José Ortega y Gasset hat in seinem berühmten Essay „Der Aufstand der Massen“ eindringlich beschrieben, was Massen für und in unserer Gesellschaft bedeuten, diese formen und durch Einzelne dazu ermuntert auch verformbar werden. Wir wissen das, denn wir sind selbst Angehörige einer Gesellschaft, deren Großeltern der Massensuggestion einer nationalsozialistischen Ideologie erlegen sind oder deren Eltern ihre Fahnen in einer Massenorganisation der DDR geschwenkt haben. Aber auch wir erheben keine Einwendungen dagegen, dass in der sogenannten Massendemokratie die Masse die politische Richtung bestimmt, und zwar unabhängig davon, ob diese Richtung falsch ist oder nicht. Wichtig ist uns Überzeugungskraft, ein wenig Robustheit und mediale Durchsetzungsfähigkeit. Sachverstand vermögen wir nicht zu überprüfen. In der Masse verschwindet nicht nur die Vielfältigkeit des individuellen Beitrags, sondern auch die persönliche Verantwortung. Der Einzelne in der Masse schätzt sich als hilflos ein oder erkennt, dass seine Hilflosigkeit in der Masse machtvoll wirkt. Das Ergebnis dieses Prozesses scheint mit dem Einzelnen wenig zu tun zu haben. Er hat seinen Beitrag schon durch die Zugehörigkeit zur Masse erbracht. An Erfolgen nimmt er noch persönlich Anteil, Misserfolge haben aber nichts mehr mit ihm, sondern nur noch mit der Masse zu tun. Die Entfernung von der Einzelverantwortlichkeit innerhalb der Masse hindert den Menschen schließlich daran, die Verantwortlichkeit fürs Ganze zu übernehmen. Die typischen Ausreden sind: „Das habe ich nicht gewusst“, „Ich selbst habe nichts damit zu tun“, „Ich habe doch darauf vertraut“ oder „Man hat mich bzw. uns verführt“. In der Masse nichts sehen, nichts hören und die Schuld anderen zuzuschieben. Diese Fähigkeiten haben die Deutschen insbesondere im Nationalsozialismus unter Beweis gestellt. Diese Gefahr ist aber trotz tiefer menschlicher Erschütterung auch für alle Zukunft nicht gebannt, denn die Ursachen liegen nicht in einer übermäßigen menschlichen Verwahrlosung, sondern im Gesetz der Masse. Wann aber wird die Masse gefährlich? Wer bestimmt den Rhythmus der Masse oder instrumentalisiert sie für ihre Zwecke? Sind es die Verführer oder die Verführten selbst, die sich gerne verführen lassen, um mitzumachen? Ein nicht zielgerichteter Beitrag des Einzelnen lässt dem Strom der Masse ihren Lauf, egal aus welcher Richtung er fließt. Nur eigene Energie reguliert den Strom, schafft Widerstand, der auch Masse zu zwingen vermag. Wie das Abstoßen von Kräften gehorcht die Masse auch der Anziehung. Offen ist sie für jeden Energiezufluss. Der Einzelne aber bleibt für sein Schaltsystem selbst verantwortlich, und zwar auch dann, wenn es ihm nicht gelingt, sich außerhalb der Masse aufzuhalten. Selbst in der Masse sind wir verantwortlich für unsere Verhaltensweise. Schneller, höher, weiter. Das entspricht unserem Anspruchsdenken. Beim Zocken andere zu überflügeln, das ist unser Lebenstraum. Alle Massenverbrechen der Nazis oder auch das Massenfinanzdesaster der Neuzeit sind von Menschen gemacht. Banken, Politiker und Aufsichtsgremien sind lediglich die von uns selbst bestimmten Figuren, an denen wir unser eigenes Versagen abreagieren können: wir wollen damit verdeutlichen, nicht selbst verantwortlich zu sein. So erhoffen wir uns die Chance, immer wieder neu und unbelastet zu beginnen. Mit dem Eingeständnis unserer eigenen Schuld würden wir zwar andere Partizipanten der Masse nicht entlasten, ihnen aber die Chance bieten, ihre Schuld mit uns zu teilen, anstatt uns und andere zur eigenen Entlastung wieder zu denunzieren und damit letztlich nur zur Verschleierung und Erschöpfung beizutragen.
Was haben wir also zu tun? Wir müssen zunächst erkennen, dass wir nur deshalb verführbar sind, weil wir uns verführen lassen wollen. Kein Einzelner, den wir ablehnen, ist in der Lage, uns zu manipulieren, zu verführen, wenn wir dies nicht wünschen. Selbst in der Masse bleiben wir Individuen und passen uns nicht an. Wir bewerten unser Leben und seine Umstände stets situationsgerecht. Unser Leben ist Maßstab für das Leben anderer und dadurch, dass wir uns selbst annehmen, sind wir wiederum in der Lage, uns selbst und andere zu korrigieren. Was wir zu schaffen haben, dürfen wir nicht an andere delegieren, sondern müssen uns selbst einbringen, Verantwortung übernehmen nicht nur für uns, sondern auch für das Handeln anderer. Insofern nehmen wir eine Garantenpflicht gegenüber der Gesellschaft wahr.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski