Archiv für den Monat: August 2022

Authentizität

Wir werden überschwemmt von Nachrichten, Botschaften politischen und wissenschaftlichen Inhalts, werden informiert über Erkenntnisse in der Biowissenschaft, der Klimaforschung, der fortschreitenden Digitalisierung unserer Welt.

Eine Fülle von Informationen bemächtigen sich unserer Gedanken und Gefühle, erfahren eben genau durch unsere Wahrnehmung ihre Authentizität. Ohne uns und unsere Wahrnehmung wären alle Informationen völlig nutzlos, es sei denn, wir favorisierten den Informationsaustausch künstlicher Intelligenzen unter gleichzeitigem Verzicht auf jede menschliche Einmischung.

Ich bin allen medialen Formaten dankbar, die zwar meist nicht zielgerichtet, aber opulent im Angebot meine Wahrnehmungsbedürfnisse zu stillen versuchen. Auch wenn der Hunger nach noch mehr Informationen ständig wächst, vernetze ich mich so mit allem Wissen, das wiederum meine Zellen in Schwingungen versetzt, das Feuer in meinem Gehirn so zu entfachen vermag, dass ich den Wunsch verspüre, Blogbeiträge zu schreiben. Diese Blogbeiträge sind bereits Verarbeitungsprodukte meinerseits aus vorgekauten und verarbeiteten Produkten Anderer.

Primäre Informationsbedürfnisse werden durch meine Blogbeiträge nicht gestillt, aber möglicherweise Informationen aus der Aufbereitung von Gedanken und Gefühlen weitergegeben, die geeignet sein können, einen potentiellen anonymen Adressaten seinerseits zu Erkenntnissen zu verhelfen. Wenn ich von Organoiden höre und von Optogenetik lese, verstehe ich natürlich nur das, was ich lesen und begreifen kann, aber meine Einschätzungen sind dennoch Botschaften der Begeisterung oder der Angst, die beeinflussend wirken können.

Deshalb scheint es mir wichtig zu sein, das Leben als Lernprozess zu begreifen und sich zuweilen auch in Blogbeiträgen auszudrücken, und zwar selbst dann, wenn man davon ausgehen muss, dass die meisten Beiträge von Suchmaschinen angeklickt werden. Aber selbst dann, wenn niemand meine Beiträge lesen würde – was offenbar nicht stimmt – bleibt festzustellen, dass jeder – also auch jeder nicht offensichtlich wahrgenommene Gedanke – das gemeinsame menschliche Gedächtnis zu bereichern in der Lage ist. Deshalb werde ich weiter schreiben, aus Pflichtgefühl.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Fragen

Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt, bleibt dumm! Wer kennt nicht diesen eindringlichen Appell aus der Sesamstraße? Kinder wissen zu fragen. Ihre Fragen sind wie kleine Torpedos. Sie durchlöchern uns. Sie reihen Fragen an Fragen, bis wir oft nicht mehr weiterwissen, erschöpft sind, aber die Kinder keineswegs.

Mit Fragen erschließen sie sich ihr Leben, diese Welt und sie sind sparsam mit Antworten. Irgendwann dreht sich der Wind. Statt Fragen nun Aussagen, Behauptungen, Meinungen. Die Kinder sind damit in der Erwachsenenwelt angekommen und genießen ihre Deutungsmacht. In allen Etappen des Erwachsenwerdens wird diese rigoroser, tatsächlich wissend oder auch rechthaberisch.

Dies geht einher mit einer sich entwickelnden Fraglosigkeit, die allerdings kaum geeignet sein dürfte, um neue Erkenntnisbereiche zu erschließen. Wer nicht fragt, bleibt dumm. Wie auch das frühe Kind sollte sich der Erwachsene nicht scheuen, seine Berufs- und Privatwelt mit Fragen um Antworten zu bitten, die wieder Fragen auslösen können mit dem Ziel, nicht nur den eigenen Horizont zu erweitern, sondern auch andere an Findungsprozessen teilnehmen zu lassen. Ein fragender Mensch zeigt auch, wenn seine Frage nicht nur rhetorisch gemeint war, Interesse an anderen Menschen, dessen Wissen und Meinungen.

Ein sich stets nur selbst veröffentlichender Mensch erfährt kaum Neues, sondern verharrt ggf. mit den Parallelmeinungen anderer in seiner Blase. Fragen hingegen erweitern Erkenntnismöglichkeiten, stärken das Wissen und vermitteln Bildung. Es ist richtig, dass Fragen viel anstrengender sind als Antworten, da der Fragende sich auf eine Antwort konzentrieren muss. Fragen setzen Verständnis voraus und dieses Verständnis muss geübt sein.

Das, was Kindern so leichtfällt, müssen wir fragenden Erwachsenen wieder lernen. Wir müssen lernen, die Antwort auf unsere Frage nicht vorwegzunehmen, sondern auf diese zu warten, sie zu begutachten, zu prüfen und einzufügen in unser Menschen- und Weltbild. Sind wir Erwachsenen dieser hochkomplexen Herausforderung gewachsen? Fragen wir doch bei bester Gelegenheit einmal bei den Kindern nach.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Woke

„Wokeness“ heißt eine neue Internetherausforderung. Ist dies eine Erwachungsbewegung, abgeleitet von „Awake“? oder verbirgt sich dahinter „Awareness“? Alles nicht ganz klar, aber der Bereich der Möglichkeiten ist groß. Es scheint darum zu gehen, sich seiner eigenen Empfindlichkeit bewusst zu werden und diese Empfindlichkeit bei sich und anderen zu verteidigen und dabei sämtliche Ungerechtigkeiten, die der Seele, dem Körper und dem Geist zugefügt werden könnten, aufzudecken und zu verfolgen.

Welchem Maßstab aber folgt die eigene Integrität? Muss ich mir meiner eigenen Unfehlbarkeit bewusst sein, um die Fehler anderer aufzuspüren? Es ist biblisch überliefert, dass, wer den Splitter im Auge des Bruders sieht, aber den Balken im eigenen Auge nicht, seine eigene Anklage gefährdet. Ist das nicht ein generelles Problem sämtlicher Rechthaber? Darf es auf der anderen Seite dem Beschuldigten gelingen, sein Fehlverhalten damit zu erklären, dass auch vor allem der Andere schuld sei?

Das ist ein schwieriges Unterfangen und fordert von jedem Bezichtigenden den verantwortungsvollen Hinweis ab, sich nicht generell über den anderen erheben zu wollen, sondern lediglich einen Umstand zu benennen, der gemessen an der jedem Menschen zustehenden Integrität problematisch oder nicht hinnehmbar sei. Dieser Balanceakt ist schwierig und kann nicht gänzlich bewältigt werden. Nachsicht und Demut sind die unerlässlichen Wegbegleiter jedes Anzeigenden.

Auf keinen Fall kann jemand selbst Richter dessen sein, was er zu Gehör bringt, sondern die Verantwortung muss geteilt bleiben. Die Mediation und die Verhandelbarkeit müssen möglich sein. Was ein Mensch tut, ist offensichtlich, aber, was er empfindet oder denkt, kann nur durch Verständnis ergründet werden. Verständnis bedeutet nicht Billigung, sondern die Bereitschaft zu verstehen, und zwar auch dann, wenn eine Akzeptanz nicht möglich ist.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski