Archiv des Autors: Sabine Büttner

Ohnmacht

Wenn wir dies in einem Wort ausdrücken wollen, sagen wir, dass uns im Falle einer Ohnmacht die Sinne derart verlassen, dass wir für die Dauer des Anfalls nicht mehr, zumindest kognitiv, wahrnehmungsfähig sind. Teilen wir das Wort in „Ohn“ und „Macht“, gibt es Auskunft darüber, dass ein bestimmter Zustand ohne Macht auskommen können muss. Generell gesprochen sind den Menschen beide Zustände geläufig. Manchmal ereignen sie sich gleichzeitig. Es kommt auf den Tatsachen- bzw. Sinnzusammenhang an. Ohnmächtig bin ich nicht, wenn ich mich meiner Machtlosigkeit bewusst bin.

Es könnte sogar sehr hellsichtig sein, wenn sich meine eigene Machtlosigkeit mit der auf der Welt bestehenden Machtfülle oder gar der absoluten Macht der Welten und Planten nicht in Wettbewerb begibt, sondern diese anerkennt. Der französische Philosoph Blaise Pascal hat – wie viele andere auch – festgestellt, dass der Mensch angesichts der allgemeinen Machtfülle ohne Macht sei, aber ihm zugebilligt, angesichts der allgemeinen Machtlosigkeit sehr mächtig zu sein.

Er drückt dies zwar in der Spiegelung von ´allem´ und ´nichts´ etwas anders aus, würde aber sicher meine Einschätzung teilen. Die Attribute der menschlichen Macht sind vielfältig, natürlich vor allem Geld, aber auch Sprache, Verstand, Durchsetzungskraft, Gestik und viele weitere Darstellungsmittel, die üblicherweise andere Menschen beeindrucken.

Zur äußeren Prägung der Macht kann sich allerdings auch das gesellen, was durch Demut, Zuwendung, Naivität und Verständnis bestimmt wird. Die Macht ist durchaus für unterschiedliche Lebensmodelle aufnahmefähig, seien diese real oder virtuell. Ohnmacht stellt sich allerdings dann ein, wenn sich der Mensch dazu entschließen sollte, die ihm anvertraute Macht verantwortungslos zu nutzen und daran heillos erkrankt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Biografie

Wer bin ich? Der eine oder andere würde spontan ergänzen wollen: und wenn ja, wie viele? Wer nach sich fragt, will sich vergewissern, unter Umständen sogar prahlen oder auf sich neugierig machen. Ist ein Erkenntnisgewinn erwartbar? Wohl kaum. Vor allem geht es wohl dem Menschen darum, die biografische Hoheit zu gewinnen und zu behalten.

Selbstzweifel, eigenes Versagen und zu missbilligendes Verhalten stehen nicht im Zentrum der Selbstbetrachtung, sondern diese soll nach vorausgegangenem anfechtbarem Tun die Läuterung erklärbar machen: also Saulus wird Paulus. Dabei geht die Schere weit auseinander.

Meine biografische Selbstwahrnehmung ist kaum deckungsgleich mit einer investigativen Fremdwahrnehmung. Ist die Diskrepanz zwischen dem, wie ich mich selbst sehe und demjenigen, wie mich andere sehen, überwindbar? Werden meine Erklärungsversuche, mein Leugnen oder mein Trotz die Unterschiede einebnen? Natürlich ist es nachvollziehbar, dass wir mit uns gnädiger als mit anderen umgehen, nichts unversucht lassen, uns zu rechtfertigen, wo Offenbarungen nicht vermieden werden konnten. Wie will ich denn in aller Öffentlichkeit eine Bestätigung dessen finden, was ich selbst von mir weiß und dennoch zu verbergen suche?

Mit meiner Biografie will ich nach Möglichkeit gnädig umgehen. „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ Erkenne dich selbst! Ist dies mehr, als ein frommer Wunsch? Eher glaube ich dank meiner vielen Identitäten, die meine Biografie bestimmen könnten, ein Chamäleon, ein Buch mit sieben Siegeln zu sein, als ein eindeutiges Zeichen. Biografien sind also nie eindeutige Fixierungen einer Persönlichkeit, sondern werden stets genährt durch Geschichten, die wir selbst erfinden oder von anderen Menschen erfahren.

So sind die Titelhelden aller unserer Biografien Menschen, die mit uns auf der Lebensbühne stehen, unsere Familie, Freunde, Verwandte und viele andere Menschen, die die Matrix unseres Lebens prägen. Das mit uns Gewesene blüht so auch in der Zukunft weiter. Unsere Biografie ist als Teil des Ganzen niemals auf uns beschränkt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

China

Nicht wo, sondern was ist China? Ein Land? Ein Zustand? Ein Phänomen? Ich bin völlig unsicher. Bewusst ist mir nur, dass China etwas großes, dabei Sonderbares ist. China ist nicht einzuordnen. Es gibt das China meiner Kindheit. Damals war ich mit meinen Gedanken und Gefühlen wahrnehmend oft dort. Es gab träge gelbe Flüsse, waghalsige Brücken, bärtige alte Männer, geduldige und liebreizende Frauen, gewaltige Landschaften, unberührte Naturen, endlose Wege, Helden und Schurken. Alles war so fern, aber sehnsuchtsnah in meinem kindlichen Erinnerungsbuch verzeichnet.

Einmal während der 80er Jahre hätte ich Gelegenheit gehabt, das Land zu besuchen und meine Erinnerungen mit der Wirklichkeit abzugleichen. Ich habe es aufgrund vordergründiger Zwänge nicht getan, was ich sehr bedaure, weil ich damit die Entwicklung meiner kindlichen Vorstellungen trotz des Wissens um Mao und die Kulturrevolution unmöglich gemacht habe. Ich hatte seinerzeit gehofft, doch noch die Rudimente dessen zu spüren, was für mich das Chinesische ausmacht.

Das Chinesische war für mich vielfältig, duldsam und auf eine prinzipiengetreue Art und Wese integer. Stimmt mein Bild mit der Wirklichkeit überein? Ich habe noch heute Scheu davor, dies kennen zu lernen, mich auf China einzulassen. Auf welches China denn? Das offensichtliche China: eine Wirtschaftsmacht, eine Weltmacht oder Kulturnation? Wie funktioniert Empathie und Logik auf Chinesisch? Spontane Antwort: Es ist Intensivität und Zurückhaltung dabei im Spiel. Heißt das, die Chinesen warten ab, um dann im richtigen Moment zuzuschlagen? Wie gebärdet sich ein hegemoniales Gebilde wie China? Will uns China alle beherrschen oder versuchen, uns von seinem Weg zu überzeugen? Kann uns Konfuzius das Prinzip künftiger chinesischer Weltherrschaft erklären? Welche Durchdringungskraft hat China als digitales Imperium?

Es sind viele Fragen, die ich gern beantwortet wissen möchte, die mir aber keine Angst machen. Ich bin neugierig und glaube aufgrund meiner Kindheitserfahrungen das zum einen Prinzipientreue, zum anderen aber auch Langmut und auch Erkenntnisinteresse Chinesen veranlassen werden, der menschlichen Vielfalt nicht durch Umerziehung, sondern Erkenntnisgewinn zu begegnen. Einmal Kulturrevolution war genug.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

 

Generationenvertrag

Vor allem Politiker beharren in ihren öffentlichen Verlautbarungen darauf, dass wir uns gegenüber künftigen Generationen durch unser Verhalten in der Gegenwart schuldig gemacht haben. Dabei geht es um Rente, Klima und Umwelt. Weil wir prassen und zerstören, türmen sich Schulden auf, die nicht wir, sondern künftige Generationen zu zahlen hätten. Ist das nicht etwas einfach gedacht? Es war in der kurzen Menschheitsgeschichte schon immer so, dass jede Generation ihre Bedürfnisse befriedigte und dabei auf Kosten der Natur und der Umwelt handelte. Da es weniger Menschen gab und die technischen Voraussetzungen noch nicht vorlagen, war wohl der Schaden quantitativ geringer, aber qualitativ auch verheerend, z. B. durch Abholzung der Wälder im Mittelmeerraum für den Schiffsbau.

Heute sind die Eingriffe, die jede Generation zur Ergänzung ihres Lebens in vorhandene Ressourcen vornimmt und dabei zusätzlichen Schaden anrichtet, beträchtlich. Wir sind mehr Menschen auf dieser Welt, werden älter als die Generationen vor uns und haben gesteigerte Ansprüche. Dabei beruft sich jede Generation auf das Versprechen seiner Eltern: „Dir soll es einmal besser gehen als uns!“

Dieses Versprechen ist das Startgeld in unser Leben und veranlasst jede Generation nicht nur für eine bescheidene Bedürfnisbefriedigung im Eigeninteresse, sondern auch für Mehrwert für die Nachkommenschaft zu sorgen. Existenzängste begleiten den Menschen sein ganzes Leben und verhindern, gegenüber Kindern und Kindeskindern ein Zutrauen zu entwickeln, dass diese mit dem ihnen anvertrauten Leben zurechtkommen werden. Würde eine entsprechende Betrachtung einzelner Bestimmungen des Generationenvertrages dazu führen, dass wir noch sorgloser mit der Umwelt und dem für die Rente angesparten Geld umgingen?

Das halte ich für unwahrscheinlich. Wir würden unser wirtschaftliches Vererbungssystem überprüfen, stattdessen zu unseren Lebzeiten in Infrastrukturen investieren, die es unseren Kindern und Kindeskindern ermöglichen würden, ihre gemeinsam mit uns entwickelte Verantwortung früher, als dies heute geschieht, zu übernehmen. Durch Partizipation könnte sowohl die Eigensicherung des Lebens jeder Generation, aber auch Einfluss auf die künftige Entwicklung durch Investitionen statt Versorgungszusagen, die kaum einzuhalten sind, gewährleistet sein.

Wir erreichen dies, wenn wir uns von patriarchischen Strukturen verabschieden und die Bildung unserer Kinder von Anfang an daran orientieren, dass sie mit uns gemeinsam eine Aufgabe haben. Je eher wir die gesellschaftliche Teilhabe unserer Kinder zulassen, desto besser für sie und uns.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Interpretation

„Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn.“

Eine scheinbar völlig harmlose Aussage, die wir Johann Wolfgang von Goethe verdanken. Was hat er sich dabei gedacht, als er diesen Satz niederschrieb? Was wollte er mit diesem Satz ausdrücken? Wenn wir uns als Adressaten des Satzes begreifen, was nehmen wir zur Kenntnis, was denken oder empfinden wir, wenn wir diesen Satz hören oder lesen? In welchem Kontext zur Persönlichkeit und zum Schaffen des Verfassers, unserem Leben und Erfahrungen steht dieser Satz? Worauf liegt seine Betonung? Nimmt der Verfasser Kontakt zu uns auf oder spricht er ausschließlich zu sich?

Wenn wir unsere Sphäre der Wahrnehmung verlassen und eintauchen in die Sprache, das geschriebene und gesprochene Wort, und uns dem Metrum widmen, werden wir wissen wollen, weshalb der Verfasser dieser Zeile nicht innehielt, sondern ein Versmaß wählte, mit welchem er uns aufmerksam und neugierig macht, uns von der Beschreibung des Offensichtlichen mehr und mehr mit seiner eigenen Walderfahrung vertraut macht. Was sucht er in diesem Wald?

Erwartet er eine Überraschung, sucht er etwas, ohne dabei einen bestimmten Blick und ein bestimmtes Ziel zu haben? Setzt er auf Erkenntnis, weil er weiß, dass das Nichts ohne das Etwas nicht genannt werden kann? Und was will er im Wald? Er könnte ins Offene gehen, er bevorzugt aber den Wald. Hat er dafür Gründe, setzt er auf die Dunkelheit des Waldes und auf eine Überraschung, ein Abenteuer? Er behauptet, nichts im Sinn zu haben, sondern nur zu gehen. Bedeutet das, dass er sich der Verantwortung für sein Verhalten entledigen will, ganz egal, was in diesem Wald passiert?

Auch, wenn er angeblich nichts sucht, so hat er doch etwas vor, indem er geht, aber die Gründe hierfür nicht offenbart. Dabei weiß er wohl, dass ihm der Wald etwas ermöglicht, denn auch dann, wenn er nichts sucht, so lässt er dennoch zu, dass sich etwas unerwartet einstellt. Wir wissen nicht, wer uns anspricht. Ist es ein Mann oder eine Frau oder beides? Je nach biologischem oder sozialem Geschlecht des Waldgängers oder der Waldgängerin, welche Perspektiven ergeben sich hieraus auf das beschriebene Vorkommnis?

Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass offensichtlich von einem noch nicht abgeschlossenen Vorgang berichtet wird, der seinen unbekannten Anfang schon hinter sich hat und sich auf ein Bekanntwerden des kommenden Ereignisses einstellt. Wer immer hier in den Wald gehen mag, er bleibt stets auf unsere Wahrnehmung und uns als Interpreten angewiesen.

Allein unsere Bewertung individualisiert den Waldgänger und bewertet sein Verhalten. Der Leser vermag sich der Zukunft zuzuwenden, da die beschriebene Vergangenheit bereits in einem abgeschlossenen Vorgang die Projektionsfläche für ein noch denkbares kommendes Geschehen bildet. Hätte sich der Verfasser ausschließlich darauf beschränkt, uns einen Waldbesuch zu beschreiben, bei dem er nichts gesucht habe, würden wir uns wahrscheinlich gefoppt fühlen. Tatsächlich fordert er aber unsere Neugierde heraus, will, dass wir wissen wollen, was geschehen wird. Das verrät er uns, aber das ist eine andere Geschichte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Raum

Als ich jüngst den deutschen Astronauten Maurer in etwa 22 Stunden auf die Internationale Raumstation entschweben sah, wurde mir wieder einmal dieser ungeheure Raum, in dem wir leben, bewusst, nahm dabei aber auch unsere Fähigkeit wahr, diese Tatsache eher zu observieren und zu konstatieren, als tatsächlich an uns heranzulassen. Wir vermeiden Konfrontationen mit der Ungeheuerlichkeit, seien diese anschaulich wie beim Weltraum oder im übertragenen Sinne wie zum Beispiel bei Zumutungen, die wir anderen zufügen. Solange wir trotz aller Ungeheuerlichkeiten noch Bezugspunkte haben, seien dies vertraute Planeten oder verlässliche Erwartungen, können wir uns zumindest vorübergehend der Ungeheuerlichkeit und Dimension eines Raumes aussetzen.

Auch wenn wir in Bezug auf den Raum von Entgrenzungen sprechen, so erhält er implizit dennoch seine Begrenzung durch unsere Sprache, weil wir die Ungeheuerlichkeiten des Raumes nicht mit Worten erfassen können. So verhält es sich nicht nur mit dem offensichtlichen Raum, sondern mit jeder Ungeheuerlichkeit, mit der wir konfrontiert werden.

Das Offensichtliche können wir nur beschreiben, aber mit Worten niemals zu der Wesentlichkeit des Ungeheuren vordringen und dieses durch dessen Beschreibung sichtbar machen. Und doch, eines ist dennoch gewiss, die Ungeheuerlichkeit eines Raumes oder jeglichen sonstigen Vorkommnisses können wir empfinden, falls wir bereit sind, dieses Empfinden bei uns zuzulassen.

Dabei wird zwar die Ungeheuerlichkeit nicht umfassend wahrnehmbar, aber die Qualität der Ungeheuerlichkeit spürbar, weil wir, wenn wir uns darauf einlassen, die Fähigkeit haben, Eindrücke mit unserem Verstand durchaus komplex zu verarbeiten. Allerdings erlaubt uns unsere persönliche Begrenztheit nicht, aus dem Wahrnehmbaren Schlüsse zu ziehen, die das mit einschließen, was unsere analytischen Möglichkeiten übersteigt. Da es aber etwas gibt, das, um in einem Bild zu sprechen, jenseits des Horizontes liegt, begleiten uns bei der Betrachtung von Ungeheuerlichkeiten unsere Empfindungen, die sich durch Sehnsucht, Angst und Entsetzen bemerkbar machen und den Ungeheuerlichkeiten Konturen verleihen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Superlative

„Das ist wirklich wahnsinnig nett von Ihnen, dass Sie dies schreiben.“ Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen überhaupt noch mitbekommen, wie ihre Sprache inzwischen mit Superlativen durchsetzt ist. Ich glaube, die meisten Menschen haben sich daran gewöhnt und nehmen diesen Zustand einfach hin oder nutzen selbst die Möglichkeit, ihrer Aussage eine besondere Bedeutung beizumessen, wohlwissend, dass diese Bedarfssteigerung vom Empfänger als korrekt und selbstverständlich angesehen wird. Nichts ist kaum mehr schön, nett oder gut, ohne, dass es durch das Attribut wahnsinnig verstärkt wird.

Das Wort „wahnsinnig“, dass entweder vermitteln soll, dass ich selbst wahnsinnig bin oder meinen Gesprächspartner wahnsinnig machen möchte oder erwarte, dass er von selbst wahnsinnig wird, wenn er meine Botschaft empfängt, durchschreitet offenbar unterschiedliche Bedeutungshöfe, um schließlich aber doch nur auszudrücken, dass etwas nett oder schön ist. Wenn man sich allerdings wahnsinnig freut, ist es schon nahe eines Zustandes, der nach einer psychiatrischen Betreuung ruft. Das ist aber nicht gemeint.

Ich will nur sagen, dass ich mich freue, und zwar richtig, also nicht nur so tue, als würde ich mich freuen. Damit wird ein weiterer Aspekt der Superlative deutlich: Ich als Verwender will von vornherein Zweifel an meiner Aufrichtigkeit und der Ernsthaftigkeit meiner Freude ausschließen. Da die Freude allerdings auch riesig oder zum Beispiel mega sein kann, werden stets neue oder andere Superlative benötigt, um der Ausdrucksform die erwünschte Endgültigkeit zu verleihen. Superlative sind aber nicht steigerungsfähig. Nur neue Wortschöpfungen können dafür sorgen, dass ich am „optimal-sten“ ausdrücken kann, wie die ungeheure Zahl an Attributen und Adjektiven noch gesteigert werden könnte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Europäische Kulturverfassung

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist der Auffassung, es ginge in Europa auch ohne ein gemeinsames kulturelles Verständnis, d. h. jeder Staat präge seine eigene kulturelle Identität, die dann in einem Europa der Vaterländer miteinander konkurriert. Dies ist geschichtsvergessen, denn kein europäischer Staat hat je durchgängig eine umfassende eigene Identität aufweisen können, sondern wurde vielmehr stets beeinflusst durch andere, seien diese Eroberer, Migranten oder Visionäre. Ein Europa der Vielfalt weist folglich auch seine Identität durch ein gemeinsames kulturelles Grundverständnis aus. Dies sollte durch eine längst überfällige europäische Kulturverfassung zum Ausdruck kommen. Ich könnte mir deren Prinzipien wie folgt vorstellen:

Präambel

Die Europäischen Staaten sind sich sicher, dass die Garantie der kultu­rellen Ent­wicklung jedes einzelnen Menschen, von Gruppen und Län­dern, in Vielfalt und gegenseitiger Achtung und Verständnis der Er­haltung, der Entwicklung und dem Fortbestand der Menschheit in Würde, Respekt und Bereitschaft zu friedlichen Problemlösungen dient.

Dies vorausgeschickt kommen die vertragsschließenden Staaten in Folgendem über­ein:

Artikel 1

Das Recht jedes einzelnen Menschen, sich kulturell frei und vielfältig im Rahmen die­ser Verfassung zu entwickeln, ist unantastbar.

Artikel 2

Die kulturelle Betätigung von einzelnen Gruppen, Gebieten und Staa­ten steht un­ter dem Schutz der Gemeinschaft und zwar auch dann, wenn sie regional oder all­gemein den jeweils herrschenden Auffas­sungen widersprechen.

Artikel 3

Es ist die Aufgabe jeder staatlichen Stelle, kulturelle Entwicklungen aber auch Vi­sionen und Utopien aktiv zu fördern und sämtliche Er­rungenschaften vor der Zer­störung zu sichern.

Artikel 4

Jeder kann sich entsprechend seiner Fähigkeiten, seiner Visionen, sei­ner Utopien verwirklichen, solange er die Grundwerte der menschli­chen Gemeinschaft respek­tiert.

Artikel 5

Die staatlichen Stellen und die Gemeinschaft insgesamt fördern nach­haltig den „Dritten Sektor“, d. h. die Entwicklung der Bürgergesell­schaft durch deren unei­gennütziges, ideelles Engagement, durch fi­nanziellen Einsatz und Arbeitskraft und durch Schaffung der gesetzli­chen Voraussetzungen.

Artikel 6

Staatliche Stellen schützen Kultureinrichtungen jeder Art, wobei die Freiheit der kulturellen Betätigung sowie Kunst und Kultur nicht am Geschmack oder der Ein­sicht von wenigen orientiert ist.

Artikel 7

Staatliche Stellen richten ein, bewahren und stellen der Allgemeinheit das ge­samte kulturelle Erbe zur Verfügung, damit deren Erfahrungen einschränkungslos wei­tergegeben werden können.

Artikel 8

Kulturelles Engagement erfährt keine Begrenzung und erstreckt sich in­folge dessen auf sämtliche Nationen, ethnische Gruppen, religiöse Zu­sammenschlüsse etc. dieser Welt. Soweit die kulturelle Betätigung sich im Rahmen des internationalen Kodex der Men­schenrechte bewegt, besteht bei Maßnahmen des Kulturtransfers stets freies Geleit.

Artikel 9

Sämtliche staatlichen Einrichtungen gewähren Wissens- und Bil­dungsfreiheit, wis­senschaftliche Freiheit wird ebenfalls umfassend gewährt im Rahmen der Festle­gung der Ethikkommission der Verein­ten Nationen. Die Grenzen sind dort zu ziehen, wo sich die menschli­che Gemeinschaft selbst experimentell gefährdet. Dem wissenschaftli­chen Forschungsdrang an sich sind insofern dort Grenzen ge­setzt, wo er menschenfeindlich ist.

Artikel 10

Intoleranz, Gewalt, Terrorismus, Verfolgung von Minderheiten etc. stehen im Wi­derspruch zu den Grundzügen dieser Verfassung und werden geächtet und abge­lehnt. Staatliche Stellen werden das Nötige tun, um dem entgegenzuwirken.

Artikel 11

Die Religionsausübung ist frei, soweit sie den Nächsten in der Ge­meinschaft in sei­ner Würde achtet.

Artikel 12

Es besteht umfassende Informations- und Bildungsfreiheit. Zensur je­der Art findet nicht statt.

Wäre eine derartige europäische Kulturverfassung bei Zeiten geschaffen worden, wären Entscheidungen, wie sie in Ungarn und auch in Polen getroffen werden, eher unwahrscheinlich.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Prognosen

Faszinierend ist, dass wir uns gerne mit Erwartungen beschäftigen, die außerhalb unserer Beurteilung liegen müssen, weil wir weder die Kompetenz haben, den Gegenstand unserer Erwartungen richtig einschätzen und beurteilen zu können, noch sicher sind, zu leben, wenn künftig Entwicklungen eintreten, die sich auf den Gegenstand unserer Erwartungen beziehen können. Was legitimiert uns dennoch zu der Kühnheit, jenseits unseres Wahrnehmungshorizontes Prognosen abzugeben? Besitzen wir die Fähigkeit, künftige Entwicklungen zu deuten, indem wir uns das vorhandene Wissen erschließen?

Ausgeschlossen ist dies nicht. Schon vor 2.000 Jahren beschrieb Lukrez die „Natur der Dinge“ so verbindlich, dass wir, wenn wir diese aufgeschlossen lesen, das Maß unseres möglichen Verhaltens erkennen und daraus auch künftige Entwicklungen ableiten könnten. Jede Entwicklung im menschlichen Leben geschieht durch Nachahmung, und zwar angefangen vom Kleinkind bis zur Schaffung von Nationen auf allen Ebenen. Wenn man diesen Effekt auf die Probleme des Klimaschutzes und die Erhaltung unserer Umwelt überträgt, bedeutet dies, dass, wenn ein Mensch sich verpflichtet fühlt, andere Menschen durch sein Handeln anzustiften, Sinnvolles zu tun, sich aufgrund des Nachahmeeffekts diese auch veranlasst sehen, selbst dann mitzumachen, wenn damit für sie Einschränkungen und Verhaltensänderungen verbunden sind.

Da Dank Internet und Social Media die Bereitschaft wächst, andere nachzuahmen, geraten Verhaltensweisen, die auf Abgrenzung und Verweigerung beruhen, ins Hintertreffen. Singuläres Verhalten offenbart Hilflosigkeit und verdeutlicht die Einsamkeit desjenigen Menschen, der sich der Gemeinschaft verweigert. Nur in der Interaktion mit anderen Menschen können wir lernen, die Zukunft für kommende Generationen zu gestalten und zu erhalten, indem wir unsere eigene Handlungsmacht nicht von Attributen, wie zum Beispiel Geld und persönlicher Durchsetzungskraft ableiten, sondern von der durch Nachahmung erworbenen Fähigkeit, Sachverhalte neu einzuschätzen, zu bewerten und Prognosen für sinnvolle Veränderungen abzugeben.

Um dies erfolgreich zu bewerkstelligen, müssen wir erkenntnisfähig sein, bereit sein, eigene Fehler zu korrigieren und statt querzudenken, uns um Wissen bemühen, anstatt andere Menschen mit unserer Meinung zu bedrängen, zuzuhören. Wenn wir dies beherzigen, darf eine Zukunft, die wir weder schon kennen, noch möglicherweise altersbedingt kennen lernen werden, für uns schon jetzt erfahrungsoffen sein. Stärken wir nicht nur unser eigenes Bewusstsein, sondern dasjenige der Gesellschaft insgesamt, damit sie sich aufgrund dieser Wahrnehmung mutvoll und entschlossen, aber auch risikobereit und segensreich für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder engagiert.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zukunftsmodelle

Zur Gaudi des Wahlvolkes und Begeisterung der Medien war die Bundestagswahl 2021 durch einen wechselseitigen Abgleich von Peinlichkeiten, angeblichem oder tatsächlichem Versagen im persönlichen und beruflichen Umfeld und Standvermögen bei unzähligen Bewerbungsveranstaltungen geprägt. Letztere verschafften den Bewerbern Haltungsnoten, was angeblich von Bedeutung sein sollte bei der Bewältigung von politischen Aufgaben, politischen Krisen und Konflikten.

Von Angela Merkel hatte ich einmal, als sie zu ihrer Amtszeit befragt wurde, den bemerkenswerten Satz vernommen: „80 % meiner Tätigkeit im Amt als Bundeskanzlerin sah ich darin, das Schlimmste zu verhindern.“ Diese Aussage ist gut nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass nicht nur rational, sondern auch emotional unsere menschlichen Erwartungen und Handlungen auf das Situationsmanagement fokussiert sind. Dieser Bundeskanzlerin wurde unter anderem vorgeworfen, dass sie keinen wirklichen Plan für die Bundesrepublik Deutschland und deren unsere Gesellschaft gehabt habe, sondern situativ handelnd den Gefahren ausgewichen sei, die vergleichsweise die USA mit Donald Trump ereilten.

Der Einwand, dass es amerikanische Verhältnisse bei uns nie geben könnte, ist angesichts der Weltbedrohungslage, ob dies die Wirtschaft oder den Klimaschutz und kriegerische Auseinandersetzungen angeht, natürlich rein spekulativ. Tatsächlich konnte die bisherige Bundesregierung keinen Plan haben und auch die im Bundestag künftig vertretenen Parteien werden keinen Masterplan haben, wie es mit Deutschland weitergeht. Sie werden vermeiden, Zukunftsmodelle zu entwickeln, und zwar aus einem einfachen Grund: Sie wissen nicht, wie diese Modelle politisch, militärisch und gesellschaftlich aussehen sollen. Sie müssen einsehen, dass ein „America first“ des Donald Trumps ebenso wenig erfolgversprechend sein konnte, wie letztlich auch die wirtschaftliche Seidenstraße der Chinesenökonomie.

Es gibt allerdings viele Faktoren, die künftig unser Leben maßgeblich bestimmen werden. Sie sind sattsam bekannt und verlangen im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder, denen wir das Versprechen abgegeben haben, den Planeten zu retten, und zwar in den Bereichen Klimaschutz, Arterhaltung im Pflanzen- und Tierbereich, Bekämpfung des Hungers und Widerstand gegen jede sonstige Belastung und Zerstörung unseres Planeten zu handeln.

Es sind keine politischen Themen, die ausschließlich im Bundestag abgearbeitet werden, sondern vor allem menschliche und gesellschaftliche Probleme, die in einem Diskussionsprozess erarbeitet und zu einem Contrat Social führen müssen, und zwar nicht nur bezogen auf ein einzelnes Land, eine Nation oder gar Europa, sondern grundsätzlich, wie zum Beispiel durch die Bewegung „Fridays for Future“ schon angedeutet wird.

Politiker, die in den Bundestag gewählt werden, müssen künftig nicht nur in der Lage sein, Konflikten auszuweichen oder diese zu schlichten, sondern auch den gesellschaftlichen Diskussionsprozess um die Entwicklung von Zukunftsmodellen allumfassend vorzustellen und zu moderieren. Lebenssinn wird nicht durch Glaubensbekenntnisse geschaffen, sondern durch konkretes Engagement und durch Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte, denn dies haben wir künftigen Generationen versprochen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski