Nicht wo, sondern was ist China? Ein Land? Ein Zustand? Ein Phänomen? Ich bin völlig unsicher. Bewusst ist mir nur, dass China etwas großes, dabei Sonderbares ist. China ist nicht einzuordnen. Es gibt das China meiner Kindheit. Damals war ich mit meinen Gedanken und Gefühlen wahrnehmend oft dort. Es gab träge gelbe Flüsse, waghalsige Brücken, bärtige alte Männer, geduldige und liebreizende Frauen, gewaltige Landschaften, unberührte Naturen, endlose Wege, Helden und Schurken. Alles war so fern, aber sehnsuchtsnah in meinem kindlichen Erinnerungsbuch verzeichnet.
Einmal während der 80er Jahre hätte ich Gelegenheit gehabt, das Land zu besuchen und meine Erinnerungen mit der Wirklichkeit abzugleichen. Ich habe es aufgrund vordergründiger Zwänge nicht getan, was ich sehr bedaure, weil ich damit die Entwicklung meiner kindlichen Vorstellungen trotz des Wissens um Mao und die Kulturrevolution unmöglich gemacht habe. Ich hatte seinerzeit gehofft, doch noch die Rudimente dessen zu spüren, was für mich das Chinesische ausmacht.
Das Chinesische war für mich vielfältig, duldsam und auf eine prinzipiengetreue Art und Wese integer. Stimmt mein Bild mit der Wirklichkeit überein? Ich habe noch heute Scheu davor, dies kennen zu lernen, mich auf China einzulassen. Auf welches China denn? Das offensichtliche China: eine Wirtschaftsmacht, eine Weltmacht oder Kulturnation? Wie funktioniert Empathie und Logik auf Chinesisch? Spontane Antwort: Es ist Intensivität und Zurückhaltung dabei im Spiel. Heißt das, die Chinesen warten ab, um dann im richtigen Moment zuzuschlagen? Wie gebärdet sich ein hegemoniales Gebilde wie China? Will uns China alle beherrschen oder versuchen, uns von seinem Weg zu überzeugen? Kann uns Konfuzius das Prinzip künftiger chinesischer Weltherrschaft erklären? Welche Durchdringungskraft hat China als digitales Imperium?
Es sind viele Fragen, die ich gern beantwortet wissen möchte, die mir aber keine Angst machen. Ich bin neugierig und glaube aufgrund meiner Kindheitserfahrungen das zum einen Prinzipientreue, zum anderen aber auch Langmut und auch Erkenntnisinteresse Chinesen veranlassen werden, der menschlichen Vielfalt nicht durch Umerziehung, sondern Erkenntnisgewinn zu begegnen. Einmal Kulturrevolution war genug.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski