Archiv für den Monat: April 2017

Frust

Seit schon langer Zeit ist aus den Medien der Frust zu vernehmen, den Menschen erleben, die von der Gesellschaft abgehängt sein sollen. Es sei erforderlich, auf deren Sorgen und Nöte einzugehen und sie ernst zu nehmen in ihren Ängsten, Befürchtungen und Bedürfnissen. Das hört sich gut an, enthält aber nicht mehr als eine katechetische Leerformel.

Es macht einen himmelweiten Unterschied, ob man etwas ernst nimmt oder die Auffassung derjenigen teilt, die der beschriebenen Bevölkerungsgruppe entsprechen. Dabei ist von dem Frust derjenigen in diesem Zusammenhang überhaupt nicht die Rede, die für Vernunft, Toleranz, Demokratie und menschliches Miteinander stehen und dabei herausgefordert werden von denjenigen, die dieses Gebot missachten. Frust ist allerdings keine Einbahnstraße und es ist zu befürchten, dass auch die Vernünftigen auf die Idee kommen könnten, den Bettel hinzuwerfen und nichts mehr zu tun.

Natürlich fährt dann unsere Gesellschaft gegen die Wand, Chaos bricht aus, ggf. Bürgerkrieg. Darf der Frust von Menschen so wirkungsmächtig sein, dass er unser aller Handeln bestimmt? Können wir den plakativen Sorgen und Nöten nichts entgegensetzen, außer einem ebenso plakativen Verständnis, obwohl wir eigentlich diese Art von Radikalisierung nicht verstehen können, ja nicht verstehen dürfen. Die radikale Realitätsverweigerung, die Ausschaltung von Vernunft und emotionale Überfrachtung ist krank. Ein Heilmittel findet sich ggf. in der alternativen Medizin, d. h. der Staat und wir alle müssen uns darum kümmern, unsere Gesellschaft in dem Prozess der Errungenschaften nicht nur auf wirtschaftlichen, sondern auch auf sozialen Gebieten weiterzubringen.

Nicht die Umverteilung, sondern die gleichmäßige Verteilung der Möglichkeiten, auch unter Berücksichtigung des Leistungsprinzips, ist unumgänglich. Es muss wieder Freude machen zu leben, zu arbeiten und sich zu engagieren. Vorschriften und Regeln und ständige Zumutungen schränken unser Leben schon derartig ein, dass die Freiheit und Selbstbestimmtheit des Menschen darunter leidet. Wir müssen Pläne entwickeln, Pläne unseres Zusammenlebens und des Nutzens unserer Möglichkeiten auf allen Gebieten. Ohne kollektive Lebensplanung wächst der Frust und damit auch die Gefahr des Scheiterns unserer Gesellschaft.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Vorteile

Menschen streben nach Vorteilen für sich und den Umständen nach auch noch für ihre Familie und ihren Clan. Der Bereich des Clans kann dabei auch die Region, den Staat oder eine bestimmte Volksangehörigkeit miteinschließen. Das Streben nach Vorteilen ist nicht verwerflich, sondern ermöglicht Entwicklung, schafft Selbstvertrauen und könnte auch Anlass dafür sein, andere Menschen in den Kreis der Begünstigten mit einzubeziehen.

Vorteile können auf Eroberung, Erpressung und Aneignung beruhen. Vorteile drücken sich aber auch darin aus, dass im Vorteilsnehmer das Gefühl wächst, das Leben verändert und verbessert sich. Die dem Vorteil zugrundeliegenden Angebote müssen nicht unbedingt real sein, sondern können auch auf Versprechen beruhen, die ihre Wirkzeit benötigen. Vorteile sind Zielmarken, die Trägheiten zu überwinden helfen und Orientierung geben, und zwar auch dann, wenn der Genuss dieser Vorteile niemals eintreten sollte.

Auch hier ist der Weg das Ziel und gibt dem Vorteilversprechenden einen Hirtenstab an die Hand, der dem Vorteilsnehmer den Weg in eine bessere Zukunft weist. Auch wenn Vorteile und ihre Wirkung nur auf Annahmen beruhen, so schaffen sie doch eine Atmosphäre des Aufbruchs, überwinden Vorbehalte, gewähren Armen, Schwachen und scheinbar nicht relevanten Bevölkerungsgruppen Kredite selbst dann, wenn mangels realer Vorteilsgewährung eine Rückzahlung nicht in Betracht kommt. Es mag Enttäuschungen geben, aber stellen diese nicht selbst Vorteile angesichts der oft beschworenen Alternativlosigkeit dar?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Opfer

Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin. Ein terroristischer Attentäter rast mit einem Sattelschlepper dort hinein und tötet viele Menschen. Opfer. Und keiner spricht über sie. Medial und politisch ist vom Täter die Rede, seinem Unterstützerkreis, dem Terrorismus im Allgemeinen und was man tun muss, um unsere Gesellschaft davor zu schützen. Auch das Versagen der Sicherungsorgane, Polizei und Kriminalämter werden angeprangert und schließlich weitere Gesetze und Verordnungen gefordert, um terroristische Aktionen zu unterbinden.

Wir, die Deutschen, müssen geschützt werden, koste es, was es wolle. Der öffentliche Raum ist erfüllt von Vorwürfen und Forderungen Ausländer betreffend, die zu uns gekommen sind. Alle Verlautbarungen zu diesem Thema sind aufgeladen durch die schrecklichen Vorkommnisse auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Aber, kaum ein Wort von den Opfern. Wir wissen von den Opfern wenig. Dürre Hinweise auf ihre Nationalität, Polen, Israeli und Brandenburger?

Eine Gedenkveranstaltung und Blumen sowie Kerzen, aber alles im bescheidenen Maße. Wer ist denn Opfer des Anschlags, die Toten oder die Gesellschaft? Die Opferhilfe nach dem Opferschutzgesetz greift für die Toten nicht, sondern nur die Nothilfe aus dem gemeinsamen Topf der Haftpflichtversicherer. Ein Lkw ist kein Messer oder Knüppel. Wir sind als Menschen nicht darauf vorbereitet, Verletzte zu sein. Unser Leben, unsere Habe, alles zu verlieren. Und dabei war es noch gar nicht lange her, dass wir hätten lernen können Opfer wahrzunehmen: die Toten des Holocaust.

Aber, unter Vermeidung des Opferbegriffes versuchten wir unsere Schuld zu mindern und uns selbst als die Leidtragenden der Nazizeit zu bemitleiden. Unser Gedächtnis, d. h. das Gedächtnis unserer Gesellschaft ist da sehr lang. Opfer sein, ist unangenehm, störend und negativ besetzt. Auch in Strafprozessen spielen Opfer einer Straftat stets eine nebensächliche Rolle. Es geht um die Täter, die es abzuurteilen gilt. Junge Menschen bezeichnen oft diejenigen, die sie demütigen wollen, als Opfer. Keiner will Opfer sein. Die Eigenschaft, Opfer zu sein, stigmatisiert, zieht Unglück an. Opfer religiösen Fanatismusses werden bei Aufdeckung der an ihnen begangenen Schandtaten zudem noch Opfer weiterer Gewalt.

Die Opferspirale dreht sich weiter und verstärkt den Prozess der Aggression je deutlicher das Unrecht, welches man dem Opfer angetan hat, zutage tritt. Dem Opfer raubt man seine Würde. Diese ihm im Rahmen kollektiver Verantwortung wieder zurückzugeben, wäre der erste Schritt auf dem Weg zur Versöhnung und Anerkennung der stets drohenden eigenen Gefährdung.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schein und sein

Der Schein bestimmt das Sein in der Gesellschaft. Das Wortspiel birgt einen Kern Wahrheit. Die Anerkennung, die ein Mensch in unserer Gesellschaft erfährt, beruht meist darauf, dass es dem Geltungssuchenden gelingt, sich anderen überzeugend zu präsentieren. Überzeugend ist eine Präsentation dann, wenn körperliche Vorteile, Sprachvermögen, finanzielle Überlegenheit oder große Virtuosität in der Pflege sozialer Netzwerke zur Geltung gebracht werden kann.

Kommunikative Fähigkeit ist sicher ein Schlüsselwort für soziale Anerkennung, die das Sein bestätigt. Der äußere Schein mag trügen, stellt aber gleichwohl für die Mehrheit der Menschen eine existenzielle Selbstvergewisserung dar. Oft ist der Schein von dem Sein nicht zu trennen, aber das Sein mag sich vom Schein durchaus zu emanzipieren.

Gemeint ist das Sein, das auf Leistung, Empathie, musischer, sprachlicher und intellektueller Kraft beruht. Dieses Sein macht sich frei von Erwartungshaltungen der Gesellschaft, findet ein ausgeglichenes Verhältnis zu Geben und Nehmen, ist an der eigenen Entwicklung interessiert und leistet einen Beitrag für andere. Dass auf einen solchen Menschen oft auch alle Scheinwerfer gerichtet sind, stört nicht, denn er hat sich davon nicht abhängig gemacht.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Alles Krimi oder was?

Meine Generation kann sich daran erinnern, dass Durbridge-Krimis früher die Straßen leerfegten. Sogar Studentendemonstrationen in Berlin wurden in den 60er Jahren von manchen verlassen, um rechtzeitig bei Spaghetti mit Tomatensauce und algerischem Rotwein am Samstagabend dem Kommissar zuzuschauen. Natürlich unvergesslich „Derrick“, „Liebling Kreuzberg“ oder Tatort-Krimis mit Götz George.

Und heute: alles Krimi oder was? Ich zumindest habe den Eindruck, dass es nur noch zwei Fernsehformate, abgesehen von Kochshows und Schnulzen gibt: Krimis oder Rateshows. Da ich grundsätzlich keine Lust habe, Privatsender anzuschauen, kann ich nur vermuten, dass auch dort nur Krimis, Rateshows und Superstarsendungen angeboten werden. Bei Rateshows schwitzt ein Großteil der Zuschauer mit, ob der Kandidat in der Lage ist, auch die absurdesten Fragen zu beantworten. Identifikation ist hier erwünscht und möglich.

Wie verhält es sich aber bei den Krimis? Die meisten Krimis, die ich in letzter Zeit gesehen habe, lassen die Seelenqualen der Kriminalisten und ihr gestörtes Sozialleben nicht nur erahnen, sie zeigen es sogar ausführlich. Es ist bald kein Unterschied mehr auszumachen zwischen Tätern und Verfolgern. Alles gestörte Menschen. Gehen die Macher dieser Produktionen davon aus, dass auch die Zuschauer gestört sind? Das muss man wohl unterstellen. Natürlich sind wir – die Zuschauer – schon einiges gewohnt an Reizüberflutung optischer und akustischer Art. Die Messlatte hängt daher recht hoch. Aber dürfen wir überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen?

Gibt es außer den Verbrechen in unserer Gesellschaft noch irgendeinen geschützten Zuschauerraum, in dem wir uns vergnügen können? Gibt es so etwas wie eine Normalität? Welcher Zuschauer kann, nachdem er gerade einen Film gesehen hat, bei dem ein Kleinkind zu Tode gekommen ist und/oder eine Frau vergewaltigt oder jemand verstümmelt wurde, noch selig einschlafen?

Wir leben doch nicht fürs Fernsehen und müssen uns dennoch konditionieren, damit wir in der Lage sind, diese verqueren Krimiprodukte in den Abendstunden zu ertragen. Irgendetwas läuft da völlig schief und wir bezahlen zwangsweise noch diese Peinigung. Dass der Markt das will, ist eine billige Ausrede. Es geht um das Produktionsinteresse der mit den Sendern verbundenen Firmen. Diese Produktionen sind einfacher und preiswerter zu erlangen, als solche, die von unabhängigen Produktionsfirmen geschaffen werden.

Gäbe es Alternativen? Natürlich. Es gäbe genug Geschichten zu erzählen, die nicht beweihraucht und/oder verkitscht mit Europa und seinen Regionen und unseren sozialen Erlebnissen zu tun hätten. Kiez-Geschichten, aber auch solche, die sich mit Humor unseren Schwächen widmen. Das alles gibt es zwar auch, aber nach meiner Einschätzung in verschwindenden Maße. Wenn das mit den Krimis und Rateshows anhält, werde auch ich fordern, dass man mir meine zwangsweise eingezogenen Beiträge für das öffentliche Fernsehen wieder zurückgibt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Sammlung

Als Kind legte ich mir eine Postkartensammlung an. In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war für mich die Postkartensammlung mein Guckloch in die weite Welt, die Motive vielfältig, natürlich vor allem Landschaften, aber auch Ereignisse, wie Radrennen und Vergnügungshöhepunkte. Anders als durch diese Postkarten hätte ich damals die Welt kaum kennenlernen können, vielleicht etwas träumen, aber nicht erwarten dürfen, dass dies jemals wirklich passiert. Viele Karten zeigten zudem eine Zeit und ihre Gewohnheiten, die es im Nachkriegsdeutschland nicht mehr gab, aber aufregend gewesen zu sein schien: schnelle Züge wie den „Rasenden Roland“ und Tanzveranstaltungen im „Wintergarten“.

Das Zeitfenster in die Vergangenheit versprach aber auch eine Zukunft und entstand stets vor meinen Augen neu, wenn ich meine Postkartensammlung wieder durchmischte und von Neuem betrachtete. Ich bin vielen Menschen begegnet, die sammeln: Postmarkensammlungen anlegten, natürlich aber auch Autos, Plastiktüten und Schnupftabakdosen horteten. Es gibt kaum etwas, was nicht sammlungsfähig ist. Die Motive können allerdings unterschiedlicher nicht sein. Manchen Sammlern – auch von großartigen Kunstwerken – geht es überhaupt nicht um die Kunst an sich, sondern um deren Wert. Andere wiederum sammeln Kunst, weil sie sich einer bestimmten Stilepoche verpflichtet sehen und nicht ruhen können, bis sie eine möglichst geschlossene Darstellung einer Zeit gesammelt haben.

Das Sammeln kann vom Ergebnis her geprägt sein, aber auch vom Prozess des Tuns. Wer sammelt, schafft an. Gleich einer Honigbiene vermehrt er den Nährstoff für sich und ggf. auch für andere. Das Sammeln von Geld gehört natürlich auch dazu. Selbst, wenn es Münzsammler gibt, denen es mehr auf die Münze als auf deren Wert ankommt, gilt Geldscheffeln auch als Teil eines Sammelprozesses. Sammeln ist nicht nur auf Gegenstände beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf Erfahrungen, immaterielle Eindrücke oder ungegenständliche Körperlichkeiten im engeren Sinne, wie Männer, Frauen, Hunde oder Pferde. Nichts lässt die Sammelleidenschaft außer Acht und offenbart dadurch eine Haltung, die vielfältige weitere Aspekte aufweisen kann.

Es hat mit der Potenzierung der Machterringung über einen Gegenstand, aber auch über einen Körper zu tun. Sammeln signalisiert die im Prozess befangene Angst vorm Verlust eines Status, der durch das Sammeln erhalten bleiben soll. Sammeln kann idealistisch geprägt sein, aber auch anmaßend, zum Beispiel dadurch, dass zum Wohle der eigenen Sammlung die Sammlungen anderer geschmälert werden. Durch das eigene Sammeln kann der Verlust bei anderen mit einkalkuliert sein. Idealistisch gesehen bedeutet sammeln auch bewahren und erhalten, was sonst unter die Räder gelangen könnte.

Eine vollendete Sammlung wird zuweilen für den Sammler selbst zur Belastung, weil sie zu erstarren scheint und sich entweder keiner findet, der sie übernimmt oder der Sammler selbst sich von ihr nicht lösen kann. Der Sammler ahnt, dass im Regelfall auch seine Sammlung zum Beispiel von Kronkorken eine Endlichkeit hat, die spätestens mit seinem Tod eintritt. Die meisten vererbten Kunstsammlungen sind eine Belastung für die Erben und eine Sammlung von Hunden, Katzen oder Papageien kaum zoofähig. Kein Wort gegen Sammlungen: Deren Endlichkeit und Auflösung sollte allerdings mit bedacht werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Faschist

Faschismus ist zwischenzeitlich ein gängiger Arbeitsbegriff von Potentaten, die damit Menschen in ihrem Sinne beeinflussen wollen. Offenbar ist er noch nicht ganz abgenutzt, obwohl nicht nur Erdogan, sondern auch Putin ihn gerne benutzen. Faschisten sind immer die Anderen und man gehört selbst selbstverständlich zu den Guten. Warum funktioniert das, obwohl die durch den Faschismus-Vergleich Angesprochenen wahrscheinlich die Bedeutung des Begriffes Faschismus überhaupt nicht kennen.

Ich vermute, dass der Begriff deshalb so gut funktioniert, weil sich jeder etwas Anderes darunter vorstellen kann, also gerade deshalb, weil niemand richtig weiß, was Faschismus ist. Emotional setzen die Potentaten auf diesen Effekt und destillieren aus der Ratlosigkeit des Adressaten ihre Unterstützung. Es möchte ja keiner bekennen, dass er nicht wisse, was hier gesagt wird und zudem vertraue er dem Potentaten, der dem Bösen so einen Namen gegeben hat. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. So einfach könnte es auch gesagt werden, aber nicht so empathisch.

Zudem scheint es legitim, mit in den Chor der Anderen einzustimmen, wenn der Potentat die Melodie vorgegeben hat. Der Einzelne mag doof sein, wenn er dies tut, aber wenn eine Mehrheit in das Lied einstimmt, kann es nicht falsch sein. Zudem ist es von Herzen befreiend, sich nicht grübelnd und abwägend durch das Leben zu bewegen, sondern einmal laut zu brüllen, um dann wieder dem Tagesgeschäft nachzugehen. In einer größeren Gruppe ist das auch einfacher, denn die Anderen machen mit.

Sollte jemand wegen seines Chorbeitrages je zur Rede gestellt werden, so kann er auf die suggestive Kraft der Masse verweisen und sich davonstehlen, wenn es brenzlig werden sollte. Wer zündelt, entfacht ein Feuer. Wer Andere aus Opportunitätsgründen Faschisten nennt, muss sich vergegenwärtigen, dass seine Taten eines Tages aufgeklärt werden.

Wie heißt es? Gottes Mühlen mahlen langsam, aber gerecht. Wir sollten uns nie vor den Wagen eines Potentaten spannen lassen und sein Marschlied singen. Irgendwann bleibt es uns in der Kehle stecken.

Dann Gnade uns Gott!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Jazz

Siegfried Schmidt-Joos hat mit seinem jüngst erschienenen Buch „Die Stasi swingt nicht, ein Jazzfan im kalten Krieg“ mein Leben bereichert. Er tat dies, indem er nicht nur faktenreich die Geschichte des Jazz der Vor- und Nachkriegszeit beschrieb, sondern vor allem dadurch, dass er dafür sorgte, dass der Funken der Begeisterung von ihm auf mich als seinen Leser übersprang.

Schon etwas mit Wehmut bedauerte ich beim Lesen seines Buches, dass ich zwar seit meiner Jugend gelegentlich Jazz auch in den Berliner Jazzkellern und Einrichtungen wie Quasimodo und Quartier Latin angehört, aber niemals verinnerlicht oder begriffen habe. Jazz war immer schon durch AFM und Rias Berlin gegenwärtig, beeinflusste die Bedeutsamkeit von Gesprächen und war ein idealer Begleiter bei Alkoholgenüssen.

Natürlich kannten wir alle Louis Armstrong, wichtiger waren uns aber in den 50er Jahren Elvis Presley und in den 60er Jahren die Beatles. Als ich in den 60er Jahren als Austauschschüler in den USA lebte, hörten wir die Beachboys und Country-Songs, aber kein Jazz. Das mir vorliegende Jazz-Buch zeigt mir auf, was ich versäumt habe. Jazz nicht als Droge, sondern als künstlerische Konfession und politische Manifestation. Detailgenau zeichnet Siegried Schmidt-Joos den gesellschaftlichen Prozess auf, der durchlaufen werden muss, damit ein musikalisches Produkt entsteht, dass akzeptanzfähig und nachfrageorientiert ist. Siegfried Schmidt-Joos verdeutlicht, wie wichtig die Fans und Organisatoren für die Entwicklung des Jazz und seine Manifestation in der Gesellschaft sind. Es ist sein Verdienst, eine mögliche Eindimensionalität der Jazz-Erfahrung, die nur vom künstlerischen Schaffen her bestimmt ist, zu korrigieren und die vielfältigen Brechungen und philosophischen, musikalischen, politischen und gesellschaftlichen Spektren aufzuzeigen.

Irrungen und Wirrungen, nichts kommt bei ihm zu kurz, aber vor allem durchzieht sein Werk, welches sprachlich hervorragend lesenswert geschrieben wurde, eine emotionale Wärme, die Seite für Seite verdeutlicht, dass hier ein Jazz-Fan ans Werk gegangen ist. Er hat mich nicht nur überzeugt, sondern mitgenommen in seine Welt. Ich werde Jazz-Musik künftig ganz anders wahrnehmen dürfen. Ich freue mich darauf und danke dem Autor.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski