Archiv für den Monat: Januar 2021

Querdenker

Als ich dank der Medien von der Querdenker-Bewegung erfuhr, war ich überrascht und auch neugierig. Es überraschte mich weniger, dass diese Bewegung Bill Gates für das Corona-Virus verantwortlich machte und es überraschte mich auch nicht zu erfahren, dass die Bundesregierung Konzentrationslager für uns alle anlege, damit der Freiheitswille der Bürger gebrochen und jeder geimpft wird. Derartige Wahrnehmungen sind in der stammesgeschichtlichen DNA der Menschen festgelegt und helfen Gruppen zur Identität in fordernden Zeiten.

Dass das Corona-Virus nicht für alle, aber für viele Menschen eine große Herausforderung darstellt, ist bekannt. Wenn sie nicht selbst sterben, so doch Angehörige und Freunde, die Meisten leiden, manche nicht. So war es bei den Menschen schon immer und wird es auch künftig bleiben. Was mich wirklich bei der Querdenker-Bewegung überraschte, war also nicht der Gegenstand ihres Denkens, sondern der Umstand, dass sie „quer“ denken.

Ich wusste bisher nicht, dass es ein vertikales und ein horizontales Denken gibt, wie mir auch ein vertikales und horizontales Hören bzw. Sehen nicht geläufig waren. Ich dachte, es käme auf das gesamte Sichtfeld, alle Sinne also, die Wahrnehmung insgesamt an. Auch vertikales oder horizontales Fühlen, welches den Emotionalhaushalt belebt, konnte ich mir bisher quer nicht vorstellen. Geht das, quer zu fühlen?

Bisher habe ich das alles einheitlich gesehen, muss allerdings bekennen, dass ich es durchaus faszinierend finde, die Ordnung zu sprengen und auch das Denken als Anschauungsfrage zu etikettieren. Ich denke, also bin ich. So meinte Descartes. Hat er dies nun horizontal oder vertikal gedacht? Neben horizontal und vertikal gibt es ja auch das Denken in Kreisen oder Ellipsen, das asymptotische Denken, das infinite Denken, das Denken ohne Anfang und Ende, das eingeschlossene Denken und das offene Denken.

Ich muss gestehen, dass mir bei so vielen Denkmöglichkeiten doch recht mulmig wird und ich doch etwas überrascht bin, dass sich eine Gruppe von Menschen damit begnügt, quer zu denken und das „Quere“ als etwas Manifestes anzusehen, wobei wir bisher zu wissen glaubten, dass Denken als Methode gerade eine Begrenzung des Denkens und deren strukturelle Festlegung nicht zulässt. Ich bin gespannt, was noch kommt, Um mit dem mir bekannten Lyriker Ernst S. Steffen zu schließen: „Irgendwann wird man mich zu Ende denken und dann bekomme ich die … verlorenen … Jahre zurück.“

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wozu?

Die öffentlichen Medien und vor allem das Internet sorgen für eine Unübersichtlichkeit von Wissen und Meinungen, die kaum ein Mensch mehr zu entwirren in der Lage sein dürfte. Um Übersicht zu gewinnen und zu erhalten, benötigt der Mensch Fakten, eine Möglichkeit, diese einzuordnen und sich so ein persönliches System der Verlässlichkeit zu schaffen. Um zu einer sicheren Einschätzung zu gelangen, ist Selbstvertrauen nötig, welches ausschließlich strukturiert zu nutzen ist.

Wie soll dies aber angesichts von TikTok, Instagram, WhatsApp und anderen digitalen Flipperspielen vom Menschen erwartet werden können? Diese Formate befeuern in Minuten-, oft sogar nur in Sekundentakten Menschen, die sogenannten „User“, mit irgendwelchen verbalen oder bildlichen Informationen, die zwar Emotionen zu beeinflussen in der Lage sind, aber ihrer Frequenz und Beliebigkeit geschuldet, keinen Erkenntnisprozesse in Gang setzen, die dem Menschen erlauben, Ereignisse systemisch bei sich selbst rückzuversichern.

Wenn dies kritisch zu betrachten ist, wie ich dies hier mache, warum geschieht es dann doch und wozu soll es führen? Stellt es möglicherweise eine gewünschte Entlastung des Menschen vor eigenen Erkenntnissen dar? Wird stattdessen ein beruhigendes Format für Einschätzungen jenseits der individuellen und menschlichen Verarbeitung geschaffen, die eine gesellschaftliche Allgemeinverbindlichkeit hervorbringt, das soziale Miteinander stärkt und es jedem Nutzer der digitalen Angebote erlaubt, seine eigene Meinung durch diese Rückvergewisserung mit anderen Menschen emotional aufzuladen und sich dabei wohl zu fühlen? Was bedeutet es, wenn wir Menschen konsequent dank der medialen Befeuerung vom eigenen Denken und Empfinden entlastet werden?

Sicher wird dies zunächst als Fortschritt wahrgenommen, da jede Errungenschaft die Singularität des menschlichen Seins bestätigt. Was geschieht aber dann, wenn die menschlichen Fähigkeiten des Abwägens, des Einschätzens und des Widerspruchs dabei verkümmern und wir uns den Formaten ergeben haben? Das Menschheitsrätsel haben Philosophen, Vertreter von Religion und Wissenschaftler sich stets gestellt und zu lüften versucht. Das Rätsel wird unlösbar sein, was wiederum die Chance bietet, darauf zu vertrauen, dass weitere Kräfte darauf wirken, die Kapitulation vor der medialen Kakophonie zu verhindern.

Es wird wieder die Frage nach der Zufriedenheit des Menschen mit seiner Existenz, seinem Staunen und seinen Fähigkeiten und natürlich auch seiner Genügsamkeit gestellt werden. Denn wozu soll der Mensch denn zu etwas Anderem werden, als das, was er ist?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski