Archiv für den Monat: Dezember 2021

Interpretation

„Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn.“

Eine scheinbar völlig harmlose Aussage, die wir Johann Wolfgang von Goethe verdanken. Was hat er sich dabei gedacht, als er diesen Satz niederschrieb? Was wollte er mit diesem Satz ausdrücken? Wenn wir uns als Adressaten des Satzes begreifen, was nehmen wir zur Kenntnis, was denken oder empfinden wir, wenn wir diesen Satz hören oder lesen? In welchem Kontext zur Persönlichkeit und zum Schaffen des Verfassers, unserem Leben und Erfahrungen steht dieser Satz? Worauf liegt seine Betonung? Nimmt der Verfasser Kontakt zu uns auf oder spricht er ausschließlich zu sich?

Wenn wir unsere Sphäre der Wahrnehmung verlassen und eintauchen in die Sprache, das geschriebene und gesprochene Wort, und uns dem Metrum widmen, werden wir wissen wollen, weshalb der Verfasser dieser Zeile nicht innehielt, sondern ein Versmaß wählte, mit welchem er uns aufmerksam und neugierig macht, uns von der Beschreibung des Offensichtlichen mehr und mehr mit seiner eigenen Walderfahrung vertraut macht. Was sucht er in diesem Wald?

Erwartet er eine Überraschung, sucht er etwas, ohne dabei einen bestimmten Blick und ein bestimmtes Ziel zu haben? Setzt er auf Erkenntnis, weil er weiß, dass das Nichts ohne das Etwas nicht genannt werden kann? Und was will er im Wald? Er könnte ins Offene gehen, er bevorzugt aber den Wald. Hat er dafür Gründe, setzt er auf die Dunkelheit des Waldes und auf eine Überraschung, ein Abenteuer? Er behauptet, nichts im Sinn zu haben, sondern nur zu gehen. Bedeutet das, dass er sich der Verantwortung für sein Verhalten entledigen will, ganz egal, was in diesem Wald passiert?

Auch, wenn er angeblich nichts sucht, so hat er doch etwas vor, indem er geht, aber die Gründe hierfür nicht offenbart. Dabei weiß er wohl, dass ihm der Wald etwas ermöglicht, denn auch dann, wenn er nichts sucht, so lässt er dennoch zu, dass sich etwas unerwartet einstellt. Wir wissen nicht, wer uns anspricht. Ist es ein Mann oder eine Frau oder beides? Je nach biologischem oder sozialem Geschlecht des Waldgängers oder der Waldgängerin, welche Perspektiven ergeben sich hieraus auf das beschriebene Vorkommnis?

Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass offensichtlich von einem noch nicht abgeschlossenen Vorgang berichtet wird, der seinen unbekannten Anfang schon hinter sich hat und sich auf ein Bekanntwerden des kommenden Ereignisses einstellt. Wer immer hier in den Wald gehen mag, er bleibt stets auf unsere Wahrnehmung und uns als Interpreten angewiesen.

Allein unsere Bewertung individualisiert den Waldgänger und bewertet sein Verhalten. Der Leser vermag sich der Zukunft zuzuwenden, da die beschriebene Vergangenheit bereits in einem abgeschlossenen Vorgang die Projektionsfläche für ein noch denkbares kommendes Geschehen bildet. Hätte sich der Verfasser ausschließlich darauf beschränkt, uns einen Waldbesuch zu beschreiben, bei dem er nichts gesucht habe, würden wir uns wahrscheinlich gefoppt fühlen. Tatsächlich fordert er aber unsere Neugierde heraus, will, dass wir wissen wollen, was geschehen wird. Das verrät er uns, aber das ist eine andere Geschichte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Raum

Als ich jüngst den deutschen Astronauten Maurer in etwa 22 Stunden auf die Internationale Raumstation entschweben sah, wurde mir wieder einmal dieser ungeheure Raum, in dem wir leben, bewusst, nahm dabei aber auch unsere Fähigkeit wahr, diese Tatsache eher zu observieren und zu konstatieren, als tatsächlich an uns heranzulassen. Wir vermeiden Konfrontationen mit der Ungeheuerlichkeit, seien diese anschaulich wie beim Weltraum oder im übertragenen Sinne wie zum Beispiel bei Zumutungen, die wir anderen zufügen. Solange wir trotz aller Ungeheuerlichkeiten noch Bezugspunkte haben, seien dies vertraute Planeten oder verlässliche Erwartungen, können wir uns zumindest vorübergehend der Ungeheuerlichkeit und Dimension eines Raumes aussetzen.

Auch wenn wir in Bezug auf den Raum von Entgrenzungen sprechen, so erhält er implizit dennoch seine Begrenzung durch unsere Sprache, weil wir die Ungeheuerlichkeiten des Raumes nicht mit Worten erfassen können. So verhält es sich nicht nur mit dem offensichtlichen Raum, sondern mit jeder Ungeheuerlichkeit, mit der wir konfrontiert werden.

Das Offensichtliche können wir nur beschreiben, aber mit Worten niemals zu der Wesentlichkeit des Ungeheuren vordringen und dieses durch dessen Beschreibung sichtbar machen. Und doch, eines ist dennoch gewiss, die Ungeheuerlichkeit eines Raumes oder jeglichen sonstigen Vorkommnisses können wir empfinden, falls wir bereit sind, dieses Empfinden bei uns zuzulassen.

Dabei wird zwar die Ungeheuerlichkeit nicht umfassend wahrnehmbar, aber die Qualität der Ungeheuerlichkeit spürbar, weil wir, wenn wir uns darauf einlassen, die Fähigkeit haben, Eindrücke mit unserem Verstand durchaus komplex zu verarbeiten. Allerdings erlaubt uns unsere persönliche Begrenztheit nicht, aus dem Wahrnehmbaren Schlüsse zu ziehen, die das mit einschließen, was unsere analytischen Möglichkeiten übersteigt. Da es aber etwas gibt, das, um in einem Bild zu sprechen, jenseits des Horizontes liegt, begleiten uns bei der Betrachtung von Ungeheuerlichkeiten unsere Empfindungen, die sich durch Sehnsucht, Angst und Entsetzen bemerkbar machen und den Ungeheuerlichkeiten Konturen verleihen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Superlative

„Das ist wirklich wahnsinnig nett von Ihnen, dass Sie dies schreiben.“ Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen überhaupt noch mitbekommen, wie ihre Sprache inzwischen mit Superlativen durchsetzt ist. Ich glaube, die meisten Menschen haben sich daran gewöhnt und nehmen diesen Zustand einfach hin oder nutzen selbst die Möglichkeit, ihrer Aussage eine besondere Bedeutung beizumessen, wohlwissend, dass diese Bedarfssteigerung vom Empfänger als korrekt und selbstverständlich angesehen wird. Nichts ist kaum mehr schön, nett oder gut, ohne, dass es durch das Attribut wahnsinnig verstärkt wird.

Das Wort „wahnsinnig“, dass entweder vermitteln soll, dass ich selbst wahnsinnig bin oder meinen Gesprächspartner wahnsinnig machen möchte oder erwarte, dass er von selbst wahnsinnig wird, wenn er meine Botschaft empfängt, durchschreitet offenbar unterschiedliche Bedeutungshöfe, um schließlich aber doch nur auszudrücken, dass etwas nett oder schön ist. Wenn man sich allerdings wahnsinnig freut, ist es schon nahe eines Zustandes, der nach einer psychiatrischen Betreuung ruft. Das ist aber nicht gemeint.

Ich will nur sagen, dass ich mich freue, und zwar richtig, also nicht nur so tue, als würde ich mich freuen. Damit wird ein weiterer Aspekt der Superlative deutlich: Ich als Verwender will von vornherein Zweifel an meiner Aufrichtigkeit und der Ernsthaftigkeit meiner Freude ausschließen. Da die Freude allerdings auch riesig oder zum Beispiel mega sein kann, werden stets neue oder andere Superlative benötigt, um der Ausdrucksform die erwünschte Endgültigkeit zu verleihen. Superlative sind aber nicht steigerungsfähig. Nur neue Wortschöpfungen können dafür sorgen, dass ich am „optimal-sten“ ausdrücken kann, wie die ungeheure Zahl an Attributen und Adjektiven noch gesteigert werden könnte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski