. Wir müssen selbst die Stichworte liefern für eine verheißungsvolle Welt, dies mit viel Realitätssinn, aber auch mit Visionen. Wir müssen uns wahrnehmen in einer Gesellschaft, in der wir leben wollen und dafür kämpfen, dass sie sich entwickelt. Freiheit gehört sicher dazu. Die Freiheit, nicht mitzumachen oder mitzumachen. Die Freiheit, auch davon verschont zu bleiben, was man nicht will. Zur Freiheit gehört Solidarität. Zur Solidarität gehört nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. „Zu geben ist gerecht.“ Ein Appell an die, die das können, es ernst zu machen mit der Umverteilung, um nicht nur die Chancengerechtigkeit in unserer Gesellschaft zu erhöhen, sondern auch die Voraussetzung für ein entwicklungsfähiges Leben nach dem Eigenen für unsere Nachkommen zu schaffen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ruck geben

Nur, wer grenzenlos spinnt, ist in der Lage, das Resultat normativ zu ordnen. Diese Erkennt­nis drängte sich mir auf, als ich Anfang der 80er Jahre eine Ausstellung besuchte, die unter dem Motto stand „Täglich das Unmögliche tun“. Es wurden die Werke der Meister des Bau­hauses u. a. Feininger, Schlemmer, Gropius präsentiert. Was leite ich für unseren heutigen Kongress davon ab. „Spitze bleiben“ heißt, sich immer wieder neue finden und sogar zu er­finden, auf Entdeckungsreise gehen, neue Produkte zu entwickeln, von der Zukunft her den­ken und nicht rechthaberisch mit dem bereits erzielten unternehmerischen Erfolgen umgehen. Sind dies Binsenweisheiten? Ja vielleicht. Es ist aber hilfreich, sich dies immer wieder vor Augen zu führen, sich zu spiegeln in den Möglichkeiten, die es auch noch gibt, die wir bisher aber nicht erprobt haben. Das war einer der Gründe, weshalb ich in Erinnerung an den Aus­stellungsbesuch Anfang der 80er Jahre und nach Aufnahme der bekannten Adlon-Rede un­sere Bundespräsidenten Roman Herzog – es soll ein Ruck durch Deutschland gehen – die Ruck – Stiftung des Aufbruchs gründete mit dem Ziel zu erfahren, welche Entwicklungen bei uns selbst durch Impulse ausgelöst werden können, auf die wir uns einlassen. Es geht dabei nicht nur um die ganz großen Dinge, nein, sondern auch um die kleinen Möglichkeiten im Alltag, in der Familie und bei der Arbeit. Durch dieses Zulassen von Anregungen, Entwick­lungen durch Engagement entsteht Neues. Dabei spreche ich nicht von Projekten, sondern von Selbstverständlichkeiten und Produkten auch im philanthropischen Bereich.

Ehrbarer Kauf­mann, Socials Responsibility, Good Governance, Complience. Alles dies sind Aufbruchsig­nale der Realwirtschaft mit dem Ziel, Verlässlichkeit zu schaffen, neue Erfahrungen zu schöp­fen und werteorientiert zu arbeiten, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein und dabei Gutes zu tun. Philanthropic Industries – ein Begriff, den ich geprägt habe – kommt bekanntlich von Industria und heißt so viel wie Fleiß und Betriebsamkeit. Dies soll wegweisend sein für den gesamten philanthropischen Bereich, d. h. Produkte zu entwickeln, die wie in der Marktwirt­schaft ebenfalls Marktgeltung erlangen können, nachfrageorientiert und begehrenswert für andere Menschen sind. Es ist sinnvoll und zukunftszugewandt, dass wir auch unter diesem Gesichtspunkt die Energie-, Gesundheits- Pflege- und Betreuungsstrukturen analysieren, verändern und gekonnt ausbauen. Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten, die auf unsere Zuwendung angewiesen sind. Einige haben wir im Rahmen der Ruck – Stiftung des Aufbruchs selbst be­nannt, andere werden bereits  angedeutet, aber soweit ich sehe, noch nicht umgesetzt.

Ich bin überzeugt davon, dass schon etliche die Meister von Morgen sind, ihren Vor­habenplan für enthusiastische Maßnahmen im Tornister haben und nur darauf warten, dass sie uns zeigen können, was auch noch möglich ist. Viele wissen, dass das Leben eine wunderbare lange Veranstaltung ist, aber auch einmalig. Jeder sollte daher seine Fähigkeiten, seine Leidenschaft und seine Erfahrungen nutzen, ob er jung oder alt ist, das spielt dabei keine Rolle und sollte uns mitnehmen auf den Streifzügen durch die Galaxien seiner Fantasien. Lasst uns gemeinsam Neuland betreten, Gebiete, auf denen es nach einer Generation schon wieder selbstverständlich sein wird, dass wir sie in Besitz genommen haben.

Berlin, 08.10.2014

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski
Ruck – Stiftung des Aufbruchs

Wortmeldung

Vor kurzem warb bei einer Veranstaltung im Rahmen des Vision summit 2014 mit dem Titel „WeQ – more than IQ“ der Gastgeber für eine neue Innovationskultur in Europa.

Eine auch aus meiner Sicht hochspannende Veranstaltung bei der die Keynote-Rede von dem Sozioökonomen Jeremy Rifkin gehalten wurde. Seine Ansprache dauerte fast eine Stunde in freigehaltener Rede und beschäftigte sich erkennbar mit der Fragestellung, ob wir nicht nur Konsumenten, sondern auch gleichzeitig Produzenten seien. Die Schnelligkeit, mit denen Herr Rifkin seine Thesen vortrug und begründete, beindruckte mich sehr, vor allem aber die Süffigkeit seiner Argumentation, die mich allerdings eher an Brainwashing erinnerte, als an eine Anregung, gemeinsam denkend zu erarbeiten, wie nicht nur ich mit meinem Computer und meinen Handys die Zukunft gestalten kann, sondern wir uns alle gemeinsam als Unternehmer kostengünstig entwickeln. Ich habe überhaupt nichts gegen Egoshooter, insbesondere wenn ihre Gedanken so anregend sind, dass es sich lohnt, sich mit diesen näher zu beschäftigen. Vielleicht sollte ich doch sein neues Buch kaufen, welches bei der Veranstaltung promoted wurde. Es ist ja ganz normal, dass von den 700 Zuhörern im Saal nicht alle eine Meinungsführerschaft für sich beanspruchen können, sondern den passiven Teil des „Wir´s“ bevorzugen. Es zeugt schon von herzlichem Gemeinsinn, wenn einer der Paneldiskutanten 700 Zuhörer um ein Bonbon bittet, weil er Halsschmerzen hat. Das ist rührend und vermittelt tatsächlich so ein wohliges Gefühl der Zusammengehörigkeit, denn wer kann sich nicht leidvoll an seine eigenen Halsschmerzen erinnern. Vielleicht wäre es gut gewesen zu fragen, wer sonst noch Halsschmerzen hat, damit sich eine Wir-Gruppe der Halsschmerzengeschädigten bei dieser Gelegenheit sich hätte finden können. Dieser Gag tat natürlich der Veranstaltung keinerlei Abbruch und mein Erkenntnisgewinn war enorm hoch. Es funktioniert halt immer. Eine hochkarätige Veranstaltung findet statt, ausnahmsweise sind die Vortragenden bedeutungsvolle VIP-„Ichs“ und die „Wir´s“ müssen sich mit Brezel und Wasser begnügen, während die VIP´s ins Olymp der Veranstaltungsstätte entschweben. Das ist alles nicht vorwerfbar, sondern entspricht unseren gesellschaftlichen Ritualen. Ich selbst genieße oft selbst diese Aufmerksamkeit. Am Abend stellte sich und dem Publikum der Gehirnforscher Gerald Hüther die Frage, was den Menschen ausmache und für was er geschaffen sei. Er wies auf die biologischen, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Menschen hin. Das war kein Beitrag, der von Geschwätzigkeit geprägt war, sondern nachdenklich stimmte. Was macht uns Menschen aus? Sind wir nur wir oder auch ich? Persönlich, leistungsorientiert oder gemeinschaftlich? Welche Entwicklungsfähigkeit hat der Mensch in welcher Zeit entwickelt. Tut es ihm gut, wessen er aufgrund technologischen Fortschritts in einer schrumpfenden Welt ausgesetzt ist? Wie reagiert der Mensch auf seine Vereinzelung, aber auch auf seine Vereinnahmung durch andere? Bin ich das, als dem ich mich begreife oder erkenne ich mich nur im neuralen Blitzgewitter der Reaktionen anderer? Keine Modelle, keine kompletten Aussagen, sondern Irritationen. So wünsche ich mir eine Positionsbestimmung des Menschen, ob als „ich“ oder als „wir“.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Weniger ist mehr

Wir leben in Zeiten des kulturellen Overkills. Nach der Show ist vor der Show. Wenn ich ins Konzert oder in die Oper gehe, ein Theaterstück besuche oder ein Museum durchstreife, meist, weiß ich schon am nächsten Tag nicht mehr genau, wo gewesen bin, was ich gesehen und gehört und habe, sondern der starke Eindruck verfliegt wie der Traum der letzten Nacht. Woran liegt das?

Wir werden unablässig verlockenden Angeboten ausgesetzt, die wir anstatt uns über sie zu freuen, abarbeiten in der Hoffnung, dass wir noch den Überblick behalten, selbstbestimmt auswählen dürfen, was uns passt oder nicht. So unsere Vorstellung. In Wirklichkeit aber werden wir getrieben von Verpflichtungen, die wir als kulturell begreifen, benötigen ständig die Selbstbestätigung in immer niedrigeren Frequenzen. Wir haben keine Kapazitäten mehr, um das Erlebte langfristig zu speichern, bei Bedarf zu verarbeiten und mit anderen Erfahrungen abzugleichen. Oft hatte ich sehr gute Gespräche mit anderen Menschen. Wir versicherten uns bei der Trennung, unbedingt in Kontakt zu bleiben, gemeinsam Projekte zu verwirklichen und uns wieder zu treffen. Würde ich mich darauf verlassen, käme es wahrscheinlich zu keiner Zweit- oder Drittbegegnung, denn kaum haben wir das Treffen beendet, gibt es schon wieder neue Herausforderungen, die unsere gesamte Aufmerksamkeit erfordern. Aus den Augen, aus dem Sinn. Der Volksmund hat auch an dieser Stelle sicher Recht. Bedauerlicherweise trifft dies aber nicht nur für Begegnungen unter uns Menschen zu, sondern auch bei unseren Begegnungen mit der Kultur. Die Inflation von Angeboten wird zunehmen, aber wir haben die Chance zu lernen, uns selbst zu reduzieren, uns einzulassen auf das Wesentliche. Mein Vater hat den Satz geprägt: „Mensch, werde wesentlich.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Bildungsmacht

Die Kontinuität der Unterbreitung von Bildungsangeboten an Eltern und Kinder schafft die Voraussetzung dafür, auch künftige Krisen in unserer Gesellschaft auf allen Gebieten zu meistern. Bildung ist nicht das Privileg von Wenigen, sondern überlebensnotwendig. Bildung muss dort wirken, wo Menschen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, d. h. schon bei den Eltern, die sich vorbereiten auf die Geburt ihres Kindes. Das noch nicht geborene Kind hat bereits einen Bildungsanspruch, der vom ersten Lebenstag an verwirklicht werden muss.

Bildung ist nicht nur Wissen, sondern beinhaltet vor allem die Fähigkeit der Erkenntnis, jenseits rationaler oder gefühlter Einschätzung von Situationen. Ohne die Erkenntnisfähigkeit wird auch in Krisen nur scheinobjektiv gehandelt und bleiben Fragen auf der Strecke, ob die jeweiligen Störungen systembedingt sind oder bereits Veränderungsprozesse in Gang setzen. Bildungsträger sind dazu geeignet, allen Menschen und den Märkten, auf denen sie tätig sind, das Handwerkszeug zu erklären, mit dem sie die jeweiligen Krisen meistern können. Die Krise als Chance. Im Rahmen dieses Diskurses muss auch das grenzenlose, nicht nur normative Denken zum Zuge kommen, um die daraus gewonnene Erfahrung dann konkret zu verwirklichen, und zwar durch den Menschen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Über die Ruck – Stiftung des Aufbruchs

Im Februar 2007 wurde die gemeinnützige, staatlich anerkannte Ruck – Stiftung des Aufbruchs in Berlin gegründet, um sich stark zu machen für bürgerliches Engagement und eine Gesellschaft der Selbstverantwortung und Solidarität.

Die Ruck – Stiftung des Aufbruchs versteht sich als operativ tätige Stiftung, die Denkanstöße gibt, Paradigmenwechsel fördert und Veränderungen bewirkt. Wir wollen einen Beitrag leisten zu mehr Bürgerbewusstsein, Verantwortlichkeit und Innovationsfreude in unserer Gesellschaft.

Wer den Aufbruch wagt und mit Freude bereit ist, „täglich das Unmögliche zu tun“, findet in der Ruck – Stiftung des Aufbruchs einen zuverlässigen Partner. Die Stiftung steht allen offen, die sich mit ihr und für sie engagieren und dadurch auch Anregungen für eigene Projekte erfahren wollen.

Viva Familia! ist das Kernprojekt der Ruck-Stiftung und konzentriert sich auf den Bereich der frühkindlichen Bildung. Ziel ist es, die Bildungsbereitschaft von Eltern zu stärken und ihre Aufmerksamkeit für das Lerninteresse ihrer Kinder zu wecken.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski