Archiv für den Monat: September 2020

Wahlrecht

Wessen Zukunft wird gerade verhandelt? Es ist – wie immer – die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Welches Gestaltungsrecht räumen wir dieser kommenden Generation ein? Keine bemerkenswerte, sieht man einmal von einer gewissen medialen Aufmerksamkeit bei Fridays for future und anderen Plattformen ab. Es sind aber die Kinder und Jugendlichen, die für uns den Kopf hinhalten, wenn es um Demokratie, Klima und auch künftigen Wohlstand geht.

Mit „altem“ Geld und „alten“ Rezepten sind die an unsere Kinder gestellten Herausforderungen nicht zu meistern. Wir haben Kinder in die Welt gesetzt und gegen unsere Enkelkinder nicht protestiert. Das war unverantwortlich, wenn wir glauben sollten, sie hätten kein Mitentscheidungsrecht daran, wie sie künftig leben. Wir wissen alle um die enormen Herausforderungen, die auf die nächsten Generationen zukommen, ob dies unsere Alterssicherung anbetrifft, den Klimaschutz, den Umbau der Wirtschaft, die Mobilität, den Bevölkerungszuwachs und die Migration, um nur einige Felder zu nennen.

Dank Internet sind die Jugendlichen heute schon früh über das Weltgeschehen informiert, zu sagen haben sie allerdings in der Realität nichts, was dazu führt, dass sie ihre Auseinandersetzungen mit unserer Welt im Internet austragen. Dabei bekommen viele Jugendliche ein falsches Bild von unserem demokratisch, gesellschaftlichen Partizipationsmodell.

Ich halte Jugendliche daher ab dem Alter von 15 bis 16 Jahren für geeignet und interessiert genug, an Wahlen teilzunehmen und damit eine verantwortliche Stimme zu erheben. Aber auch ein Kinderwahlrecht schließe ich nicht aus, meine allerdings, dass dieses im Interesse ihrer Kinder von Eltern wahrgenommen werden sollte. Es ist mir durchaus bewusst, dass dabei auch einiges mangels Qualifikation der Eltern schiefgehen kann. Allerdings erfährt gerade ein solches Wahlrecht eine verlässliche Bestätigung dadurch, dass die meisten Eltern im Interesse und zum Wohle ihrer Kinder wählen und deren Anliegen sorgfältig dadurch bestätigen würden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Hölderlin

250 Jahre Hölderlin, wir feiern mit Enthusiasmus seinen Geburtstag! Es gibt Lesungen und Interpretationsforen. Einfühlende Lebensbegleiter weisen uns den Weg unseres Idols von Susette Gontard bis zur geistigen Umnachtung im Turm von Tübingen. Nichts entgeht den Interpreten.

Oder doch? Kann es sein, dass manche übersehen, dass Hölderlin auch und wahrscheinlich sogar vor allem ein schwäbischer Mensch war? In Laufen am Neckar geboren, kannte er bereits mit vier Jahren die herzzerreißende Geschichte von der Herzogstochter Regiswindis, die in ihrer Kapelle nahe der Kirche eingesargt liegt. Als Kinder haben ich mit anderen dort oft gespielt und wir haben uns die schaurig schönsten Märchen ausgedacht.

Von der Kirche auf dem Gang runter ins Tal zum Neckar befanden sich Weinkeller, die nach unserer Auffassung nur in die Unterwelt führen konnten. Als Kinder saßen wir oft waghalsig auf der Kirchenmauer und schauten über den Neckar zur Burg, die weiteren Erzählungen nach von einem Meteoriten getroffen worden sein soll. Es ist also eine mystische Gegend und nicht nur  Laufen, sondern viele weitere Orte, ob Schwäbisch Hall, Stuttgart, Nürtingen, Heilbronn oder Weinsberg. Dieser Menschenschlag von Hohenloheren, Unterländern und Schwaben, formte einen Menschen wie Hölderlin. Der Herkunft kann man sich nicht entziehen. Strenge erzeugt Formstrenge.

Als Kind kann ich mich an Plakate zur Faschingszeit erinnern. Auf diesen stand: Gott schaut hinter deine Maske. Pietismus, Zweifel und Rechthaberei sind knorrige und trotzige Attribute der Sprache, die Hölderlin verwendete. Er sprach kein aseptisches Hochdeutsch, sondern schwäbisch. Wer jemals versucht hat, die Parzen oder auch andere Gedichte von ihm auf Schwäbisch zu lesen, begreift sofort, worum es ihm eigentlich ging: das trotzige Bekennen trotz aller Zweifel, die er nicht abschütteln konnte. Das beengte und gleichzeitig mystische Seelenweite lässt das erstehen, was das Auge nicht ohne weiteres zu erkennen vermag. Wer auf der Weibertreu der Windharfe zuhört oder den Welzheimer Wald durchwandert, der weiß Bescheid.

Es ist kein Zufall, dass der Arzt Justinus Kerner nicht nur Hölderlin, sondern auch die Seherin von Prevorst behandelte und dabei selbst Dichter war. Wenn die spirituellen Grenzen durchlässiger werden, dann verfließen Wirklichkeiten, bis sie sich dem Offensichtlichen abschließend verweigern. So ist Hölderlin eben auch einer von uns. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schlagen und singen

Der eine ist Boxfan, der andere Opernfan. Der Boxfan hat, soweit er dies organisieren und sich auch leisten konnte, keinen wesentlichen Boxkampf der letzten fünf Jahrzehnte ausgelassen. Von dem Opernfan ist zu berichten, dass er im etwa im gleichen Zeitraum sämtliche gängigen Opern und diese sogar weltweit angesehen hat. Beide haben Archive ihrer Leidenschaften an­gelegt.

In Gesprächen habe ich versucht herauszufinden, wie sie ihre Zuwendungen erlebt haben, welche Perspektiven sich daraus ergeben und was sie verbindet. Auf eine mir nachvollziehbare Art und Weise sind Singen und Schlagen einander verwandt. Auch wenn der eine kein Boxer und der andere kein Sänger ist, so haben sie sich doch Stellvertreter geschaffen, die rational und emotional das verkörpern, was sie selbst schon immer gewesen sind, aber aufgrund der Umstände objektiver und subjektiver Art nie sein konnten.

Dagegen mögen der soziale Hintergrund, die berufliche Stärke, die sie beweisen mussten und ihre eigenen Konstitutionen bzw. Fähigkeiten zu boxen oder zu singen, keine entscheidende Rolle gespielt haben. Aber gerade deshalb sind sie in dieser bei einem Besuch einer Veranstaltung und ihrer Vor- und Nachbereitung vorgenommenen Transformation in die Stellvertreter authentisch, möglicherweise viel wahrer als in der alltäglichen Verkleidung.

Was sie sich durch die Identifikation schaffen, entlastet sie von vielen alltäglichen Sorgen und Nöten. Es gibt ihnen die Sicherheit, sie selbst und ein anderer Mensch zu sein, der an einem Abend zu zeigen vermag, was alles noch in ihm steckt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski