Archiv für den Monat: Mai 2023

Furor

Ostermärsche, Fridays for future oder Pegida, Menschen gehen auf die Straße, um für oder wider etwas zu demonstrieren, sobald sich eine ausreichende Anzahl von Menschen zusammenfindet. Warum tun sie das? Persönlich stehe ich hier vor einem Rätsel. Ja, tatsächlich, ich war auch schon auf Demonstrationen, zum Beispiel gegen das Verhalten der US-Amerikaner im Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze und gegen die Zwangsexmatrikulation nach dem 11. Semester damals an der Freien Universität in Berlin.

Es gab noch weitere Demonstrationen, auf denen ich zuweilen auch mit meiner ganzen Familie auftauchte. Mir ist in Erinnerung, dass auf der letzten Friedensdemonstration meine damals jüngste Tochter lautstark „Krieg“ forderte und uns mit diesem Schlachtruf unter den strafenden Blicken der mitdemonstrierenden Eltern zwang, unverzüglich den Friedensumzug zu verlassen.

Ich erinnere mich: Wir waren merkwürdig vergnügt damals, erleichtert und lachten über unsere Befreiung vom Demonstrieren-Müssen. Die Teilnahme an Demonstrationen kam für mich seither nicht mehr in Frage. Warum waren wir, warum war ich dabei gewesen? Weil man es so macht? Das Thema der Demonstration hat stets etwas Verbindliches und die demonstrierenden Menschen etwas sie Verbindendes. Man ist nicht allein, bekannte Gesichter, Freunde, also „You never walk alone“-Feeling. 

Gemeinsam sind wir stark! Auf jeden Fall löst jede Demonstration eine Sogwirkung auf Menschen aus. Allein gegen alle loszugehen, das ist zwar mutig, aber in der Regel ziemlich vergeblich. Aber inmitten von Parolen und Trillerpfeifen wird der Mensch massig und mächtig. Vollzieht sich dabei ein katharsisches Erleben? Das ist gut möglich. Ich erinnere mich jedenfalls gut daran, dass die Kommunikation mit Freunden und Bekannten vor und nach einer Demonstration glänzend war und Tränengas und durchnässte Kleidung dabei eher als Auszeichnung wahrgenommen wurde.

Aber, wie verhält es sich mit dem Anliegen des Protestes und der Demonstration? Ich fürchte, die eigene Haltung, die man mit den anderen Demonstranten teilt, ist wichtiger als der Inhalt selbst. Denn indem man für oder gegen etwas demonstriert, erfährt der Demonstrant eine Entlastung von jeder privaten Gleichgültigkeit und Lethargie. Zugegeben, dies ist eine steile These, aber sicher auch eine, die ihre Gültigkeit neben vielen weiteren Thesen beanspruchen kann. Es schafft jedenfalls Lebenssinn, dass viele Menschen, die dies privat oft vermissen müssen, nun gemeinsam wahrgenommen werden und andere wahrnehmen. Plötzlich hat jeder Mensch eine Stimme, wobei das Wissen nicht stört, dass es auch die Stimme vieler anderer Menschen ist.

Heute bin ich nur noch Zuschauer. Ich staune und wundere mich über die Parolen und Verhaltensweisen meiner demonstrierenden Mitmenschen, ihre Gewissheiten, ihren Beharrungswillen und ihren Furor. Irgendwie scheinen sie zu wissen, was auch mir guttäte, wenn ich mitmachen würde.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Prognose

Prognosen sind Spiele mit der Zukunftserwartung. Wer aber ist der Spielführer und mit welchen Instrumenten werden Prognosen erzeugt. Zunächst aber geht es um die Prüfung der Grundlagen, d. h. welche Voraussetzungen sind für die Prognose gegeben?

Diese Voraussetzungen werden von Fakten bestimmt, wobei heute sehr flüssig zu sein scheint, um was es sich bei Fakten tatsächlich handelt. Zu den in ihrer Substanz wenig gesicherten Fakten gehören auch das Profil der an Prognosen beteiligten passiven und aktiven Menschen und schließlich wird das ganze Setting abgerundet durch eine erfahrungsbasierte Hoffnung.

Weshalb sind Prognosen aber trotz des libertären Spiels mit den Möglichkeiten dennoch sinnvoll? Prognosen erlauben die Erweiterung des Raumes für Spekulationen und schaffen dadurch neuen Möglichkeiten der Gestaltung. Prognosen sind aber auch Gestaltungsmomente an sich. Sie ermöglichen, Istzustände zu rechtfertigen, aber auch neue Sachverhalte zu kreieren.

Prognosen können camouflieren und Gewissheiten erschüttern. Prognosen sind Instrumente in der Hand derjenigen, die kognitiv und emotional sich berufen sehen, an der Gestaltung unseres Lebens im politischen, immer wirtschaftlichen und kulturellen Raum mitzuwirken. Sie sind einerseits unverzichtbar, andererseits aber aufdringlich und gefährlich.

Keine Prognose kann für ihr Resultat zur Rechenschaft gezogen werden. Die Verantwortung des Initiators bleibt vage.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Erinnerungen

Erinnerungen bilden das Menschheitsgedächtnis. Sie sind im Besitz jedes einzelnen Menschen, werden von Generation zu Generation weitergegeben und erfahren ihre verbindliche Festlegung sowohl in Gegenständen, als auch in medialen Formaten jeglicher Art.

Erinnerungen werden nicht nur sprachlich und bildlich weitergegeben, sondern auch durch Gefühle und Stimmungen. Erinnerungen prägen unsere Fähigkeiten, zu Erkenntnissen zu gelangen und Entscheidungen zu treffen. Das durch Erinnerungen gefütterte Weltgedächtnis ist unverzichtbar. Es ist deshalb existenziell, dass alle Menschen ihren Beitrag dazu leisten.

Das geschieht bewusst oder unbewusst, durch ein Handeln oder Unterlassen, aber oft nicht mit dem Wissen um die Sinnhaftigkeit des Handelns. Dabei kann jeder, der seinen Kindern aus seinem Leben erzählt, mit ihnen singt oder spielt, erheblich zu einer bleibenden Erinnerung nicht nur für das Kind, sondern für die ganze Familie und schließlich die Menschheit beitragen.

Das Gute, das wir schaffen, bleibt der Erinnerung erhalten, aber auch alles Böse und Schreckliche, ob sich dieses in einem persönlichen Verbrechen oder in einem kollektiven Krieg manifestiert. Deshalb sollten wir die Beiträge, die wir zur Erinnerung abliefern, sehr sorgsam und gewissenhaft gestalten, immer wissend oder ahnend, dass sie relevant sein dürften.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ansichten

Anstatt sich eine Meinung anhand von eigenen Erfahrungen im Abgleich mit objektiven Gegebenheiten kontinuierlich zu erarbeiten, erlauben ein paar Klicks, sich eine Meinung aus dem Internet herunterzuladen. Eine Meinung zu haben, ist damit keine individuelle Leistung mehr, sondern die Konfirmation einer Ansicht, die etliche Menschen teilen. Die größte Schwierigkeit für jeden Einzelnen besteht nun darin, diese Meinung, deren Ausmaß er überhaupt nicht abschätzen kann, so aufzubereiten, dass sie persönlich zu werden scheint.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss die erworbene Meinung veranlasst werden, jedem Zweifel zu widerstehen und für sich Wahrheit zu reklamieren. Der Begriff „Ansicht“, der Wegbereiter für die Meinung ist, bestätigt wortimmanent, dass es weitere, also andere Sichten auf einen bestimmten Betrachtungsgegenstand geben könnte. Der Begriff „Wahrheit“ kann dies allerdings nicht zulassen, denn Wahrheit ist intolerant, d. h. beansprucht den Absolutheitsanspruch.

Um diesem zu genügen, ist daher der Begriff „alternative Wahrheit“ geprägt worden, d. h. die Wahrheit weist Deutungsmöglichkeiten aus, die in ihren Vielfältigkeiten jede Meinung als stimmig bestätigt. Damit erfährt der seine Meinung äußernde Mensch seine umfassende Absicherung. Niemals kann er mit seiner Meinung falsch liegen. Seine Ansicht ist immer die richtige.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

ChatGPT

Seit etwa 10 Jahren schreibe ich beständig Blogbeiträge, von denen etwa drei bis fünf Ausführungen zu verschiedenen Themen monatlich ins Internet gestellt werden. Auf Kommentarfunktionen zu meinen Beiträgen habe ich verzichtet, lasse mir aber stets von meinem Administrator dieser Beiträge berichten, dass sie jährlich ca. 80.000 bis 130.000 „Klicks“ mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 2,2 Minuten erfahren.

Als ich davon erstmalig hörte, war ich sehr überrascht, denn nur einige Bekannte und Freunde haben mir erzählt, dass sie hin und wieder, zuweilen aber auch häufiger, meine Beiträge lesen, zumindest aber zur Kenntnis nehmen würden. Auch aus meiner Sicht darf man die Erwartungen nicht sehr hoch setzen, weil wir alle, also auch ich, von dem „Overflow“ an Informationen und Meinungen bereits ermüdet sind.

Nun erfahren meine Blogbeiträge eine für mich überraschende neue Dimension, und zwar durch ChatGPT. Ich muss mich mit der Vorstellung auseinandersetzen, dass das digitale Netzwerk und die Neuronen dieses Programms längst auch sämtliche Informationen meiner Blogbeiträge seit deren Beginn gescannt und mutmaßlich auch verarbeitet haben. Angesichts der unzähligen Blogs anderer Menschen und Informationen bei Twitter, Instagramm, Facebook usw. haben diese Informationen wieder den Wettbewerb mit anderen aufgenommen, um dann zu sehen, welche sich letztlich durchsetzen.

Ich stelle mir ein gigantisches neuronales Potpourri von Europa bis Neuseeland vor und ahne, dass ich, wie alle anderen Menschen, mit dieser Entwicklung etwas zu tun habe. Will ich das aber? Besteht nicht die Gefahr, dass aus meinen Behauptungen, die ich in meinen Beiträgen aufstelle, durch die Bearbeitung Gewissheiten werden? Kann es sein, dass ChatGPT eine gigantische „Umformungsmaschine“ ist, deren Sättigungsgrad nie erreicht sein wird und dabei gleichmütig alle Gedanken der Menschen zu einem eigenen Produkt macht, ganz egal, wer die Urheberschaft eigentlich für sich in Anspruch nehmen kann? Was sollte man der Maschine aber vorwerfen, wenn man sie dabei erwischt, dass sie Plagiate produziert, Ideen, Meinungen und sogar Tatsachen verfälscht?

Es geht dabei nicht nur um „Fakes“, sondern auch um Nuancen des Eindrucks von Stimmungen. Alles ist relevant, ob Kommata oder Doppelpunkte, Frage oder Ausrufezeichen! Es wäre ein Irrtum zu glauben, erst war die Sprache, dann war der Mensch. Die Aussage kann vor dem Gedanken nicht bestehen. Unter Einsatz von ChatGPT verändert sich nicht nur das Bibliothekswesen, sondern wir uns selbst. Wir sind im Begriff, den Schöpferstatus für all das, was wir einmal selbst geschaffen haben, zu verlieren und uns zum Handlanger der Maschine und von ihr abhängig zu machen.

Waren es damals Alexander der Große und Ptolemaios, die durch die Gegend zogen und Bücher für ihre Bibliothek in Alexandria raubten, um zu wissen, was die Menschen weltweit dachten und aufschrieben, so erfahren wir nun „ehrfurchtsvoll“ das Wortgemisch der Maschinen. Dem Zeitgeist ist nicht zu entgehen und bekanntermaßen schafft sich jede Zeit ihr eigenes Gewand.

Also sollte ich praktisch reagieren: Wenn ich bei ChatGPT meinen Namen eingebe, mit welchem Text muss ich rechnen? Wenn ich die Eingaben wiederhole, kann ich mit Varianten des Textes rechnen? Ich bedenke dabei, dass in Sekundenschnelle nun alle Texte entstehen könnten, für die ich mir in der Summe 10 Jahre Zeit gelassen habe.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski