Archiv für den Monat: September 2021

Du

Uns inzwischen wohl vertraut, werden wir von Ikea mit Du angesprochen. Wir wissen natürlich, dass diese Form der Anrede in Schweden allgemein üblich ist. Für uns hier hingegen nicht. Es ist noch nicht lange her, da konnten sich selbst 15jährige Jungen und Mädchen darauf verlassen, dass sie der vertrauten Anrede mit „Du“ entwachsen und mit „Sie“ angesprochen werden. Das war auch ein Signal für ihre Aufnahme in die Welt der Erwachsenen, wobei für die Umgangsform untereinander das „Du“ weiterhin üblich war.

Nur einige Internate und Vorzeigeschulen fielen aus dem Rahmen. Die älteren Jugendlichen wurden von den Jüngeren ebenfalls mit „Sie“ adressiert. Inzwischen haben sich die Umgangsformen geändert, ohne, dass das „Sie“ gänzlich aus unserem Wortschatz verschwunden wäre.

Im öffentlichen Umgang ist die Anredeform „Sie“ unter Erwachsenen nach wie vor verbreitet, aber nicht ausschließlich. Es bringt wohl die Amerikanisierung unserer Sprache mit sich, dass auch Erwachsene sich zunehmend mit dem Vornamen anreden, es dabei zunächst bei dem „Sie“ belassen, aber bei einer sich bald bietenden Gelegenheit einer Abänderung ins vertraute „Du“ bevorzugen. Bei erwachsenen Jugendlichen, die der selben Generation angehören, dürfte das „Du“ überwiegen. Es ist bei ihnen auch die Ansprache, mit der sie üblicherweise Geschäfte machen, wenn sie nicht überhaupt auf den Gebrauch der deutschen Sprache verzichten und auf Englisch ihre Anliegen regeln. Obwohl dies natürlich nicht passt, wird dabei aus dem „You“ schnell ein „Du“.

Die Sprache des Umgangs und des Geschäfts bestimmt zudem die Werbung und veranlasst die Werbetreibenden, ihre Kunden generell nur noch mit einem anonymen „Du“ anzusprechen. Der Sog dieser Vereinfachung ist so mächtig, dass er inzwischen sämtliche Kommunikationsbereiche erfasst hat.

Ob Formulare oder Internetauskünfte, stets muss ich mich darauf einstellen, dass jemand, den ich überhaupt nicht kenne, ein vertrautes „Du“ in seiner Ansprache wählt. Weder kann ich mich dagegen wehren, noch dieser Vereinnahmung ein respekterwartendes „Sie“ entgegensetzen. Das „Du“ hat die Welt erobert und gestaltet mein Leben ungefragt. Es verschafft mir aber das Gefühl einer grenzenlosen Dazugehörigkeit.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Mehrheit

In diesem Jahr wird häufig gewählt, in Kürze auch wieder der Bundestag. Eine Mehrheit ist dann zu Wort gekommen, hat verschiedene Parteien gewählt, die ihrerseits eine Koalitionsmehrheit zum Zwecke des Regierens bilden werden. Mehrheiten üben einen großen Einfluss auf unser Leben aus, ob sie sich lautstark zu Wort melden oder schweigend abwarten. Was eine Mehrheit ist und bedeutet, hängt allerdings nicht von ihr ab, sondern von Umständen, die ihr Legitimation zumessen und Bedeutung verleihen. Selbstermächtigungen von Mehrheiten ohne entsprechende Anerkenntnisse sind vergeblich. In Zeiten wie diesen, wo ´sanfte´ autoritäre Regime oder gar Diktaturen sich ihre Mehrheiten beschaffen, definieren sie auch deren Vorhandensein.

Da es nicht erst seit dem letzten amerikanischen Präsidenten, Donald Trump, verschiedene Wirklichkeiten, d. h. Anschauungswirklichkeiten gibt, ist es auch möglich, Mehrheiten dadurch zu schaffen, dass man sie behauptet. Auch, wenn es zuweilen völlig unklar erscheint, welche Mehrheiten bestehen, scheinen Stabilitäten außerhalb von Mehrheiten nicht möglich zu sein.

Eine Mehrheit mag sich ggf. gegen die Zumutungen einer Auffassung, die ihr zugemessen wird, nicht wehren können, aber sie sorgt schweigend für ein bestimmendes Maß an Ordnung. Selbst unter Berücksichtigung der möglicherweise fatalen Folgen ihres historischen Handelns, sind Mehrheiten unverzichtbar für die Stabilität in allen Organisationen, Staaten und Gesellschaften.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Geistesblitz

Seit 2013 schreibe ich Beiträge für einen Blog, der von Frau Jette Klame mit ihrem Unternehmen administriert wird und in dem etwa 3 Veröffentlichungen zu unterschiedlichen Themen monatlich erscheinen. Trotz einer Reichweite weltweit, eines offenbaren Interesses, welches an den Klickzahlen und an der Verweildauer festzumachen ist, habe ich schon oft darüber nachgedacht, die Veröffentlichungen wieder einzustellen, weil sie keinen Diskurs mit den Lesern erlauben.

Natürlich habe ich ziemlich früh angeregt, eine Kommentierung meiner Beiträge zuzulassen, aber auf Rat erfahrener Freunde davon abgesehen, weil die Befürchtung bestände, dass statt eines Dialogs und inhaltlicher Auseinandersetzung ich auch mit persönlichen Angriffen rechnen müsste. Eine solche Erwartung habe ich natürlich überhaupt nicht, aber leider weist die Erfahrung von Menschen, die Kommentierungen zulassen, in diese Richtung.

Schade, denn so bin ich bis auf den Austausch mit Freunden, die meine Blogbeiträge lesen, nur im Zwiegespräch mit mir. In diesem Gespräch muss ich klären, worüber ich schreiben möchte und was mögliche Leser interessieren könnte. Ich versuche, empfängerorientiert die Themen zu wählen, wobei natürlich persönliche Begegnungen oder auch die Auseinandersetzung mit Erfahrenem und Gelesenem meine Auswahl prägen. Ich mache mir Notizen, aber selten ´schreibe´ ich kurze Texte, denn alle meine Beiträge werden von mir diktiert und dann vom Diktat in den Text übertragen. Das hat Vorteile, denn das Diktat ist näher am Dialog.

Ich spreche also, wenn ich schreibe. Vieles entwickelt sich erst während des Diktats und bezieht dabei auch meine jeweilige Stimmung mit ein. Allerdings wird jeder Text anschließend kritisch bearbeitet und nach Möglichkeit auf Fehler hin überprüft. Dennoch ist es nicht zu vermeiden, dass ich nicht nur mit meinen Ansichten danebenliege, sondern mich auch sprachlich und grammatikalisch vertue. Jeder, der schreibt, geht ein Risiko ein, so unbekümmert die Texte zuweilen erscheinen mögen, Geistesblitze sind eher selten dabei.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Rechts-TÜV – rechtliche Unwucht, Rechtszertifizierung, Teil 4

Bei Gericht ist mir oft aufgefallen, dass Prozessbeteiligte fast mit Tränen in den Augen an ihrer Rechtsauffassung festhielten und nicht glauben wollten, dass andere Prozessbeteiligte oder der Richter eine andere Sicht auf den Sachverhalt haben. Diese Prozessbeteiligten bzw. Gegner mögen falsch liegen, aber dennoch sind sie nicht nur aus Rechtsopportunismus, sondern aus tiefer Überzeugung davon geleitet, dass der Fall nur in ihrem Sinne gelöst werden könne. Das Judiz benötigt daher, um seinen sinnvollen Nutzen beweisen zu können, eine stete Spiegelung in einer Rechtsordnung, die systemisch aufgebaut ist und nicht durch das Judiz zur Disposition gestellt wird.

Diese knisternde Korrespondenz zwischen Judiz und der Objektivität des Rechts, deren Scheinbarkeit ein weiterer Untersuchungsgegenstand sein wird, schafft das Vertrauen des Menschen in die Rechtsordnung. Denn durch das Judiz, das Rechtsgefühl und das Rechtsbewusstsein ist der Mensch primär am Rechtsgeschehen beteiligt. Wenige Menschen kennen sich mit Gesetzen, Urteilen überhaupt dem ganzen Justizapparat aus. Sie sind auf einen Rechts-TÜV angewiesen, um im täglichen Leben ihre Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen und Institutionen zu behaupten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Rechts-TÜV – rechtliche Unwucht, Rechtszertifizierung, Teil 3

Da das Judiz allerdings keine öffentliche Bekanntmachung ist, sondern das einzelne und kollektive Rechtsbewusstsein ausmacht, ist es auf die Zulassung durch die Menschen angewiesen. Ein Rechtsgefühl kann sich nicht entwickeln, wenn ich es ablehne und unterdrücke. Also ist die mitwirkende Korrespondenz des durch das Recht berührten Menschen unabdingbar wichtig für die Existenz des Judizes.

Der Pfad des Judizes ist schmal. Die Rede ist vom richtigen Judiz, was impliziert, dass es auch das falsche gibt. Eine falsche Rechtseinschätzung beruht auf Faktoren, die die richtige Einschätzung auch zulassen, aber falsch interpretiert worden sind. Dass dies nicht nur möglich, sondern auch unausweichlich ist, beruht auf der Komplexität unseres menschlichen Seins sowohl individuell, als auch kollektiv. Jeder, wir alle können uns irren.

Es gibt nichts Alternativloses, weder im Angebot, welches wir selbst abgeben, noch in der Entgegennahme eines Angebots. Ein anderer Blickwinkel und schon verändert sich die Wahrnehmung einer Situation und damit die Einschätzung eines rechtlichen Sachverhalts als richtig oder falsch. Vergeblich sind das Mühen um das richtige Judiz allerdings nicht, denn es erlaubt uns eine Orientierung, die einer steten, und zwar konsekutiven Überprüfung zugänglich ist.

Wir können unser Rechtsgefühl wirken lassen, ob wir ihm trauen dürfen, hängt aber von vielen anderen Umständen ab, die möglicherweise jenseits unserer Persönlichkeit liegen. Möglicherweise sage ich aber auch deshalb, weil wir selbst einen Beurteilungsapparat beherbergen, der erstaunlich gut dazu geeignet ist, Hinderliches oder Störendes zu unterdrücken und Erwünschtes zuzulassen. Da mag im Hintergrund des Bewusstseins noch eine andere Einschätzung lauern, unser bekräftigtes Rechtsgefühl behauptet dennoch etwas ganz Anderes.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski