Archiv für den Monat: März 2015

Leitbilder

Nichts geschieht ohne Grund. Wie Brot und Wein benötigen wir die bildende Kunst, Theater, Konzert, Oper, Musik schlechthin als Lebensmittel. Es ist denkbar, dass wir darauf verzichteten, würde der Verzicht nicht gravierende Folgen haben. Ohne musikalische Erfahrungen können wir nichts wahrnehmen, auch Bilder sind Spiegelungen von Lebenserfahrungen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse gestalten unsere Lebensentwürfe. Gleichzeitig stabilisieren unsere kulturellen Erfahrungen unser Dasein, setzen Impulse und gestalten die Zukunft. Bevor wir Zukunft wahrnehmen, wird sie in der Kunst erahnt. Wir antizipieren unser Leben, ohne dessen Realität immer sofort bemessen zu können. Wenn Kinder am Computer Straßenkämpfe üben und sich einschwören auf neue Formen der Kommunikation und der Konfrontation, so bereiten sie sich dabei schon auf ihre zukünftigen Erfahrungen vor. Sie gestalten ihre Lebensentwürfe anhand von gedachten Leitbildern, deren Realität sich dereinst noch erweisen muss. Wenn wir aufmerksam in die Zimmer der Jugend spähen, können wir die Policies der nächsten Generation in ihrer Entwicklung wahrnehmen. Sie beinhalten, gewappnet zu sein für die Zukunft, an ihr aber auch aktiv teilzunehmen und sie damit herbeizuführen. Die kriegerische Auseinandersetzung ist ein Merkmal dieser Kulturgestaltung. Die Kriege, die sich in den Kinderzimmern abzeichnen, haben allerdings mit unseren konventionellen Kampfformen nicht das Geringste zu tun. Sie tragen nicht den Ideologien Rechnung, sondern der Besitzstandswahrung in einer durch Migrationsbewegungen, demografische Veränderungen und Güterverteilung völlig umgestalteten Welt. Mit den konventionellen Denkschemata ist die jetzige Generation darauf nicht vorbereitet. Weder greifen aktuell gängige Mittel für die Bewältigung künftiger Krisen noch schafft eine historisierende Wertediskussion Klarheit. Ob alle noch Zeugen eines gigantischen Zeitenwechsels sein können, ist fraglich. Es ist naheliegend, dass sich bei Verteilungskämpfen, die auf Ländergrenzen und Kontinente keine Rücksicht mehr nehmen, Eliten entwickeln und durchsetzen werden, die andere nur soweit beschäftigen, am Leben erhalten oder sich vergnügen lassen, als es ihrer Sache dient. Schon immer war Schauspiel und Film dazu angetan, uns in künftige Wirklichkeiten Einblick nehmen zu lassen. Schauen wir aufmerksam zu, erfahren wir mehr und können uns darauf einstellen. Der Ich-Wert des Einzelnen, der Zusammenhalt des Clans gewinnen Vorrang vor jeder anderen Gruppierung. Religiöse Intensität wird auf gleicher Ebene mit rigidem Realitätssinn stehen. Diese Entwicklung ist unvermeidlich und entspricht unserer evolutionären Bestimmung. Einen Unterschied macht allein, ob wir darauf vorbereitet sind oder nicht.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ferien vom Ich (Teil 3)

Diese Betrachtung führt keineswegs zur Verachtung derjenigen, die Ansprüche stellen. Es ist lediglich ein bedauernswerter Zustand, der geändert werden sollte. Er hängt nach meiner Einschätzung in erster Linie davon ab, dass die meisten in unserer Rückversicherungsgesellschaft in hohem Maße „Ich-Versessene“ sind. Diese Ich-Versessenheit hat überhaupt nichts mit Ich-Stärke zu tun, sondern mit einer selbst verliehenen Ich-Garantie, die sich auf vielfältige Art und Weise äußert: „Ich habe Anspruch auf einen Arbeitsplatz. Ich habe einen Anspruch auf Freizeit. Ich habe einen Anspruch auf ein Auto. Ich habe einen Anspruch auf einen Fernseher. Ich habe einen Anspruch auf Lohnerhöhung. Ich habe einen Anspruch auf Altersversorgung etc.“ In dieser Gesellschaft habe ich unmittelbar einen Anspruch auf alles. Dass ich seit meiner Geburt auf eigenes Risiko lebe, wird mir verheimlicht bzw. verharmlost. Vielleicht ist es auch nur so – jedenfalls politisch – möglich, ein Gemeinwesen zu befrieden. Für das menschliche Leben und seine Entwicklung ist das Jammern und das Denken in Ansprüchen dagegen eine Katastrophe. Sobald hier Risiken, Veränderungen und Irritationen hinzutreten, ist das System der kollektiven Unzufriedenheit nicht mehr zu steuern.

Deshalb mein Vorschlag: Machen Sie einmal Ferien von sich. „Ferien vom Ich“ bedeuten, sich einmal von sich selbst auszuruhen, einmal keine Ansprüche zu stellen. Selbst wenn wir den besten Willen haben, werden wir oft mit dem Satz konfrontiert: „Gönne dir doch mal etwas Gutes!“ Diese Ermunterung ist sicher richtig, wohlmeinend und tief besorgt. Worauf aber liegt die Betonung? Gönne dir was? Gönne dir was Gutes? Oder du hast Anspruch auf was Gutes? In Wirklichkeit tun wir sehr viel für uns. Ständig umsorgen und umhegen wir uns. Der Zentralspruch unserer Daseinsfürsorge ist: „Ich lass mir doch die Butter nicht vom Brot nehmen.“ Wir bedienen unsere Bedürfnisse, unsere Ansprüche. Unsere Angst, etwas zu verlieren, ist unermesslich. Wir tun alles für uns, allerdings nichts Gutes. Gutes für sich tun ist Üppigkeit aber auch Verzicht. Gutes ist ein Genuss. Denken in Ansprüchen ist aber auch Hinwendung zu Anderen. Gutes ist vor allem, sich zu öffnen: Das Herz, die Seele, das Gemüt. Gutes für sich zu tun bedeutet, loszulassen, sich einzulassen auf Anderes und Andere. Ich will nichts für mich, sondern ich erfahre. „Ferien vom Ich“ bedeuten die Schaffung von Zeit, Raum und Klarheit, um sich fallen zu lassen, um sich wieder zu finden in einer größeren Dimension von Frieden und Freude. Wenn der Mensch sich selbst einmal dabei unterbricht, Ansprüche zu stellen und diese auch an ihn nicht gestellt werden, entsteht Neugierde. Es entsteht wieder Interesse an den eigenen Fähigkeiten, aber auch ein offenes Ohr, ein offenes Auge für das, was Andere tun. „Ferien vom Ich“ begrenzen nicht die eigenen Möglichkeiten, sondern erweitern die Fähigkeiten des Empfindens und auch des Handelns.

„Ferien vom Ich“ können wir jederzeit nehmen. Wir sind an Ort und Raum nicht gebunden, vermögen aber auch dies durchaus programmatisch zu gestalten, z. B. statt in  aufwendigen Feriencamps „offshore“ in der heimischen Umgebung. „Ferien vom Ich“ können wir unseren Kindern bescheren, indem wir ihnen Ruheplätze erlauben, die am Kind orientiert sind und nicht an der Vorstellungswelt der Eltern für die Kinder. Wenn wir so miteinander und aneinander genesen, kann uns überhaupt nichts mehr von unseren Problemen, unseren Schwierigkeiten und unseren Herausforderungen trennen. Wir werden Freude daran haben, alles zu tun, was wir tun müssen, um uns und unseren Kindern eine aufregende aber auch selbstbestimmte Welt zu erhalten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ferien vom Ich (Teil 2)

In der Erziehung spielt die Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des Kindes eine entscheidende Rolle. Mit seinen Ansprüchen tastet es sich in das Leben vor. Aufgrund seiner Anlage tut es das aber nur mit dem einen Ziel, über Erfahrungen die Sicherheit zu erlangen, selbst zu gestalten. Hier ist die entscheidende Weichenstellung für künftiges Verhalten. Es ist zu beobachten, dass Eltern ihren Kindern diese Ansprüche rauben, indem sie ihnen jegliche Eigeninitiative abschneiden. Auch ist zu beobachten, dass Eltern ihren Kindern aus Bequemlichkeit oder aus Kalkül in jeder Weise nachgeben und somit dafür sorgen, dass der kindliche Anspruch die Dimension eines aufgeblasenen Luftballons erreicht. Ansprüche sind aber nicht nur dafür da, befriedigt zu werden, sondern schaffen auch Lebensmuster für spätere Daseinsgestaltung. Wenn ein Anspruch nicht befriedigt wird, führt das oft zu einer Klage darüber, die Eltern hätten dies in ihrer Kindheit auch nicht gehabt. Das setzt sich dann fort in einem Jammern darüber, wie schlecht es einem doch ginge und dass es daher eine Unverschämtheit wäre, wenn jetzt nicht die Dinge zu ihren Gunsten geändert würden. Das Kind, welches die Zusammenhänge nicht zu erkennen vermag, lernt daraus, dass es eine Alternative im Leben gibt: nicht an der Selbst- verwirklichung zu arbeiten, sondern klageweise all das zu erzwingen, was einem scheinbar vorenthalten wird. Klagen muss aber nur derjenige, der passiv ist. Der aktive Mensch kommt überhaupt nicht auf die Idee zu klagen, denn dies würde offenbaren, dass er nicht dazu fähig wäre, sich zu organisieren, mit Anderen zu gestalten und sich in seinem Leben zu verwirklichen. Wer nicht klagt, hat Mut. Er arbeitet an der Beherrschung seines Lebens, bleibt gesund und freut sich jeden Tag. Wer gestaltet und verändert, schwimmt gegen den Strom und hat mächtige Schwierigkeiten: Zum einen sind sämtliche Regularien, Gesetze und Verordnungen in der Regel nicht seine willkommenen Wegbereiter, jedenfalls soweit sie seine Selbstinitiative abschneiden. Aber auch Menschen, die klagen und Ansprüche stellen, können ihn nicht leiden, können nichts mit ihm anfangen und bezichtigen ihn des Verrats. Unter Klagenden und Leidenden ist man gerne einer Meinung und versucht, weitere Verbündete zu gewinnen. Jede Freude am Leben ist verdächtig, jeder Jauchzer ein Verrat an der gemeinsamen Misere.

Unsere Gesellschaft ist deshalb krank, weil sie auf Anspruchsdenken beruht. Diejenigen, die das System verteidigen, führen an, dass eine im Unglück solidarische Gesellschaft eher legitimiert sei, als eine Gesellschaft von Idealisten, die nach Selbstverwirklichung streben. Eine derartige Ansicht unterstellt, dass diejenigen, die sich im Leben verwirklichen wollen und auch daran arbeiten, grenzenlose Egoisten seien. Ich glaube, dass dies nicht der Fall ist. Ich bin davon überzeugt, dass diejenigen, die sich verwirklichen, vor allem geben und nicht nehmen. Sie warten nicht auf den nächsten Schritt anderer, sondern geben permanent, weil dies ihrem Lebensmuster entspricht. Sie sind überhaupt nicht daran interessiert, sich stets selbst zu betrachten, sondern schauen darauf, welche Möglichkeiten sich ihnen bieten, um ihren Tatendurst zu stillen. Es gibt nur ein großes Problem: In jeder Gesellschaft müssen sie kooperieren mit denjenigen, die kollektiv oder individuell Ansprüche stellen, die nur klagen und die Teilhaberschaft an ihrem Unglück einfordern. Dies stellt eine enorme Belastung dar, raubt Kräfte und führt oft zur Lähmung und zum Stillstand auch der interessantesten Projekte. Selbst dort, wo engagierte Menschen selbstlos tätig sind, begegnen ihnen Misstrauen und Unverständnis. Eine Gesellschaft, die in erster Linie klare Kompensationsrituale hat, vermag nicht zu verstehen, dass Einzelne gerne geben und nichts dafür wollen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ferien vom Ich (Teil 1)

Als ich fünfzehn Jahre alt war, fiel mir ein Gedicht von Friedrich Nietzsche in die Hände, das ich zu meinem Lebensmotto machte:

Ja! ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr’ ich mich
Licht wird alles, was ich fasse
Kohle alles, was ich lasse
Flamme bin ich sicherlich.

Die Orientierung an diesen Worten entsprang in meinem bisherigen Leben dem Bedürfnis prägend zu sein, fest überzeugt davon, dass wir auf die Welt gekommen sind, um etwas zu tun und nicht in erster Linie etwas zu verlangen. Das Bedürfnis an Orientierung wurde verstärkt durch die Lektüre von Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“. Alsbald wollte ich Goldmund sein und war davon überzeugt, dass ich auf einer Sommerwiese geboren wurde.

Das Leben ist schön und in jedem Falle eine Herausforderung. Wir sind geboren worden in der Erwartung unserer Eltern, dass wir etwas schaffen, gegebenenfalls über sie hinauswachsen, Dinge verbessern. Wir sind in der Welt, um in diesen Jahren bewusster Gestaltungsmöglichkeiten alles zu geben.

Jedoch bereits recht früh kommen wir mit etwas anderem in Berührung, und zwar den beengten Verhältnissen, den Schwierigkeiten, vor allem aber den Ansprüchen und den Klagen. Die Schwierigkeiten, unter diesen Umständen Leben zu entwickeln, darf man nicht kleinreden. Das gewöhnliche und außergewöhnliche Anspruchsverhalten und das Klagen vieler Menschen sind differenziert zu sehen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Neue Reihe: DES PUDELS KERN

Vorspruch

Wir wissen, dass wir nichts wissen. Das ist „des Pudels Kern“. Aber, wenn wir das ahnungslose Pudelchen schütteln, fliegt der eine oder andere Gedanke aus dem Pelz.

Unter dieser kuriosen Prämisse sind die folgenden Betrachtungen zu verstehen. Ein Sammelsurium ganz unterschiedlicher Einschätzungen, ohne inneren Zusammenhang und meist ohne Verständnis für die Protagonisten, aber mit großer Zuneigung.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zuwendungsgehör

Was ist erforderlich, um dem Zeitgeist auch in ordnungsrechtlicher Hinsicht Rechnung zu tragen? Es müssen die Maximen überprüft werden, nach denen traditionell Verfahrensabläufe geregelt werden. Die Herausforderung besteht darin, dass unsere Lebensverhältnisse sich weitaus komplexer und vielschichtiger darstellen, sich insgesamt eine neue gesellschaftliche Mechanik eingestellt hat, der weder die vorhandenen Institutionen, noch deren Verhaltensmuster gewachsen sind. Unser Rechtsdenken erfordert geordnete Abläufe in einer komplexen Welt. In diesem Sinne können z. B. die Inquisitionsmaxime oder der Beibringungsgrundsatz kaum noch einen Beitrag zur Gerechtigkeit leisten, zumal Konzentration und Verrechtlichung, d. h. Distanzierung vom Sachverhalt, auf der Rechtsagenda stehen. Überdeutlich wird dies aus dem Wegfall von Tatsacheninstanzen zur Sachverhaltsaufklärung. Dieser widerspricht eklatant dem Erklärungs- und Aufklärungsbedürfnis der Rechtssuchenden, die vor der rechtlichen Einordnung ihres Falles darum ringen, diesen weitestgehend inhaltlich transparent zu machen. Das rechtliche Gehör ist dabei nicht in erster Linie ein rechtliches Gehör, sondern ein Gehör an sich, d. h. der Rechtssuchende will vor allem gehört werden mit seinem Vorbringen. Er ist aber in einem komplexen, erledigungsorientierten Umfeld nicht mehr in der Lage, sich hinreichend   Gehör zu verschaffen.

In unserer  Welt setzt sich der Sachverhalt aus einer fast unerschöpflichen Wahrnehmung von Realitäten zusammen, strategisch zergliedert in konkrete Umstände, Einschätzungen, Meinungen, Widerrede und Fremdbeurteilungen. Diese unbewältigte Komplexität der Lebenswelt steht in krassem Widerspruch zu dem Muster der Leistungsgesellschaft, das sich in einer Verdrängung des Lebenssachverhaltes und der Verrechtlichung des Lebens bis hin zur Abstraktion darstellt. In der Konsequenz dieses Widerspruches werden nicht mehr Recht, sondern ausschließlich Beurteilungen maßgeblich, die in keinem notwendigen Sinnzusammenhang mehr mit den Sachverhalten stehen. Genährt wird diese Tendenz z. B. dadurch, dass Richter der Versuchung erliegen, im Interesse einer schnellen Rechtsstreiterledigung den Beibringungsgrundsatz intensiv zu nutzen und diejenige Partei, die eigentlich auf die Mitwirkung der anderen Partei angewiesen ist, so ihrer Argumente beraubt, indem sie diese für darlegungs- und beweispflichtig erklärt.

Eine entwickelte Gesellschaft muss dagegen eine Mitwirkungspflicht aller Parteien einfordern, d. h. nicht nur eine neue Beweislastverteilung ist erforderlich, sondern jede Partei ist verpflichtet, sich erschöpfend zum Sachverhalt zu erklären und nicht nur taktisch. Verletzt ein Beteiligter seine Mitwirkungspflicht, sollte daraus bereits der Rechtsverlust drohen, unabhängig davon, ob eine Darlegungs- und Beweislast im engeren Sinne bestanden hat. Die Mitwirkungsmaxime müsste als wesentliche Anforderung ins Prozessrecht mit aufgenommen werden und allgemein in unserer Lebens- und Rechtswirklichkeit Platz greifen.

Ein neues Rechtsverständnis ist in unserer Gesellschaft dringend erforderlich.

Dazu gehört u. a. die Einsicht, dass jedes Argument zählt. Auch eine fundierte Rechtsansicht ist nicht logischer als eine wirtschaftliche Einschätzung. Ein vernunftgeprägter Gedanke ist auch nicht plausibler als ein nicht begründbares Gefühl. Durch eine immer filigraner werdende Verrechtlichung unserer einen Welt schaffen Gesetzgeber und Justiz Parallelwelten, in denen Rechtsansichten zwar noch geduldet, aber nicht mehr für relevant genommen werden. Sie werden oft ignoriert, als unverständlich und lebensfremd bezeichnet. Man setzt sich über sie hinweg. Peu à peu wird auf diese Art und Weise auch der Rechtsstaat beseitigt. Es bildet sich an dessen Stelle eine Subkultur heraus, die anderen systematischen Verhaltensweisen, wirtschaftlichen Argumenten, emotionalen Einschätzungen, typisierten Anschauungen und sonstigen Verhaltenscodices und schließlich dem Vorschub leistet, was Billig- und Gerechtdenkende gerade als angemessen empfinden. Dieser Veränderungsprozess wird zur Relativierung unserer Gesetze und schließlich zur Korrosion unseres ganzen Rechtssystems führen. Wir schaffen mit unserer Regelungswut die Anarchie. Recht ist keine Kunst an sich und Rechtssicherheit nur ein, wenn auch wichtiger, Aspekt unseres Lebens. Der Mensch benötigt zur Bestätigung seines Seins vor allem Zuwendung, ein Gehör, das nicht nur rechtsbestimmt ist, d. h. a priori disqualifiziert, was „un“rechtlich ist, oder ausfiltert, was nicht passt. Will der Rechtsstaat die wesentliche Stütze unseres Gesellschaftssystems bleiben, sind neue Regeln und Verfahrensweisen erforderlich, die dem Menschen Gelegenheit geben, seine Argumente Anderen nahe zu bringen und auch zu korrigieren, wenn er feststellt, dass möglicherweise etwas nicht berücksichtigt geblieben ist, was für ihn und Andere wichtig sein könnte. Verfahrenstechnisch spielt dabei die Mediation eine große Rolle, aber auch die zweistufige Tatsacheninstanz und Schlichtungs- und Beratungsgespräche mit dem Ziel, Konflikte einzudämmen und Perspektiven zu schaffen. Der Gesetzgeber sollte das Vertrauen in seine Bürger wiedergewinnen, in einen Menschen, der unterscheiden kann und Verantwortung trägt. Mit weit weniger Gesetzen und Regularien könnte so eine größere Aufmerksamkeit erzeugt werden und sich in der Gesellschaft wieder ein Gerechtigkeitsgefühl einstellen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ruhe-Stand

Vor kurzem erhielt ich die Einladung eines Geschäftspartners zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand. Ein gesetztes Essen im Museum wurde angerichtet. Ich nahm sie gerne an, allerdings mit einem mulmigen Gefühl. Ich erspähte meinen Namen auf einem Tischkärtchen und erfuhr bei der tischinternen Vorstellungsrunde, dass mein Nachbar zur Linken vor ca. 6 Monaten in den Ruhestand verabschiedet worden sei und meine Nachbarin zur Rechten sich als Ehefrau eines weiteren anwesenden Herrn erwies, dessen Ruhestand ebenfalls soeben begonnen habe. Weitere Ruheständler hatten sich um den Tisch versammelt. Keine der anwesenden Persönlichkeiten war offensichtlich noch erwerbsorientiert tätig. Dabei konnte ich durch Inaugenscheinnahme klären, dass das Altersspektrum der Anwesenden an diesem sowie an allen weiteren Tischen an Lebensjahren zwischen 45 und Ende 70 lag. Nach unserem etwas moderneren Verständnis von Alter befanden sich also keine Greise im Festsaal des Museums, sondern Menschen, die einen überwiegend fitten Eindruck machten. Sie alle verband, dass sie sich im Ruhestand befanden oder gerade im Begriffe dazu waren, ebenfalls Ruheständler zu werden.

Es wurden neben einer Museumspräsentation und einem wirklich köstlichen Essen viele Reden gehalten. Alles in allem glaubte ich Abgesänge auf unseren Ruheständler zu hören, den wir heute verabschiedeten. Es wurde berichtet von seiner Tollkühnheit in der Jugend, die Liebe zu der Frau, die mit ihm gealtert war – ein Hirsch sei er gewesen! – und den Kindern – alle heute auch im Alter zwischen 30 und 40 Jahren – und seiner beruflichen Karriere. All dies hatte der Jubilar hinter sich gelassen und die Erwähnung seiner Großtaten, insbesondere einer waghalsigen Kanufahrt in Kanada, ließ sich nicht mehr so recht kompatibel mit der augenblicklichen Wahrnehmung verbinden. Vorbei ist vorbei!

Aus der Mitte des Freundeskreises des Ruheständlers wurde von der Würfelrunde gesprochen, die jeden Montag stattfinde, den Radtouren, die es auch zukünftig geben werde, und von Reisen, die man vorhabe. Es wurde ihm zugerufen, jetzt sei er endlich frei und könne tun, was er wolle, insbesondere lesen, selbst die Wahrnehmung der Kulturangebote und die Hobbys ständen nun vordringlich auf dem Tagesplan. Ich glaube, mein betagter Geschäftsfreund hatte sich auf diesen Tag gefreut. Die Zeit war ihm höchst willkommen, nicht mehr täglich 10 bis 12 Stunden zu arbeiten. Aber an diesem Tage, als er in die Gemeinschaft der Ruheständler aufgenommen wurde, wurde es ihm doch bange. Sicher bange vor ihrem Triumph, ihn endlich bei sich zu haben für die nächsten 20, 30, 40 Jahre, ihn stellvertretend für alle anderen Ruheständler, die sich heute in den Ruhestand schon im Alter zwischen 45 und 60 verabschieden müssen.

Ruhe-Stand, welch erbarmungsloses Wort. Der Proband wird in den Stand der Ruhe gebracht, muss anhalten in dem Leben, welches ihm bis zu diesem Zeitpunkt besonders wichtig gewesen ist. Er will und wird sich künftig weiter fit halten, aber weiß er noch wozu? Er wird einer Beschäftigung nachgehen, aber wie kann er sich versichern, dass diese Andere interessiert? Er hört jetzt, über was andere Ruheständler reden, und kann nicht mehr sagen, er sei noch weit davon entfernt. Er hört sie klagen über ihre wirtschaftlichen Einschnitte, ihre körperlichen Untersuchungen, ihre Restauranttipps und Erholungsreisen. Jetzt steht er da und wartet in Ruhe, bis er soweit ist. Das nächste größere Ereignis, abgesehen von kleineren Familienfreuden wie Enkeln und dergleichen, wird der Tod sein. Zwischen dem Beginn des Ruhestandes und dem finalen Aus gibt es meist nur den Sinn, lang und länger schmerzfrei und sorglos zu leben. Auf Ruheständler sind wir, die mitten im Arbeitskampf stehen, nicht vorbereitet. Der hoch vermögende Geschäftspartner, der mit seinem Network, also seinen Kontakten, seinem Einfluss   und   seinem   Geld   stets   ein   willkommener Gesprächspartner gewesen ist, wird von einem Tag auf den anderen derjenige sein, der nicht mehr gefragt ist. Über was soll man mit einem Ruheständler reden? Über seine Erfahrungen? Ja, zuweilen auch das, aber die Fremdheit und das Desinteresse beginnen mit dem Bekenntnis: Ich bin jetzt Ruheständler! Aus diesem Grunde werde ich niemals Ruheständler werden, sondern meinen Unruhestand pflegen, selbst dann, wenn alles, was ich tue, nicht mehr ausschließlich mit der Beschaffung von Geld zu tun hat, sondern einem Zweck dient, der mir hilft, mich weiter auszubilden. Jede Tätigkeit mit und für andere Menschen stellt eine solche Herausforderung dar, ob ich eine Stiftung gründe oder mich für ein Ehrenamt engagiere. Wer gibt, bleibt dran, ist weiter wichtig für andere Menschen, anders als einer, der an seiner Selbstfürsorge allmählich zugrunde geht.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wegen des Prinzips

Es ist mir gut in Erinnerung, dass ich „wegen des Prinzips“ einen Rechtsstreit führen sollte. Bei einem Streitwert von nur ca. 100,00 Euro ging es um ein in der chemischen Reinigung angeblich verdorbenes Kleidungsstück. Hätte ich die Eskalation dieses Falles vorausgeahnt, hätte ich das Mandat sofort beendet, meiner Mandantin 100,00 Euro in Hand gedrückt und sie gebeten, mich nicht weiter zu behelligen. Der Eigenaufwand meines Büros in dieser Sache lag nach mehreren Beweisaufnahmen bei bewerteten 2.000,00 Euro. Betrachtet man das eigene Zeitkontingent, die Beschäftigung des Gerichts und auch der beklagten Partei mit diesem Vorgang, kann man leicht von einem Gesamtaufwand von etwa 4.000,00 bis 5.000,00 Euro ausgehen. Dies alles „wegen des Prinzips“.

Meine Mandantin hatte wahrscheinlich Recht. Das Kleidungsstück hatte sich in der Reinigung verfärbt. Zur Nachbesserung war der Besitzer dieser Reinigung nicht mehr bereit, weil meine Mandantin ihm frech gekommen sei. Meine Mandantin wollte die Schmach aber nicht auf sich sitzen lassen, weil die Reinigung plötzlich leugnete, die Reinigungsarbeiten vorgenommen zu haben, ja sie überhaupt zu kennen. Schließlich behauptete die Reinigung sogar, meine Mandantin habe die Flecken auf dem Kleidungsstück selbst verursacht. Nicht aber der kostenträchtige, ausufernde Prozess ist Gegenstand dieser Betrachtung, sondern das Erschrecken vor dem menschlichen Schaden, der durch eine solche Prinzipientreue entsteht. Meine Mandantin ließ mich wissen, es ginge ihr um die Gerechtigkeit. Meinen Einwand, dass es jedenfalls bei Gericht nicht um Gerechtigkeit, sondern um ein Urteil ginge, ließ sie nicht gelten. Deutschland sei ja schließlich ein Rechtsstaat und ihre Eltern hätten ihr beigebracht, ehrlich zu sein. Die Anderen würden lügen, das sei doch offensichtlich und auch das Gericht müsste dies letztlich erkennen. Die Argumente hatten sich allmählich verselbstständigt und dienten nur noch dem Zwecke, sich durchzusetzen und den Rechtsstreit möglichst zufriedenstellend für sich zu beenden. Einer oder mehrere Zeugen mussten zwangsläufig dafür lügen. Auch wenn die Partei selbst, die sie durch ihre Falschaussagen begünstigen, in diesem Rechtsstreit obsiegen sollte, bleiben die Zeugen zeitlebens mit dem Makel behaftet, vor Gericht die Unwahrheit gesagt zu haben.

Werden sie diese Aussage als einen persönlichen Erfolg werten, scheuen sie sich auch künftig bei nächstbester Gelegenheit nicht, wiederum die Unwahrheit zu sagen und so fort. Die un- terlegene Partei erhält dagegen angesichts der Höhe des Streitwertes ein nicht reversibles Urteil. Sie hat nicht nur während der Dauer des Prozessgeschehens – der Prozess dauerte immerhin fast ein Jahr – sich ständig mit dem Vorgang befassen müssen, sondern zumindest vor den Terminen nicht mehr geschlafen und schließlich das verdorbene Kleidungsstück in ihrem Schrank aufbewahrt. Das Leben ist darüber unfroh geworden, weil es ihr nicht hilft, dass sie gelegentlich weint und ihre Freundinnen sie darin bestärken, dass sie eigentlich Recht habe, denn die erwartete Genugtuung bleibt aus. Nach einiger Zeit haben auch die Freundinnen die Nase voll von ihrem Jammer. Es folgt, dass sie sich überhaupt von ihr abwenden. Das Beweisstück der Schmach bleibt im Schrank bewahrt und erinnert sie ständig an ihr Unglück. Im Prinzip hat sie ja Recht. Auch ich habe keinen Zweifel daran gehabt, dass das Kleidungsstück in der Wäscherei verdorben wurde. Doch ihre prinzipiellen Anstrengungen haben nicht dazu geführt, dass sich etwas änderte, außer dass sie angefangen hatte, an ihrem Rechtsstaat und der Gerechtigkeit zu verzweifeln.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Auf dem kürzesten Weg

Eine häufig zu vernehmende Mahnung lautet: Hast Du es denn schon einmal auf dem kurzen Weg probiert? Es hat den Eindruck, als hätten wir eine große Scheu davor, den kurzen Weg zu nehmen. Wir kreisen unsere Möglichkeiten ein und schaffen viele verschlungene Wege, um doch nur eines anzudeuten: den Anspruch auf den kurzen Weg. Es ist der kurze Weg, der A und B verbindet. Doch wenn es darum geht, diese Punkte schnurgerade miteinander ins Benehmen zu setzen, sträubt sich dagegen der gestalterische Sinn. Draußen in der Stadt werden zur Anlage der Wege städtebauliche Konzepte bemüht, künstlerische Erwartungen und philosophische Haltungen zum Ausdruck gebracht. So erschließen sich die Wege nicht aus dem natürlichen Verbindungswillen der Menschen, die von A nach B gelangen wollen. Ihnen wird vielmehr mit großem Aufwand an Zäunen, Einfriedungen und Gehbelägen der Weg gewiesen. Dabei sind es die Menschen, die durch schnurgerade Trampelpfade anzeigen, welcher Wille in ihnen steckt, die vorgegebenen Pfade zu verlassen und den kürzesten Weg zu gehen. Landschaftsflächengestalter sollten dies beherzigen und an neu anzulegenden Flächen Punkte markieren, die den Ausgang und das Ziel benennen, ohne   den Menschen in seiner Bewegungsrichtung zu bevormunden. Es gilt, das selbstverständlich Geschaffene zu verbinden. Der Mensch selbst hat den Weg, den er gehen will, aufgezeigt, ihn in Besitz genommen und diejenigen beeindruckt, die ihm eine solche Entscheidungsmacht nie zugetraut hätten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wort halten

Manch einer erinnert sich gern daran, dass früher einmal noch das Kaufmannswort „galt“. Darunter war zu verstehen, dass sich nach abgeschlossenem Geschäft die beteiligten Kaufleute durch Händedruck versprachen, das Ausgehandelte auch wortgetreu einzuhalten. Weil alle Kaufleute davon profitierten, hielten sie sich daran. Derjenige, der sein Wort brach, wurde nicht mehr als verlässlicher Geschäftspartner angesehen. Mit ihm wurden keine Geschäfte mehr gemacht. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Wettschulden. Sie seien, so hieß es, Ehrenschulden und waren zu begleichen, auch wenn es hierüber keine verlässlichen Dokumente gab, die Grundlage für deren Einklagbarkeit boten. Haben sich die Zeiten verändert? Das Kaufmannswort gilt nicht mehr. An die Stelle des Händedrucks sind um- fassende, Akten füllende Dokumente getreten. Viele versuchen zudem, Schwachpunkte im schriftlichen Wort der Dokumente zu finden, um daraus Vergünstigungen für die eigene Position abzuleiten. Das gesprochene Wort, insbesondere in der Formerscheinung des Telefonats, ist daneben höchst effektiv, denn es gibt keine Zeugen. Das gesprochene Wort ist also vor allem korrigierbar geworden. Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern. Das sagt der Volksmund und viele denken so. Aber sie denken auch anders, denn obwohl sie auch Täter sein können sind sie meist auch das Opfer. Das Opfer von Wortbruch, Verrat und hinterlistiger Geschwätzigkeit. Manche Menschen begreifen, dass sie dem im täglichen Leben nur schwer entgehen können, wissen sich aber nicht zu helfen. Die Opfer werden wie die Täter und beklagen den Zustand. Keiner ist sich mehr sicher, dass ihm noch getraut wird und er vertraut auch keinem anderen mehr. Der Verlust an menschlicher Überzeugungskraft ist allgegenwärtig. Dies drückt sich vielfältig, vor allem im finanziellen und wirtschaftlichen Bereich, aus. Aufgrund des zunehmenden Vertrauensverlustes werden die Menschen unsicher, verlieren ihre Investitionsfreudigkeit und Kreativität. Die Wortbrüchigen werden schließlich aber daran scheitern, dass eine Sehnsucht besteht nach Verlässlichkeit, denn sie ist die Voraussetzung da- für, dass sich der Mensch neue Möglichkeiten geschäftlicher Betätigung im Dienstleistungsbereich erschließt. Dann wird der wieder einen Vorteil haben, dessen Wort gilt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski