Archiv für den Monat: Mai 2017

Augenblick der Betrachtung

„Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!“

So hat Goethe Faust sein Ende beschreiben lassen. Verweilen als Aufgabe der Unrast, Bereitschaft abzuschließen mit einem tätigen Leben. Diese Sichtweise ist zwar literarisch verbürgt, aber verweilen kann weit mehr implizieren, als die Beschaulichkeit der Endlichkeit. Verweilen ist auch innehalten, das Wägen und Prüfen eines Umstandes und Wahrnehmung des Augenblicks der Besinnung und des Resets.

Ein Weiler gewährt dem Reisenden Geborgenheit, beschützt ihn und lässt, bevor er weiterzieht, seine Kräfte erstarken. Wenn ich verweile, begegnet mir möglicherweise auch die Langeweile wieder, die unendliche Zeit des üppigen nichts tun müssen oder nichts tun können. Die Langeweile entspannt, entwickelt Empfindungen, Bilder und Gerüche, hat Einfluss auf die Zeit.

Wer verweilt, hat die Möglichkeit, sich körperlich, geistig und seelisch zu erholen, wird aber auch konfrontiert mit Sinneseindrücken, die die Geschäftigkeit des Alltags unterdrückt hat. Sehnsucht stellt sich ein, Sehnsucht nach dem, was unerreichbar erspürt wird. Ein Gefühl der Verlassenheit paart sich mit einer Ahnung des Möglichen, mahnt den Verweilenden zum Aufbruch nach einer Zeit des Innehaltens.

Das Verweilen ist dem Kind sehr nahe, geht aber im geschäftigen Leben abhanden. Um die Kraft des eigenen Seins wieder zu spüren und in der Erkenntnis, dass das Leben nicht durch die Hetze wertvoll gemacht wird, sollten wir uns auf das Verweilen einlassen, wieder mit uns selbst, unserer Familie und Freunden. Eine Gesellschaft, in der das Verweilen wieder Mode wird, kann ihre Lebenszeit auf erquickende Weise dehnen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Weltanschauung

Ob Husserl, Heidegger oder Sartre, immer, wenn ich von diesen oder anderen Philosophen lese, erfahre ich durchaus mit Erkenntnisschauer, dass sie sich auf eine für sie wesentliche Erkenntnismöglichkeit konzentrieren und alle ihre Wahrnehmungen darunter subsummieren. Ich bin ihnen dafür sehr dankbar, denn ohne diese Beharrlichkeit würde es kaum gelingen, ein Phänomen wirklich zu erfassen und es durch Wahrnehmung zu erproben. Was ich hier sage, scheint für alle Philosophen und ihre Werke zu gelten. Es scheint aber nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Religion, ja für jede Alternative der Weltanschauungen zu stimmen. Aus Teilaspekten formt sich das Ganze, so könnte man meinen.

Ich glaube aber nicht, dass es so ist. Gegenstand jeder philosophischen, religiösen oder weltanschaulichen Wahrnehmung ist unser Leben in der Wirklichkeit und in der transzendentalen Welt. Zur Wirklichkeit zählt auch das Unwirkliche der digitalen Welt und die transzendentale Welt erfasst Parallelwelten, pure Sinnlichkeiten und das, was wir nicht wissen.

Alle Betrachtungen folgen einer Logik der Wahrnehmung, ordnend, kategorisierend und formatierend. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ein solche Betrachtung dem zu betrachtenden Gegenstand gerecht wird bzw. die Bilder, Ideen und Beurteilungen, die damit erzeugt werden, bestandskräftig sind. Alles, was wir sagen, denken und beurteilen, ist ausschließlich momentan, mutmaßlich ohne Geltungswirkung über diesen Augenblick hinaus. Kein Moment erscheint mir eindeutig und dies sowohl im wirklichen, als auch im transzendenten Sinne.

Wie in einem Kaleidoskop zerfällt bei jeder Drehung des Sehrohrs das soeben noch Wahrgenommene in etwas Anderes, was genauso substanziell ist wie der abgelaufene Moment. Es hat sich nichts verändert und doch ist alles gerade ganz anders geworden, nichts verändert bedeutet auch, die weiter gewanderten bunten Steine sind dieselben geblieben, nur hat sich das Muster verändert. Bei einem Sehrohr, das keine Steine enthält, bricht sich der Hintergrund auf eine besondere Weise, ohne dass er sich selbst verändert hätte. Auch der Späher hat sich nicht verändert, weder das Auge, noch seine Rezeptoren.

Und doch ist alles ganz anders, und zwar in jedem Augenblick. Im Augenblick der Betrachtung lauert bereits der nächste Augenblick, der alles in Frage stellt und damit jede Eindeutigkeit einer Aussage verhindert. Eine sichere Weltanschauung, eine eindeutige Religion oder philosophische Erkenntnis gibt es nicht. Jeder in ihr befangene Augenblick ist wahr und schon fragwürdig in seiner Absolutheit, wenn er wahrgenommen wird.

Der atomare Kern eines Phänomens, das gleichzeitig gar keines ist, enthält eine so enorme Lebenskraft, dass sie sich der Erkenntnis verweigert. So müssen wir uns damit begnügen, was wir zu sehen glauben, beurteilen und meinen. Das Schöne ist, dass wir vom Kern aller Wahrnehmungen eine Ahnung haben dürfen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Der Konsument

Der Konsument ist Verbraucher. Er verbraucht etwas, dass ihm angeboten wird. Es sind Waren des täglichen Bedarfs, wie Nahrung und Bekleidung, aber auch Güter, die an sich überflüssig sind, ihn aber dennoch anziehen. Der Konsument will zufrieden gestellt werden. Er will erhalten, was er begehrt und meist wird ihm souffliert, was er begehren soll, weil andere es auch begehren. Der Konsument verbraucht zwar allein, aber stets in Verbundenheit mit anderen Menschen.

Wir konsumieren als Gemeinschaft, als Gesellschaft. Die Wirtschaft fördert unseren Konsum und befriedigt ihn. Wirtschaft ist abhängig vom Konsum, in manchen Ländern wie zum Beispiel den USA mehrheitlich. Der Konsument selbst hat sich seinerseits in Abhängigkeit gebracht von dem ihm seitens der Wirtschaft unterbreiteten Angebote, aber dabei seine Interessen durchaus ausdifferenziert.

Der Konsument fokussiert nicht nur die Warenwelt, sondern verknüpft diese auch mit Angeboten der Philanthropie, der Sozialhilfe, des Lifestyles, der Bildung und des Wohlgefühls. Je heterogener die Bedürfnisse des Konsumenten sich ausdifferenzieren lassen, umso weiter entfernt er sich von der Rolle des „braven“ Konsumenten, der verbraucht, was ihm seitens der Wirtschaft angeboten wird.

Er selbst wird Stimulant vielfältiger Möglichkeiten, die seitens einer auch heterogenen Wirtschaft gefertigt und ihm passgerecht angeboten werden müssen. Die Zeit des „Topdown“-Konsums ist dann vorbei, sondern Konsumenten und Anbietern begegnen sich auf Augenhöhe und müssen situativ und flexibel aufeinander reagieren können. Wenn Herstellung und Konsument im gleichen Boot sitzen, entwickeln sich aus dieser Kollaboration ganz neue Produkte, die aufnahmefähig sind für Effizienz, Kosten-/Nutzenrelevanz und Gerechtigkeit.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wahrheiten

Nicht selten hört man auch von Fachleuten in jüngster Zeit, dass der drohenden Überbevölkerung nur mit Kriegen und/oder einer Pandemie beizukommen sei. Es würde in nicht allzu langer Zeit nicht mehr ausreichend genug Wasser für die Menschen geben, Menschen ganzer Landstriche aufgrund Wasserknappheit verdursten. Hinzukommen die üblichen Szenarien, die auf Klimaveränderungen zurückgeführt werden. Unser Planet ist massiv bedroht. Wenn der Hebel einmal umgelegt werden würde, gäbe es kein Zurück. Unser menschliches Experiment müsse scheitern. Horrorszenario? Der Verschwörungstheorie nahe? Fake oder Wahrheit?

Irgendwie leben wir so weiter wie immer. Irgendjemand wird es schon richten. So schlimm ist es dann doch nicht gekommen, denken wir zum Beispiel an das Waldsterben. Schonungslose Offenheit? Fehlanzeige! Wir sehen und spüren, wie Völker nach Europa drängen, weil die Probleme der Überbevölkerung und der aggressiven Auseinandersetzung in ihren Heimatländern nicht gelöst werden. Unsere Reaktion: Sie sollen wegbleiben. Unsere Gesellschaft will mit den Problemen möglichst nicht behelligt werden, weil die Gesellschaft aus Individuen besteht, die ohnehin keinen Plan haben.

Also verdrängen wir lieber, was uns bevorsteht. Ist das fair gegenüber unseren Kindern und Enkelkindern? Was können wir tun? Zunächst einmal müssen wir uns auch im öffentlichen Raum intensiv zu Wahrheiten bekennen, anstatt zu beschwichtigen. Eigentlich wissen wir sehr genau, was wahr ist, wollen diese Erkenntnis aber aus Bequemlichkeit nicht wahrnehmen. Dies zu ändern, wäre der Anfang. Dann muss aber auch gehandelt werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ruhe

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;

so verrät uns der Dichter Johann Wolfgang von Goethe das Geheimnis der Stille. Dass das Ruhen der Beginn des Rasens sei, vermittelte uns in bleibender Bedeutung der Zeitungswissenschaftler Professor Emil Dovifat in einem Colloquium über die Bedeutung der Wörter die mit „r“ beginnen, wie rennen und rasen. Natürlich hat er recht. Ohne Ruhen bewegt sich nichts.

Bekannt ist auch die Ruhe vor dem Sturm, wobei unter Sturm nicht nur das meteorologische Phänomen gemeint ist, sondern auch die stille Ankündigung einer Aufregung oder eines Unheils. Ruhe und Ereignis stehen damit in einem Bedingungszusammenhang. Ruhe vermag zu verkünden, verfügt aber nicht unbedingt über Ausdehnung. Es gibt Phasen der Ruhe und auch der Entkopplung aus einem Moment und Einkopplung in den nächsten.

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, so verlangte es Graf von Schulenburg. Gemeint ist damit aber nicht die Ruhe als inneres Erlebnis, sondern das angeordnete Verhalten der Bürger. Auch, wenn die Begrifflichkeit stark changiert, je nachdem, wie sie genutzt wird, gibt es eine gewichtige für Menschen relevanten Kernaussage. Nur in der Ruhe liegt die Kraft.

So banal das klingen mag, ist doch gültig, dass nur die Ruhe die schöpferische, emotionale und geistige Kraft gewährt, um sowohl im persönlichen, als auch im gesellschaftlichen Bereich segensreich wirken zu können. Später werden wir einmal zur ewigen Ruhe gebettet, das allerdings ist dann keine selbstbestimmte Ruhe mehr, sondern ein Abschluss, in dem allerdings viele Theologen erst den Beginn des geistigen und manche sogar des körperlichen Lebens sehen. Wenn es sich so verhält, kommt der Mensch letztlich doch nie zur Ruhe.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wende

Im geläufigen Sinn verstehen wir unter wenden „umkehren“ und sich auf den Weg zum Ausgangspunkt machen. Nun gibt es allerdings nicht nur das buchstäbliche Wenden auf der Straße, sondern auch die Verkehrswende, die Mobilitätswende, die Energiewende, die historische und die politische Wende.

Bei den letzten Begriffen kann man wohl nicht von Wende reden, sondern die Wende signalisiert hier den Punkt, an dem das Vorhaben zum Stoppen kommt und eine neue Richtung nimmt. Der Verkehr auf unseren Straßen wird nicht weniger, wenn wir eine Wende proklamieren. Der Verkehr setzt sich allenfalls anders zusammen, ist konzeptioneller mehr aufeinander abgestimmt, als dies bisher der Fall war. Damit korrespondiert auch die Mobilitätswende, denn unbestreitbar läuft alles auf die Elektromobilität hinaus. Das aber nur dann, wenn wir genug Kapazitäten haben, um den erforderlichen Strom zu produzieren, weiterzuleiten und zu speichern.

Mit ein paar aufgestellten Windrädern und Solarmodulen sind wir noch meilenweit von einer Energiewende entfernt. Wie auch in diesen Bereichen sind politische Wenden oft gefährlich, verwirklichen auch nicht das, was sie verkünden. Die politische Wende in der DDR führte nicht zurück auf den Punkt null deutscher Gemeinsamkeiten, sondern setzte einen noch längst nicht abgeschlossenen Prozess der Angleichung zweier deutscher Staaten in Gang.

Da sich keine Wende in Westdeutschland vollzog, sondern ausschließlich in Ostdeutschland entsprechende Impulse gesetzt wurden, bleibt ein Gefühl der Unvollkommenheit des gesamten Prozesses. Eine gesellschaftliche Wende ist ein Prozess des sowohl als auch und gerade keine radikale Umkehr. Diejenigen, die sich umdrehen, um einen anderen Weg zu gehen, müssen sich vergegenwärtigen, dass man ihnen hinterherruft, sie seien Wendehälse. Für viele Menschen ist auch der falsche Weg der richtige. Sie drehen sich auch dann nicht um oder versuchen eine andere Lösung zu finden, wenn ihnen jeder sagt, sie seien auf dem Holzweg. Dabei können sie durchaus recht haben in ihrer Sturheit oder in ihrer klaren Sicht auf die Möglichkeiten, die ihnen die beharrliche Beibehaltung ihrer Orientierung ermöglicht.

Wendebereit zu sein, ist sicher eine Tugend, aber jede Wende mitzumachen, nicht unbedingt besonders anerkennungswürdig. Auf seinem Lebensweg, die persönliche und die gesellschaftliche Orientierung nicht zu verlieren, ist lobenswert, jedoch ist stets darauf zu achten, dass ein Wendemanöver nicht in einer „Halse“ endet.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ordnung

Seit seinem Amtsantritt erlebt der amerikanische Präsident Donald Trump, dass ein Großteil seiner Vorhaben entweder bei den Gerichten oder im Repräsentantenhaus scheitern. Das hat er wohl nicht einkalkuliert. Die Erfahrung dürfte für ihn schon deshalb schmerzlich sein, weil er einen verbindlichen Ordnungsrahmen des Staates nicht schätzt. Nun muss er lernen, dass es dieser Ordnungsrahmen mit ihm aufnehmen kann, viel stärker wirkt, als seine Tweets, sein Bashing des Gegners, insbesondere der Presse und kühne Ankündigungen wie die Kündigung von Obama-Care, Bau der Mauer zu Mexiko etc.

Wir tun uns im Übrigen keinen Gefallen, wenn wir bezogen auf den amerikanischen Präsidenten ihn „Trumpel“ nennen oder ihn auf irgendeine Art herabsetzen, ihn zum Komplizen unserer kleinen Welt machen. Er ist der amerikanische Präsident, wurde gewählt und ist verpflichtet, den ihm durch die Wahl auferlegten Dienst zu erfüllen. Als amerikanischer Präsident muss er sich an die vorgegebene Ordnung halten und kann dem System nicht entkommen, wie sehr er sich das auch wünschen mag.

Als der Bürger Donald Trump kann er dagegen alles machen, was die verfassungsrechtlich verbriefte Freiheit ihm gewährleistet. Das Präsidentenamt legt ihm Zügel an. Zuerst das System, die Ordnung und dann die politische Gestaltungsmöglichkeit. So jedenfalls verläuft dies in einem demokratisch legitimierten Staat. Auch der türkische Präsident Erdogan wird sich trotz aller Machtgelüste an diese Vorgaben halten müssen und die Ordnung wird ihn stets zwingen, seine eigenen Interessen den Interessen des Ganzen unterzuordnen.

Trotz aller schrillen Töne aus Ankara, die Türkei ist eine Demokratie, die meisten Menschen dort dialog-, streit- und konsensfähig. Das weiß der türkische Präsident genau, er will testen, wo seine Grenzen sind, wie weit er gehen kann. Deshalb sollten wir ihm gegenüber verbal abrüsten, nicht versuchen, ihn lächerlich zu machen oder zu diskreditieren. Damit diskreditieren wir die Ordnung, der gegenüber er weiterhin verpflichtet sein muss.

Ob das hier ausgeführte auch auf Russland zu übertragen ist, wage ich zu bezweifeln. Der russische Präsident hat sich des Absolutheitsanspruchs bereits bemächtigt und selbst eine Ordnung geschaffen, die autoritär ist. Eine solche Ordnung kann zumindest vorübergehend sehr effektiv sein. Wir kennen dies aus ähnlichen Herrschaftsordnungen, wie zum Beispiel China, Nordkorea oder Ägypten.

L´état c´est moi“ ist das Mantra jeder Diktatur, ob sie faschistisch oder paternalistisch daherkommt. Während absolutistische Ordnungen stets deren Beseitigung befürchten müssen, schaffen demokratische Ordnungen erst den spannenden politischen Handlungsrahmen, der es Politikern erlaubt, auf verlässlichem Grund und in engagierter Überzeugungsarbeit die Systementwicklung voranzubringen. Das Narrativ der Demokratie ist somit, zwar nicht nur, aber vor allem ein solches der Systeme und der Ordnung. Eine gelassene, auch kritik- und widerspruchverarbeitende Politik ist in diesem Rahmen gewährleistet.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Präsenz

Über den medialen Overkill wurde schon viel geschrieben. Es wird geklagt, dass der Mensch nicht mehr verarbeiten kann, was ihm ständig in den Medien, per E-Mail, Zeitschriften und natürlich auch Büchern angeboten werde. Das soziale Netzwerk, das eine ständige Präsenz des Menschen anfordere, sei dabei noch eine weitere Unumgänglichkeit, die der Mensch kaum mehr verkrafte. Die Klagen sind sicher berechtigt, aber an dem Zustand selbst wird sich nichts ändern.

Problematisch wirkt sich allerdings aus, dass unsere menschlichen Kapazitäten kaum ausreichen, um die Datenflut zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen, die der Komplexität der medialen Angebote Rechnung trägt. Selbst der ordnende Sinn eines Menschen vermag nicht jeden erwogenen Gedanken festzuhalten, um ihn einer steten Prüfung unter verschiedenen Gesichtspunkten zu unterziehen. Gedanken sind flüchtig. Selbst das, was der Mensch notiert, abspeichert in seinen Internetordnern, muss immer wieder hervorgeholt und mit entwickelten Gedanken abgeglichen werden. Kann das gelingen?

Ein großer Wissensvorrat ist durch das Internet gesichert und entwickelt sich stetig weiter. Es ist verführerisch, dem sich vermehrenden Wissen zu trauen und zu behaupten, durch die Verfügungsmöglichkeit teilzuhaben an der Präsenz dieses Wissens. Den Umstand der Verfügbarkeit des Wissens ohne selbst steter Träger dieses Wissens sein zu müssen, empfinden wir als Entlastung. Doch die Freiheit, darauf zuzugreifen und die Methoden des Zugriffs zu kennen, führt allerdings auch zur Abhängigkeit vom Provider unserer Möglichkeiten.

Versagt der Provider, scheitert der Zugriff auf unser eigenes Wissen, welches wir in irgendeine Cloud ausgelagert haben. Deshalb sollten wir bedenken, dass unser Verstand, unser Unterbewusstsein und jeder weitere Resonanzraum in uns gelernt hat, zu arbeiten und uns Einschätzungen zu gewähren, die bezogen auf Wissen, komplexe Entscheidungen ermöglichen. Es steckt meist viel mehr in uns selbst, als ein Provider bieten kann.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Berufsehre

Neulich hatte ich mir bei einem Sturz heftige Prellungen im Rippen- und Rückenbereich zugezogen. Auf Empfehlung meines Arztes wurde ein CT angefertigt, bei dessen Auswertung der Röntgenarzt keine Brüche hat feststellen können. Soeben erhielt ich aber den Anruf, dass er am folgenden Sonntag sich die Befunde nochmals angesehen und dabei tatsächlich einen Rippenbruch habe feststellen können. Es tat ihm unendlich leid, mich zunächst falsch informiert zu haben und bat um Entschuldigung.

Einmal abgesehen davon, dass ich froh bin, nunmehr genauer Bescheid zu wissen, brachte ich ihm gegenüber meinen Dank und meine Anerkennung zum Ausdruck, weil er eine bereits abgeschlossene Untersuchung nochmals überprüft habe, um sich selbst zu vergewissern. Dies ist heute schon ungewöhnlich und rechtfertigt den Respekt. Besonders beachtenswert ist aber auch, dass er zu Fehlern, die er gemacht hat, sich bekennt und dabei ein tröstliches Gleichgewicht zwischen ihm und mir wiederherstellt.

Ich kann ihm verzeihen und mich dabei auch richtig wohlfühlen, darüber freuen, dass es doch etliche Menschen gibt, die nicht von Routine abgestumpft sind, sondern gewissenhaft und mit Freude ihrer Arbeit nachgehen. Erst vor wenigen Tage hatte ich auch Gelegenheit, eine Verkäuferin darauf anzusprechen, dass sie so ein freundliches und fröhliches Wesen trotz Hektik und Verdrossenheit der drängenden Kunden habe. Sie nahm das Kompliment gern an und erklärte, dass ihr mit dieser Einstellung die Arbeit wesentlich leichter von der Hand ginge. Das ist nachvollziehbar und sollte uns anstacheln, selbst darauf zu achten, dass wir gewissenhaft, zugewandt und fröhlich mit unseren Mitmenschen umgehen, ob bei der Arbeit, der Freizeit oder Familie.

Sehr gerne lese ich die Rubrik in der „Zeit“: „Was mein Leben reicher macht.“ Dem einen oder anderen mag diese Rubrik einfältig erscheinen, tatsächlich vermittelt sie eine wesentliche Botschaft: Alles, was wir machen, machen Menschen für andere Menschen. Das ist eine große Herausforderung für uns alle, auch an unsere Menschlichkeit.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Narrative

Ich erzähle für Dein Leben gern! Das ist eine der Kernaussagen des Projektes „Viva Familia“ der Ruck – Stiftung des Aufbruchs. Es geht hierbei nicht nur um das Erzählen von Fantasiegeschichten und Märchen, sondern um das Erzählen aus dem Leben, die Einkleidung unserer lebendigen Erfahrungen in Geschichten.

Oft werde ich gefragt, interessiert sich mein Kind für das, was ich aus dem Alltag zu erzählen habe. Ich antworte: „Ja, Ihre Lebensgeschichten sind wichtig für Ihr Kind, schafft den Bezugsraum für eigene Erfahrungen und vermittelt natürlich auch Sprachkompetenz.“ Alles ist erzählfähig und es ist wichtig, dies auch zu tun. Wir dürfen nicht allein Begrifflichkeiten abstrakt für uns sprechen lassen, sondern müssen diese einweben in Geschichten, die logisch sein können, aber auch große emotionale Kraft aufweisen. Oft nutzen wir nur Begriffe und vergessen dabei deren Bedeutung.

Auch von unserer Demokratie kann zum Beispiel leidenschaftlich erzählt werden. Die persönliche Begeisterung nicht von einem Despoten regiert zu werden, sondern sich auseinanderzusetzen mit anderen über einen einzuschlagenden Weg und dabei auch Minderheiten nicht zu vernachlässigen. Werden Begrifflichkeiten wie Demokratie, Rechtsstaat und Verfassung nur Behauptung, ohne ihnen erzählend einen emotionalen Sinn zu verleihen, ist es kein Wunder, dass den Menschen die Fähigkeit des Begreifens abhandenkommt.Wenn wir nichts erzählen, wie sollen dann die Kinder an unseren Erfahrungen, den Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern teilnehmen und daraus eigene Handlungsoptionen ableiten?

Das Leben eines Menschen ist nicht begrenzt auf heute und jetzt oder die Zukunft, sondern schließt die ganze erzählbare Erfahrung der Menschheit mit ein. Nur so können wir selbstbewusst, tolerant und zukunftsfähig bleiben und eine gelassene Haltung bewahren angesichts der digitalen Blitzlichtgewitter in allen Medien. „Ich erzähle für mein Leben gern, um deines zu stärken, mein Kind.“

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski