Rothenburg ob der Tauber bei Regen. Mein Schlüsselsatz, um Deutschland überall auf der Welt zu jeder Zeit zu begehren. Die Magie Deutschlands ist gegenwärtig. Sie ist in unser aller Gemüt, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt. Ich bin ein Deutscher. Ich bin in Deutschland geboren. Ich habe deutsche Vorfahren und unterschiedliche deutsche Heimaten. Es ist nicht das Anderssein, welches mich gestaltet, sondern die Identität mit meinem Land, meinem Volk und meiner Geschichte. Daran knüpfe ich keine Erwartungen, sondern ich stelle einen Sachverhalt fest. Ich beschäftige mich mit meinem Deutschsein in unterschiedlichster Weise. Zunächst denke ich darüber nach, wie weit der Stammbaum meiner Familie in die Vergangenheit zurückwirkt. Nicht der Stolz begleitet meine Gedanken, sondern die erwartete Gewissheit einer mittleren Ewigkeit des Daseins. Nachdem ich die Anker wieder gelichtet habe versuche ich, die Fahrt nachzuempfinden, die ich in dem Familienkahn die vielen hundert Jahre zurückgelegt habe. An fremde Gestade wurde das Schiff gespült, Polen, England, Schweden und sogar Russland. Immer wieder hat das Boot Fahrt aufgenommen und ist hier- und dorthin geeilt. Der eine wurde ausgeladen, der andere an Bord genommen. Das war die für mich bestimmte Fahrt, eine Fahrt, die mich zum Deutschen gemacht hat. Deutsch sind die Erfahrungen unserer Gesellschaft, deutsch ist aber auch jeder aktuelle Aspekt der Gegenwart. Wie in einem Kaleidoskop spiegeln wir uns vielfältig in jedem Augenblick unserer Geschichte und stellen dabei fest, dass das Glück des Deutschen darin besteht, lernen zu dürfen. Indem er das Guckrohr dreht, bricht sich das Bild und offenbar neue, zumindest aber andere Bilder als die in seiner bisherigen Wahrnehmung entstehen. Der ständig lernende Mensch, das sollte des Deutschen Stolz sein.
Des Deutschen Stolz ist durch das Dritte Reich erschüttert worden. So empfinden wir es mehrheitlich zumeist. Das Selbsterschrecken des Holocaust.
Es gibt keine Möglichkeit, die Schoah zu relativieren. Sie entzieht sich jeglicher Ausdeutbarkeit und lässt nur erahnen, was in uns allen Menschen, also auch dem deutschen Menschen steckt.
Das furchtbare der Wahrnehmung ist dabei aus dem Gesetz abzuleiten. Franz Kafka hat mit seiner Erzählung aus der „Strafkolonie“ die Rituale für die geistige, körperliche und seelische Verwüstung aufgezeigt. Die Deutschen waren fähig so zu handeln, wie dies geschah, weil ihre rechtspositivistische Einstellung ihrem „Führer“ Gelegenheit gegeben hat, sie zu beherrschen. Deutsche waren und sind gesetzestreu. Das ist an sich nichts Schlechtes, aber das Gesetz an sich ist noch kein überzeugendes Argument. Es ist ein politisches Argument, in einem Rechtsstaat sogar ein rechtsstaatliches, am Gemeinwohl orientiertes Argument. Es ist aber kein Argument, welches ipso jure sich über alle anderen Argumente erheben dürfte, d. h. über alle Argumente der Sinnlichkeit, der Rationalität, der Vernunft, der Menschlichkeit, des Empfindens und des integren Handelns. Gilt ausschließlich das Gesetz, macht es denjenigen, der das Gesetz bricht, zum Verräter und schafft demjenigen, der sich an das Gesetz hält, die scheinbare Ruhe eines aufrechten Menschen. Nur so ist es erklärbar, dass manche Deutsche sich trotz ihrer mehrheitlich schlimmen Verbrechen aufrecht und ehrbar haben fühlen können.
Kein Deutscher muss an der Vergangenheit seines Volkes verzweifeln. Die deutsche Geschichte ist auch eine solche der Aufklärung und des mutvollen Handelns. Alexander von Humboldt als Naturwissenschafter, Martin Luther als Theologe oder Friedrich Hölderlin als ungestüm empfindsamer Dichter haben aus dem deutschen Wesen das herausgewendet, was uns Würde verleiht. Es geht nicht nur um die Würde jedes einzelnen Menschen, sondern auch um die Würde unserer aller Menschen, um die Würde unserer Gesellschaft und unseres Volkes. Wenn wir uns darin spiegeln, erblicken wir die Verantwortung, die uns allen und jedem Einzelnen von uns auferlegt wird, um die kulturellen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben zu meistern.
‚Deutschland, das Land der Erfinder’, so wird getitelt. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, der Philosophen und Schriftsteller, Techniker und einer außerordentlich gewissenhaften Arbeiterschaft. Deutschland als Exportweltmeister, Deutschland als Zukunftsland der Gesundheit und Bildungsoffensive ohne seinesgleichen. Deutschland, ein Land, welches andere Menschen, aus anderen Heimaten, aufnimmt, integriert, ihnen wieder Heimat gibt, ihnen erlaubt, auch Deutsche zu sein. All dies stellt man sich vor, erwartet und erträumt man sich.
Deutschland, der deutsche Mensch, ist dazu fähig, sich dieser Herausforderung zu stellen. Da bin ich mir ganz sicher. Aber oft gewinne ich den Eindruck, dass er dies gar nicht will. Noch immer scheint der Deutsche auf der Flucht vor seiner Verantwortung zu sein, am Arbeitsplatz oder der Familie oder gar vor sich selbst. Deutschland ist ein Land der immerwährenden Ferien, Events und Belustigungen. Am liebsten würden wir alle Freizeitaktivitäten über das Jahr so verknüpfen, dass es kein Ende und keinen Start gibt. Dabei ist nicht die Vergnügungssucht der eigentliche Motor unserer weltumspannenden Hetze nach Frohsinn und Urlaub. Wir versichern uns durch unser Verhalten der ständigen Anwesenheit in der Realität. „Wir sind noch da!“ ist ein beständiger Schlachtruf nach dem Zweiten Weltkrieg. Indem wir uns im Internet verknüpfen, ständig in Vereinen, Lokalen und Bierwirtschaften herumhängen, versichern wir uns wechselseitig unseres Daseins. Um ganz sicher zu gehen, dass sich diese Form der Wahrnehmung gleichmäßig auf die gesamte Gesellschaft verteilt, achten wir auf eine allumfassende Versicherung unseres Lebens in jeder nur denkbaren Hinsicht.
Versicherungen sind einer der Triumphe unseres deutschen Wesens. Wir haben nicht nur Kranken-, Lebens-, Pflege-, Auto-, Hausrat-, Rechts- und Reisekostenversicherung, sondern sämtliche Formen der Versicherung gegen jedes Lebenswagnis einschließlich der Kosten für unsere Beerdigung. Wir sind abgesichert, sogar gegenüber unserem eigenen Übermut. Wir können nicht ohne Weiteres kündigen, was wir selbst so fest gezurrt haben. Wir müssen Bezugsberechtigungen ändern und Altersvorteile neu regeln, Doppelversicherungen in Kauf nehmen und schließlich doch noch Regelungslücken erkennen. Regelungslücken und deutsche Gründlichkeit. Das ist einer der Supergaus, die leider so häufig vorkommen und uns schmerzlich unsere Verletzlichkeit vor Augen führen. Erkennt der Politiker eine Regelungslücke, wird er sofort alles daran setzen, diese zu schließen und dabei auf Gerechtigkeit zu achten.
Gerechtigkeit ist das Banner einer homogenen deutschen Gesellschaft, die Heuschreckenschwärme vertreiben und Korruptionssümpfe austrocknen soll. Ist Gerechtigkeit eher auf der Nehmer- oder Geberseite? Wer bestimmt das Maß? Eines der Rätsel unserer Gemeinschaft ist die Delegation jeglichen selbstbestimmten Verhaltens an die Politik. Der Staat soll es richten. Früher der Fürst, jetzt der Staat? Wahr ist womöglich, dass wir in guten Zeiten die Demokratie nur eingeschränkt benötigen, eher die starke, austeilende und gerechte Hand. Aber in schweren Zeiten ist Demokratie besonders vonnöten, d. h. die Kontrolle der Verhältnisse durch den Bürger. Wann kann man wie lange noch zuwarten? Die deutsche Demokratie darf nicht nur, sondern muss selbstbewusst sein angesichts bisheriger geschichtlicher Verhängnisse. Der Bürger ist der Souverän und nicht die Politik. Der Bürger schließt seinen Vertrag mit dem Staat und vertraut diesem Aufgaben an, die dieser für ihn erledigen soll. Eine nachhaltig wirksame deutsche Bürgergesellschaft fertigt Politikentwürfe, leitet hierzu den großen gesellschaftlichen Diskurs ein und überantwortet das Ergebnis der Politik zur Prüfung der Umsetzbarkeit und des Vollzugs.
Wir brauchen keine weiteren Museen, in denen wir die deutsche Geschichte anstarren wie eine Maus die Schlange. Wir benötigen zentrale Plätze wie z. B. das Humboldtforum in Berlin-Mitte, das Stadtschloss als Ersatz des Palastes der Republik, um in diesen Räumen den gesamtdeutschen Dialog mit unserer ganzen Gesellschaft und unseren europäischen Nachbarn zu fördern, um aus Deutschland einen Impuls zu setzen für die Schaffung eines geeinten integrativen bürgerschaftlichen Gemeinwesens aller europäischen Heimaten.
Ein solches Deutschland, ein solches Europa würde auch mir nicht mehr fremd sein und Barbarossa unter dem Kyffhäuser könnte endlich seinen Bart aus dem Tisch ziehen und dadurch ein Märchen wahr werden lassen.
Dann würden alle Märchen wahr.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski
Mehr davon gibt es im nächsten Beitrag …