Archiv für den Monat: Dezember 2014

Massen und Einzelne – Vom Wesen der Anziehungskraft

José Ortega y Gasset hat in seinem berühmten Essay „Der Aufstand der Massen“ eindringlich beschrieben, was Massen für und in unserer Gesellschaft bedeuten, diese formen und durch Einzelne dazu ermuntert auch verformbar werden. Wir wissen das, denn wir sind selbst Angehörige einer Gesellschaft, deren Großeltern der Massensuggestion einer nationalsozialistischen Ideologie erlegen sind oder deren Eltern ihre Fahnen in einer Massenorganisation der DDR geschwenkt haben. Aber auch wir erheben keine Einwendungen dagegen, dass in der sogenannten Massendemokratie die Masse die politische Richtung bestimmt, und zwar unabhängig davon, ob diese Richtung falsch ist oder nicht. Wichtig ist uns Überzeugungskraft, ein wenig Robustheit und mediale Durchsetzungsfähigkeit. Sachverstand vermögen wir nicht zu überprüfen. In der Masse verschwindet nicht nur die Vielfältigkeit des individuellen Beitrags, sondern auch die persönliche Verantwortung. Der Einzelne in der Masse schätzt sich als hilflos ein oder erkennt, dass seine Hilflosigkeit in der Masse machtvoll wirkt. Das Ergebnis dieses Prozesses scheint mit dem Einzelnen wenig zu tun zu haben. Er hat seinen Beitrag schon durch die Zugehörigkeit zur Masse erbracht. An Erfolgen nimmt er noch persönlich Anteil, Misserfolge haben aber nichts mehr mit ihm, sondern nur noch mit der Masse zu tun. Die Entfernung von der Einzelverantwortlichkeit innerhalb der Masse hindert den Menschen schließlich daran, die Verantwortlichkeit fürs Ganze zu übernehmen. Die typischen Ausreden sind: „Das habe ich nicht gewusst“, „Ich selbst habe nichts damit zu tun“, „Ich habe doch darauf vertraut“ oder „Man hat mich bzw. uns verführt“. In der Masse nichts sehen, nichts hören und die Schuld anderen zuzuschieben. Diese Fähigkeiten haben die Deutschen insbesondere im Nationalsozialismus unter Beweis gestellt. Diese Gefahr ist aber trotz tiefer menschlicher Erschütterung auch für alle Zukunft nicht gebannt, denn die Ursachen liegen nicht in einer übermäßigen menschlichen Verwahrlosung, sondern im Gesetz der Masse. Wann aber wird die Masse gefährlich? Wer bestimmt den Rhythmus der Masse oder instrumentalisiert sie für ihre Zwecke? Sind es die Verführer oder die Verführten selbst, die sich gerne verführen lassen, um mitzumachen? Ein nicht zielgerichteter Beitrag des Einzelnen lässt dem Strom der Masse ihren Lauf, egal aus welcher Richtung er fließt. Nur eigene Energie reguliert den Strom, schafft Widerstand, der auch Masse zu zwingen vermag. Wie das Abstoßen von Kräften gehorcht die Masse auch der Anziehung. Offen ist sie für jeden Energiezufluss. Der Einzelne aber bleibt für sein Schaltsystem selbst verantwortlich, und zwar auch dann, wenn es ihm nicht gelingt, sich außerhalb der Masse aufzuhalten. Selbst in der Masse sind wir verantwortlich für unsere Verhaltensweise. Schneller, höher, weiter. Das entspricht unserem Anspruchsdenken. Beim Zocken andere zu überflügeln, das ist unser Lebenstraum. Alle Massenverbrechen der Nazis oder auch das Massenfinanzdesaster der Neuzeit sind von Menschen gemacht. Banken, Politiker und Aufsichtsgremien sind lediglich die von uns selbst bestimmten Figuren, an denen wir unser eigenes Versagen abreagieren können: wir wollen damit verdeutlichen, nicht selbst verantwortlich zu sein. So erhoffen wir uns die Chance, immer wieder neu und unbelastet zu beginnen. Mit dem Eingeständnis unserer eigenen Schuld würden wir zwar andere Partizipanten der Masse nicht entlasten, ihnen aber die Chance bieten, ihre Schuld mit uns zu teilen, anstatt uns und andere zur eigenen Entlastung wieder zu denunzieren und damit letztlich nur zur Verschleierung und Erschöpfung beizutragen.

Was haben wir also zu tun? Wir müssen zunächst erkennen, dass wir nur deshalb verführbar sind, weil wir uns verführen lassen wollen. Kein Einzelner, den wir ablehnen, ist in der Lage, uns zu manipulieren, zu verführen, wenn wir dies nicht wünschen. Selbst in der Masse bleiben wir Individuen und passen uns nicht an. Wir bewerten unser Leben und seine Umstände stets situationsgerecht. Unser Leben ist Maßstab für das Leben anderer und dadurch, dass wir uns selbst annehmen, sind wir wiederum in der Lage, uns selbst und andere zu korrigieren. Was wir zu schaffen haben, dürfen wir nicht an andere delegieren, sondern müssen uns selbst einbringen, Verantwortung übernehmen nicht nur für uns, sondern auch für das Handeln anderer. Insofern nehmen wir eine Garantenpflicht gegenüber der Gesellschaft wahr.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gewalt

Der Volksmund meint, dass Gewalt Gewalt erzeuge. Daran ist viel dran. Auch diejenigen, die keine Gewalt ausüben, können sich aus der Gewaltdiskussion nicht herausziehen. Das Gewaltproblem ist gesellschaftlicher Natur und entschuldigt niemanden, weder den Täter, der Gewalt ausübt, noch die Gesellschaft, die zwar Gewalt verurteilt, aber sich darauf beschränkt, repressive Maßnahmen zu fordern, die geeignet sein sollen, das Gewaltpotenzial zu mindern. Unbestreitbar sind die staatlichen Einrichtungen dazu aufgerufen, Straftaten, also auch Gewaltstraftaten, zu verfolgen und entsprechend unserer Gesetze Täter zu verurteilen. Diese Reaktion können wir prinzipiell nicht in Frage stellen, zumindest so lange nicht, als es die gesellschaftliche Verabredung gibt, Straftäter zu verfolgen und für ihre Taten zu belangen. Die Tat wird aber durch repressive Maßnahmen nicht verhindert, da Opfer und Täter nicht Subjekte, sondern Objekte der Strafrechtspflege sind. Subjektiv ist das Opfer, insbesondere das Gewaltopfer, Mittelpunkt eines Eingriffs in seine Privatsphäre, sowohl in körperlicher, als auch geistiger und seelischer Hinsicht. Sein Persönlichkeitsraum wird durch die Tat eingeschränkt, ohne dass derjenige, der dies tut, hierfür die Ermächtigung besitzt. Das Opfer drängt daher stets – und dies in erster Linie – auf die Wiederherstellung seiner körperlichen, emotionalen und geistigen Integrität. Die Gesellschaft könnte dabei Hilfestellungen leisten, und zwar nicht durch Mitleid oder mediale Zurschaustellung, sondern durch Respekt und Anerkennung desjenigen, der stellvertretend für sie das Opfer geworden ist. Es hätte uns alle treffen können. Die gesellschaftliche Vertrautheit mit dem Opfer, die Identifikation ist Voraussetzung für eine mögliche Wiederherstellung der Integrität. Um aus dieser Einsicht Handlungen abzuleiten, ist es erforderlich, sich die Rolle des Täters zu vergegenwärtigen. Der Gewalttäter will diese Gewalt, er hat sie eingesetzt, um das Opfer zu verletzen. Diese Gewaltbereitschaft ist latent in allen Menschen angelegt und erfährt Subjektivität in der Person des Täters und seiner Tat, wenn ihm die gesamte Gesellschaft fremd und unnahbar erscheint. Die Ausgrenzung von Personen aus der menschlichen Gemeinschaft, der Verlust und das Bestreiten von Identitäten führen zu An- griffen, mit denen alle gemeint, aber nur wenige hart getroffen werden. Die Ursachen sind oberflächlich gesehen vielfältig – ethnische, sprachliche oder finanzielle Probleme, politische Auseinandersetzungen, Großspurigkeiten und Folgen von Gewaltvideos. All dies ist der offensichtlichen Wahrnehmung von Gewalt zuzuordnen. Die eigentliche Ursache für Gewalt ist aber verborgener und beruht auf dem Erschrecken des Menschen, nicht mehr angenommen zu sein, nicht dazuzugehören und nicht teilzuhaben an der Gemeinschaft. Bildung ist dabei ein Schlüsselwort, und zwar nicht die Bil- dung, die der Einzelne aufgrund seiner Intelligenz während seines Lebens erfährt, sondern die Herzensbildung, die bereits bei den Eltern vorhanden sein sollte, die ein Kind zur Welt bringen, welches gleichzeitig auch Mitglied einer Gemeinschaft ist. Bildung von Anfang an erfasst die Ausbildung der Eltern und die Bereitschaft, auch Kindern von der ersten Stunde an als willkommenen Mitgliedern der Gesellschaft entgegenzutreten. Das angenommene Kind wird sein Gewaltpotenzial lebenslang kontrollieren und sich gegenüber der Gesellschaft in aller Regel angepasst erweisen. Die Auseinandersetzung mit der Gewalt als gesellschaftlicher und persönlicher Lernprozess ist daher in jedem Menschen unausweichlich, um ihre Einschränkung herbeizuführen. Wir müssen und dürfen hierzu ermutigen und frühe Hilfestellung leisten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Beamen

Um von A nach B zu gelangen, benötigen wir ein Transportmittel. Das schnellste uns bekannte Transportmittel auf Erden ist das Überschallflugzeug, welches auf Hörweite des gesprochenen Wortes fast schneller beim Adressaten ankäme, als es unseren Mund verlässt. Schneller noch als Schallwellen pflanzen sich Licht und elektromagnetische Wellen fort, benötigen aber bis zur Wahrnehmung aus fernen Galaxien oft Hunderte von Jahren, bis sie bei uns eintreffen. Für Menschen, so scheint es zumindest, bleibt der körperliche Transport mühsam. Flugzeug, Bahn, Auto. Das sind die üblichen Fortbewegungsmittel. Sie erfordern Vorbereitung, d. h. Abschied nehmen, Überbrückung und Ankommen. Oft vergehen Stunden, Tage und Monate. Wegen seiner Körperlichkeit muss der Mensch diese Vereinbarung mit der Zeit eingehen, wenn er selbst anwesend sein möchte. Elektronische Medien geben ihm Gelegenheit, per Handy oder Bildtelefon mit Gesprächspartnern in der ganzen Welt Kontakt aufzunehmen, Menschen und Gegenstände zu betrachten, zu reden und virtuell dabei zu sein. Auf allen diesen Zeitreisen können wir beobachten, dass es Entsprechungen gibt. Während wir medial oder real in eine bestimmte Gegend streben, strebt ein anderer Einzelner oder eine Gruppe in unseren Bereich zurück.

Die Summe dieser Aktivitäten steht in Korrespondenz zueinander. Manchmal möchte man rufen, bleibt doch an eurem Platze und sagt mir was ihr vorhabt. Ich regele eure Angelegenheit vor Ort für euch und ihr müsst euch nicht bemühen. Ich könnte auch sagen, ich lebe für euch, ich sehe und höre für euch, ich bin da und deshalb seid ihr auch da. Da sein in diesem Sinne bedeutet die Fähigkeit, nicht nur auf die Bedürfnisse eines Anderen einzugehen, sondern auch mit dessen Augen zu sehen, dessen Wahrnehmung zu der eigenen machen und mit ihm zu korrespondieren. Ist meine Frau in einer anderen Stadt, nimmt sie mich mit auf die Straße und zeigt mir Plätze, Häfen, Kirchen und Monumente. Sie lässt mich teilhaben an Galeriebesuchen und zeigt mir Bilder. Wir verfügen über kein Bildtelefon. Doch durch ihre Schilderung nehme ich das, was sie mir zeigt, wahr. Im Laufe der Zeit entwickelten wir eine Empfindsamkeit, die uns dies ermöglicht, Dinge durch den Anderen mitzubetrachten, ohne körperlich anwesend zu sein. Im Laufe der Zeit ist es uns weiter gelungen, den Anderen so zu spüren, dass Raum und Zeit gar keine Rolle mehr spielen. So weit wir anscheinend noch während des Tages voneinander entfernt sein sollten, wir halten Kontakt. Wir vergewissern uns wechselseitig der Plätze, wo wir uns gerade aufhalten, und beamen uns je nach Einladung und Entscheidungslage zu dem

Anderen. Wir sind dann trotz Ferne anwesend in Bildern, Worten und rnit dern Gefühl füreinander da.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Das funktioniert rnit allen Menschen. Da bin ich rnir sicher.

Zeit, Raum und Einstellung

Die Erfassung von Zeit und Raum besteht in ihrer Definition. Wir haben diesen Aspekt indem wir ihn benennen als physikalisches Phänomen verselbstständigt und betrachten ihn als etwas uns Unbekanntes, etwas, das außerhalb von uns liegt. Wir implizieren so unsere Schwierigkeiten, das Problem zu lösen, bereits in der Versuchsanordnung. Um aus der mechanischen Betrachtung zum Wesen der Zeit zu finden, müssen wir uns dem Phänomen der Zeit in uns selbst nähern. Dazu die folgenden Einschätzungen:

  • Zeit als Maßstab der Vergänglichkeit. Wir beobachten, dass etwas entsteht, seinen Höhepunkt erreicht und wieder vergeht. Zeit ist bei unseren Beobachtungen immer etwas in der Mitte, das nach Veränderung strebt.
  • Zeit wandert von einem Mittelpunkt in alle Richtungen. Zeit dehnt sich aus und streift alles, was ist und nicht ist.
  • Zeit ist die Wahrnehmung unseres Bewusstseins, Zeit zu haben. Zeit ist Freiheit, indem sie als grenzenlos vorhanden benannt wird.
  • Zeit ist der Augenblick, in dem alles ruht, ein fixiertes Phänomen des Gegenständlichen, welches in den Bereich des noch zu Schaffenden eintritt.
  • Zeit ist eine Generationenreise durch Benennung von Geschichte und Geschichten und der Spekulation auf die Zukunft. Zeit ist insoweit antizipierte Erwartung, Hoffnung im Abgleich mit der Geschichte.
  • Zeit ist die Wahrnehmung der Möglichkeiten unter Einsatz aller Sinne und Respekt vor dem Nichtbekannten. Indem wir alles zulassen, erfahren wir die Wirklichkeit des Mythos, in dem sich alle Distanz aufhebt. In diesem Augenblick dehnt sich Zeit in uns zu einem Regal der Erkenntnis.

Mit der Erkenntnis von Zeit als etwas, mit dem wir umgehen können, ist unsere Ohnmacht aufgehoben. Wir müssen nicht mehr sehnsuchtsvoll nach fernen Sternen oder angstvoll in die Zukunft blicken. Wir müssen uns nicht mehr Zeitreisen in die Vergangenheit plastisch darstellen, sondern wir haben die Zeit in uns und der Schlüssel ist unsere eigene Wahrnehmung. Wir entschlüsseln uns die Zeit, indem wir sie haben. Wir haben Zeit. Unsere Zeit entsteht z. B. dadurch, dass wir älteren Menschen zuhören, wie sie aus ihrer Kindheit erzählen. Unsere Zeit besteht dadurch, dass wir von unseren Kindern erfahren, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Das, was in dieser Zeit entsteht, umfasst schon mehr als unsere Lebenszeit. Es ist aber nur der Anfang. Wenn es uns gelingt, unsere Sinne zu aktivieren, sehen wir den Bogen des Wissens und des Ahnens gespannt aus aller Ewigkeit in alle Ewigkeit. Alle Phänomene der Zeit ruhen in uns und warten nur darauf, entdeckt und erweckt zu werden. Die Gegenwart des Mythos ist uns nur deshalb verschlossen, weil wir meist physikalisch die Zeit beherrschen und definieren wollen, weil uns das absolute Argument der Zeit jede Deckung raubt. Wir schaffen uns eigene Schutzräume, indem wir uns in der Gegenwart einrichten und die Totalität des Möglichen als Bedrohung empfinden. Da wir nichts erfinden können, wissen wir und behaupten gleichzeitig, das Außergewöhnliche gäbe es nicht, jedenfalls nicht in einer unmittelbaren Form. Die Sehnsucht ist aber auch eine Form des Wissens. Die Physik der Umwege ist auch nur eine Möglichkeit wahrzunehmen, ein Argument neben vielen anderen, die, wenn sie nicht als Spinnerei abgetan werden, einen gleichwertigen Platz in der allumfassenden Erfahrung beanspruchen können.

Alles beginnt mit dem Bekenntnis: Ich habe Zeit; nicht die Zeit, die Andere vorgeben, sondern die Zeit, die ich mir nehme. Die Quantität und Qualität von Zeit ist eine Summe der subjektiven und objektiven Umstände, die ein Ganzes bilden. Wir kreisen im Experiment und in den Worten im Vorhof der Zeit, ohne in ihren Kern eindringen zu wollen. Möglicherweise könnte die Aufhebung unseres Verständnisses für Zeit und Raum die Berechnung eines aus der Spannung lebenden Ich-Bezugs verändern und ließe es zu, dass wir uns der Erkenntnis asymptotisch nähern. Das Ewige ist das, was alles ist. Das, was es ist, entzieht sich unserer Benennung. Die Benennung schafft Orientierung, das Benennungslose dagegen schafft alles, d. h. den Grund, in dem sich alles definiert und gleichzeitig aufhebt. Wir Menschen haben uns dem Ewigen genähert, indem wir das Nirwana benannt haben. Verzichten wir auf die Beschreibung der Konturen, werden wir wach, sehen, fühlen und ahnen; eine persönliche Form des Erkenntnisgewinns.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Vollkommenheit

Den Versuch will ich machen, das Selbstverstehen des Menschen anzureißen, welches sich nicht durch die Übernahme philosophischer oder religiöser Ansichten Anderer formt, sondern durch Nachdenken und Nachempfinden der eigenen emotionalen und rationalen Verfassung. Dieser Herausforderung kann nur in dem Bewusstsein entsprochen werden, dass der Mensch an sich alle Eigenschaften aufspürt, die ihm diese Wahrnehmung ermöglichen. Der Mensch ist Teil der mechanischen Natur und ergänzt doch Verstand und Gefühle. Jede Selbsterfahrungsmöglichkeit des Menschen ist inspiriert durch seine Gene und geformt durch Bildung, Herkunft und Intuition. Aber erst das brennende Verlangen, sich selbst zu fokussieren und daraus Erkenntnisse zu schöpfen, vermag dem Bedürfnis Ausdruck zu verleihen, hinter die Maske des Offensichtlichen zu schauen.

Das Offensichtliche am Menschen ist schnell erklärt und könnte dennoch auf Hunderten von Seiten facettenreich ausgebreitet werden. Die Erkenntnis würde es kaum befördern, denn wir alle wissen um das Offensichtliche, weil wir es täglich beschreiben. Aber auch dieses Offensichtliche hat Teil an der Erkenntnis durch den Zustand des Verbergens. Das Nichtsehenkönnen ist das eine sehr nahe liegende Problem, das sich Nichtoffenbaren ein weiteres, das wir schwer begreifen, noch weniger verarbeiten können, das uns aber immer gegenwärtig ist.

Einmal als ich durch das Riesengebirge wanderte kam mir in den Sinn, dass, wenn ich jetzt Rübezahl rufen und er antworteten würde, plötzlich nicht nur dieses Märchen, sondern alle Märchen wahr würden. Ein einziger solcher Hinweis würde genügen, um das ganze Mysterium zu bestätigen, welches seit Menschengedenken um seine Anerkennung kämpft. Obwohl sich alles in der Natur so darbot, wie in den Märchen beschrieben stand, zeigte sich Rübezahl nicht. Dennoch verließ ich am Abend inspiriert den Wald, mehr denn je überzeugt, dass es Rübezahl gibt. Es gilt, etwas zu erkennen, das wir nicht benennen können, was sich unserer offensichtlichen Erkenntnis verschließt, weil wir es aufgrund eigens geschaffener Blindheit nicht sehen wollen und weil es uns nicht zu rufen scheint.

Dieses Nichtbenennenkönnen ist so etwas wie ein Labyrinth oder auch eine Matrix, die alles birgt, aber anscheinend nichts aufzuweisen hat, erst von uns geprägt werden muss. Vielleicht ist das Bild anschaulicher von einer fri- schen Schneelandschaft und den ersten Spuren darin, die aber, sobald sie getreten sind, einschmelzen oder übertreten werden durch andere Spuren und damit ihre Konturen verlieren. Die fehlende Ausdifferenzierung der Werkzeuge unserer Erkenntnis macht es schwer, ein gleichzeitig umfassendes, aber auch spezifisches Verständnis unseres Ichs zu finden, den Menschen als Teil der Natur, als vernunftbegabtes aber auch durch seine Seele inspiriertes Wesen wahrzunehmen. Teilweise sind die Ansichten über uns selbst verankerbar, teilweise Behauptungen, die einem vorausbestätigten Selbstverständnis entspringen, sich an Hoffnungen klammern und sich über Zuversicht und Glauben absichern. Beweise. Zum Beispiel, der eine sagt, dass Gott nicht beweisbar sei und folglich der Mensch als Teil dieser entwickelten Natur, logisch und emotional geprägt durch die Synapsen seines Hirns, ungebändigt und selbstbestimmt durch die Zivilisation eile. Die Anderen meinen, dass diese profane Sichtweise nicht gilt, solange der Beweis nicht geführt wurde, dass es Gott nicht gibt. Der Glaube müsse sich nicht beweisen, deshalb bliebe die Pattsituation erhalten. So werden aber keine Erkenntnisse gefördert, sondern wohlbegründete oder gar dürftige Meinungen nur bekräftigt. Zumindest empirisch ist dagegen bedeutsam, dass viele Menschen zu spüren scheinen, dass mehr in ihnen ist und um sie herum, als sie ohne Weiteres durch ihre Sinne erfahren kön- nen. Dieses Gespür entspringt den schon immer in den Menschen im- plantierten Erinnerungen an das Vorhandene oder einer nicht erfüllten Erwartung, eine Suche nach der Vervollständigung seiner Existenz. Der Mensch verfügt über disparate Ichs. Eines strebt immer nach seiner weltlichen Vervollkommnung und beherbergt das materielle Ich, das geistige und das emotionale Ich. Das andere, das unvollendete Ich befindet sich in einem fortwährenden Entwicklungsstadium, signalisiert Unvollkommenheit und vermittelt die Eindrücke der allumfassenden Ich-Last. Das unvollkommene Ich wird als Belastung empfunden und, wenn nicht gar abgekop- pelt, so doch – um dieses Bild zu bemühen – vor die Türe gestellt. Das unvollendete Ich kann nicht nur mit menschlichen Attributen wie Neugier, Schutzbedürftigkeit, Beeindruckbarkeit beschrieben werden, sondern auch als vorgeprägt, belastet, erschreckt und ungeheuerlich. Würden wir uns für einen Moment der gesamten Last unseres unvollendeten Ichs bewusst, könnten wir so, wie wir dies tun in dieser Welt, nicht mehr leben. Aber wir tragen diese Bürde des unvollendeten Ichs wie jene alte Frau in dem Märchen des Rübezahl in dem Wissen, dass jederzeit etwas hinter dem Felsen hervortreten und uns die Augen öffnen kann. Das Andere ist also Teil von uns, ob wir es beweisen können oder nicht, ob wir es anerkennen oder nicht, ob wir glauben oder nicht, denn dieser Teil unseres Ichs ist nicht abhängig von unserer Anerkenntnis und unserem Glauben daran. Würde es nicht sein, würde es sich uns nicht zeigen. Ist es aber, bleiben wir gespannt auf die nächste Entscheidung und arbeiten weiter an unserer Erkenntnis.

Eine Gegenprobe wollen wir verlangen. Es gilt, dass es das unvollendete Ich nicht gibt. Gäbe es nichts, wonach der Mensch strebte, so wäre alles, was ihn ausmacht, in einem Augenblick der Erkenntnis gefangen. Diese Erkenntnis würde ihm eine lückenlose Übersicht über seine biologischen, geistigen und emotionalen Daten verschaffen. In diesem Augenblick der völligen Übersicht hätte sich der Mensch selbst überwunden. Sein Höhe- punkt wäre erreicht. Der Mensch müsste erlöschen. Die bloße Reproduktion des schon immer Gewesenen benötigte kein Gedächtnis und schon gar keine Entwürfe von Neuem.

An der vollendeten Erkenntnis würde der Mensch verbrennen. Er kann sich aber methodisch einem Selbstverstehen nähern. Methode bedeutet, sich zu öffnen gegenüber allen Möglichkeiten der Spiritualität als auch deren Verneinung. Der Mensch kann sich auf keine Seite schlagen und trotzig verkünden, dass es so sei, sondern der Mensch, der das Selbstverständnis sucht, befindet sich in einer ständigen Meditation und muss alle Ressourcen nutzen, um mehr über sich zu erfahren, und ist dabei stets erwartungsfroh. Dass der Mensch ein Zeichen erhält, ist nie ausgeschlossen, selbst dann nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist, dass er es sofort bemerkt.

Es folgen nun Einzelbetrachtungen, die sich irgendwie zum Ganzen formen, also Selbstverständnisse bilden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kulturerbe und Kulturbesitz. Eine Verortung.

Verstirbt ein Mensch, so hat er nach unserem Rechtsverständnis einen Erben. Dieser erwirbt die Erbschaft zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers ohne weiteres Zutun zu Alleineigentum. Dies auch dann, wenn er von dem Anfall der Erbschaft überhaupt nichts wusste und den Verstorbenen unter Umständen noch nicht einmal kennt. Der Erbe kann das Erbe aber nach Kenntnisnahme ausschlagen. Dann erben automatisch andere, gesetzlich oder testamentarisch berufene Erben. Der ausschlagende Erbe hat sich seiner Erbschaft entledigt, hat rückwirkend seine Verantwortung für den Nachlass beseitigt.

Anders als bei der Erbfolge unter bürgerlich rechtlichen Gesichtspunkten ist das Kulturerbe oder kulturelle Erbe nicht ausschlagbar, können die Erben sich ihrer Verantwortung nicht entledigen. Das kulturelle Erbe wird keiner Einzelperson testamentarisch oder gesetzlich zugewandt, sondern stellt ein Vermächtnis an alle Menschen, die es angeht, dar, mit der Aufforderung, diese mögen das kulturelle Erbe bewahren, erhalten, mehren und weitergeben. Der Adressatenkreis dieser Erbschaft sind gleichermaßen die Erben als auch deren Dauertestamentsvollstrecker, wobei diese Art der Testamentsvollstreckung nicht nur fremde, sondern auch eigene Interessen bei der Verwaltung und Mehrung dieses Kulturnachlasses wahrnimmt.

Was ist aber unter kulturellem Erbe oder Kulturerbe zu verstehen?

Als kulturelles Erbe oder Kulturerbe (culture heritage) wird die Gesamtheit aller Kulturgüter bezeichnet. Der Begriff des héritage culturel (der französische Begriff für „kulturelles Erbe“) wurde durch den Bischoff von Blois Henri-Baptiste Gregoire Ende des 18. Jahrhunderts geprägt. Darunter ist das angesammelte und überlieferte Wissen als auch alle kulturellen Errungenschaften der Menschheit zu verstehen, die in vorangegangenen Generationen erworben wurden. Das kulturelle Erbe ist eine Bestätigung unserer Existenz und verdeutlicht gleichzeitig auch die Entwicklung dorthin. Es ist Erinnerung und Vermächtnis, handelt vom Schutz und der Pflege unserer kulturellen Wurzeln und vermittelt unsere kulturelle Identität auch für künftige Generationen („Wer nicht weiß, woher er kommt, kann auch nicht wissen, wohin er will.“).

Kulturerbe bzw. kulturelles Erbe bezeichnet die Gesamtheit aller Kulturgüter. Diese sind nach einer Definition der UNESCO-Konvention nicht an eine materielle Wesenheit gebunden, sondern umfasst auch immaterielle Werte wie mündliche Überlieferungen, Gesangskunst, Gebräuche und Musik nebst den dazugehörigen Instrumenten, Objekten, Artefakten und kulturellen Räumen. Immaterielles Kulturerbe wird daher auch als lebendiges Kulturerbe bezeichnet (living heritage). Juristisch gesehen sind immaterielle Kulturgüter keine Sachen, sondern Rechte die zum Beispiel im Urheberrechtsschutz verortet sind. Der Begriff des Kulturgutes hat keinen ursprünglich juristischen Hintergrund, findet sich aber inzwischen in der Rechtsprechung vielfältig wieder, unter anderem im Kulturgutschutzgesetz (Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung). Zum Schutz dieser Güter hat auch die UNESCO besonders erhaltenswerte immaterielle Kulturgüter aus allen Weltreligionen zu „Meisterwerken des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ bestimmt und 2003 das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes (convention for the safe garding of the intangible cultural heritage) verabschiedet. Diesem UNESCO-Übereinkommen trat die Bundesrepublik Deutschland mit Rechtswirkung zum 09.07.2013 bei.

Auch wenn Kulturgüter nicht unbedingt materielle Eigenschaften aufweisen müssen, können sie bzw. die Rechte daran Privatpersonen, Stiftungen und staatlichen Einrichtungen gehören.

Im Allgemeinen hat der Eigentümer eine verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition (Artikel 14 GG), die es ihm erlaubt – natürlich in den verfassungsrechtlich gebotenen Rahmen – nach Belieben mit einen in seinem Eigentum stehenden Sache zu verfahren. Er kann insbesondere andere von der Einwirkung auf sein Eigentum ausschließen. Daher wäre es juristisch korrekt, nicht von Kulturbesitz, wie dies landläufig geschieht, sondern von Kultureigentum zu sprechen. Der volkstümliche Umgang mit diesen Begrifflichkeiten kennt den Unterschied zwischen Eigentum und Besitz nicht. Beides bringt zum Ausdruck, dass dem Rechteinhaber etwas gehört und er daher Vorrechte gegenüber demjenigen hat, dem es nicht gehört. Tatsächlich aber haben Besitz und Eigentum juristisch gesehen ganz unterschiedliche Eigenschaften, die beträchtliche Auswirkungen haben können. Der Besitzer übt Herrschaftsgewalt aus, ob dies rechtmäßig geschieht oder nicht, spielt dabei keine entscheidende Rolle. Er darf über den Besitz verfügen, unabhängig davon, wer dessen Eigentümer ist. Der Eigentümer wiederum übt keine Sachherrschaft aus, bestimmt aber die Grenzen des Ausübungsrechts durch den Besitzer.

Dennoch oder gerade deshalb ist es richtig, nicht von Kultureigentum, sondern von Kulturbesitz zu sprechen, denn Besitz und Eigentum sind hier nicht im strengen juristischen Sinne zu verstehen, sondern bringen zum Ausdruck, dass an Kulturgütern, die sich juristisch im Eigentum von Privatpersonen oder anderen gesellschaftlichen oder rechtlichen Trägern befinden, letztlich nur besondere Besitz- und Nutzungsrechte begründet werden können. Kulturgüter lassen sich uneingeschränkt weder auf Einzelpersonen, juristische Personen, Staaten oder Gesellschaften im Rechtssinne vererben oder übertragen, sondern Kulturgüter werden den Erben bzw. Übernehmern nur auf Zeit zur Bewahrung und Entwicklung anvertraut. Deshalb ist eine freie Verfügbarkeit über Kulturgüter im Rechtssinne nicht vorgesehen, sondern Kulturträger legen sich selbst durch interne Satzungsregelungen Beschränkungen hinsichtlich der umfassenden und beliebigen Verfahrensweise über die angeschafften Kulturgüter auf bzw. Gesetze bestimmen hinsichtlich der Kulturgüter, wie und in welchem Umfange die Rechtsinhaber über diese verfügen dürfen. Dies vor dem Hintergrund, dass Kulturgüter nur so besessen und genutzt werden können, dass sie für die Nachwelt und zukünftige Generationen erhalten und weiterhin erlebbar bleiben.

Träger kulturellen Erbes zu sein, ist also Verpflichtung nicht nur eines jeden Bürgers und kulturellen Trägers, sondern jedes Menschen, da kulturelles Erbe nur begrenzt unsere persönlichen, juristischen, politischen, gesellschaftlichen und nationalen Belange berücksichtigt, vielmehr zu einer dauernden Besitzstandwahrung an den zugewandten Kulturgütern im Interesse der ganzen Menschheit verpflichtet.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Nach 1968 (letzter Teil)

Der Staat reagierte auf seine Herausforderungen, und zwar nicht nur mit Wasserwerfern und persönlicher Repression, sondern insgesamt mit einer Politik, die in keiner Weise integrativ wirkte. Die Stationierung von Pershing-II-Raketen und die Notstandsgesetze wirkten dabei genauso abstoßend wie die zunehmende Installation von Atomkraftwerken und die Gettoisierung der Städte, insbesondere für Ausländer. Studenten und Staat erklärten sich den Krieg und kämpften auf einem völlig illusionären Terrain, auf dem es für beide Seiten nichts zu gewinnen gab. Die Jugendlichen, insbesondere die studentischen Jugendlichen, verweigerten ihren Blick auf die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten in der Bundesrepublik und der Staat reagierte auf eine angebliche Bedrohung, die sich so zunächst überhaupt nicht abzeichnete. Es gab niemals eine revolutionäre Situation in Deutschland. Die Studenten mögen mitgefühlt haben mit denjenigen, die in Griechenland oder in Chile oder sonst wo auf der Welt gefangen genommen, gefoltert, ausgewiesen worden oder geflohen waren. Das Unglück verfolgter Menschen war aber nicht ein Zerrbild unserer Gesellschaft, sondern das Fehlverhalten der Machthaber in deren jeweiligen Heimatländern. Die Mehrzahl der nach Deutschland aus Jugoslawien oder der Türkei, zunächst aber auch Spanien oder Italien zugereisten Ausländer kam aus wirtschaftlichen Gründen und prägte ihre Gesellschaft in unserer Gesellschaft nach eigenen Ansprüchen und Motiven. Wir beschworen Multikulti, für Andere war und blieb es nur ein liberales Gemeinwesen, in dem die eigene aber auch andere Kulturen erlebt und gepflegt werden konnten und bis heute können. Die Unfähigkeit, vorbehaltlos zu analysieren, daraus für unsere Gesellschaft notwendige Schritte einzuleiten, gehörte nach meiner Einschätzung auch in das Verhaltensportfolio eines ’68ers.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Mehr davon gibt es im nächsten Beitrag …

Nach 1968 (Teil 3)

Es ist mir wichtig, ’68 in seiner gesamten Komplexität zu fokussieren und nicht chronologisch historisch die Zeit zu beleuchten. In der Expostbetrachtung schnurrt ohnehin die ganze Zeit wie ein an einer Stelle freigelassenes Gummiband zusammen und fixiert die andere Stelle, an der es gerade gehalten wird. Diese Lebenszeit bekommt man nicht mehr los. Man kann sich ihrer nicht entäußern. Ob als Politiker, Hochschullehrer oder als Geschäftsleute, überall sind Menschen heute in entscheidenden Positionen, die von dieser Zeit um ’68 geprägt wurden oder die sie mit geprägt haben. Sie sind Kindergärtner oder Kindergärtnerinnen, haben „Summerhill“-Modellen nachgehangen und auf antiautoritäre Erziehung gesetzt. Wahrscheinlich vertreten sie heute die entgegengesetzte Auffassung, dass ohne Autorität die Jugend verwahrlose. Sie registrieren die Gewaltexzesse und rufen nach dem Staat, dass endlich etwas getan werde, um diese Entwicklung einzudämmen. Zudem sollten natürlich Wertediskussionen geführt werden, aber auch ökologische Themen und die Überalterung unserer Gesellschaft stehen stets auf der Tagesordnung. Den ’68ern verdanken wir nicht nur die Antiatomkraftbewegung, die Ostermärsche und letztlich die Grüne Partei, sondern auch unsere Unsicherheit, uns als Gesellschaft eindeutig zu positionieren. Wir haben in der Folge von ’68 aufgehört, in einem einheitlichen Sinne Deutsche zu sein. Damit nahm zunächst die Globalisierung der Wahrnehmung ihren Lauf, später auch die Globalisierung der Handlungsoptionen und Ansprüche. Wir sollten uns als Einheitsgesellschaft auflösen, gefordert wurde eine multikulturelle Gesellschaft, in der sich alle so betätigen sollten, wie dies auch andere für sich als richtig und zweckmäßig erachten. Die Naivität der ’68er ist in diesem Sinne als besonders bemerkenswert zu bezeichnen. Alles was aus dem spanischen Bürgerkrieg, der Black-Power-Bewegung in den USA, überhaupt aus Bürgerbewegungen und Antikriegsbewegungen, der Ich-Findung und Puna ableitbar war, wurde miteinander vermischt und vermengt und fand reißenden Absatz. Reißenden Absatz deshalb, weil stets eine Aufnahme der Ideen durch eine umsetzungsbereite Masse an Menschen vorhanden war. Die Studenten ließen sich nicht nur begeistern, sondern reagierten auf Flugblätter mit dem Aufruf zu Kundgebungen und Demonstrationen und Solidarisierungen sofort und eindeutig im Sinne des dort Geforderten. Jede der damals linken Gruppen und Grüppchen hat diese Chance der Wahrnehmung und Umsetzung der Ziele erkannt und versucht, sie zu nutzen. Als dann sehr viele auf diesen Trichter kamen, verlor die Methode an Bedeutung, denn die Einheitlichkeit der Bewegung war nicht mehr gegeben. Deren Wiederherstellung im bürgerlichen Sinn erfolgte später durch Bürgerbewegungen wie Ostermärsche und Anti-AKW und verschiedene Bünde zum Natur- und Umweltschutz, die sich wieder auf breitere Bevölkerungsschichten stützen konnten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Mehr davon gibt es im nächsten Beitrag …