Archiv des Autors: Sabine Büttner

Abstammung

Ja, ich weiß, woher ich stamme,
ungesättigt gleich der Flamme,
glühe und verzehre ich mich …

So beginnt ein Gedicht von Friedrich Nitzsche. Wir Menschen sind nicht vom Himmel gefallen, auch kein Storch hat uns gebracht oder uns eine Mutter als „Neuling“ geboren. Wir stammen ab. Wir stammen ab von unseren Eltern, Großeltern und vielen weiteren Menschen vor uns. Das wird natürlich von uns allen zustimmend bestätigt und dann gleich ein Deckel auf diese Betrachtung gelegt mit den Worten, dass wir Menschen doch alle irgendwie miteinander verwandt wären, abstammten von Adam und Eva. Biologisch oder religiös mag das so sein, je nach Betrachtungsweise.

Darum geht es mir aber nicht. Ich möchte den Blick darauf lenken, dass die Abstammung nicht nur ein biologischer Prozess ist, sondern einer des Lernens und der Verantwortung, wenn man bereit ist, dies anzunehmen. Mit älteren Geschwistern ist man nicht nur blutmäßig verwandt, sondern steht mit diesem in einer sozialen Verbindung seit der Geburt, in der Erziehung, der Zuneigung und der Kontroverse. Von den Eltern lernen, heißt auch Verantwortung zu übernehmen für sich selbst und andere in der Familie. Die Geschichte der Eltern, ggf. auch Momente der Flucht oder der Vertreibung, der Heimat, des Aufgenommenwerdens durch andere Menschen sind Teil der Geschichte jedes Kindes.

Wie die biologische DNA ist auch die DNA des Erinnerns wesentlich für unser Leben und die Möglichkeit, verantwortlich für uns selbst, unsere Kinder, überhaupt die Gesellschaft zu entscheiden. Wir sprechen von entwurzelnden Menschen. Auch die entwurzelten Menschen haben die gleiche DNA des Erinnerns, wie diejenigen, die über Generationen hinweg den gleichen Flecken Erde als Heimat bezeichnen konnten. Sie werden sich dessen aber nicht mehr bewusst, haben vergessen oder keiner hat ihnen beim Erinnern geholfen. Sich erinnern, teilhaben an der Geschichte der Vorfahren und der Gemeinschaft aller Menschen ist aber wichtig für die Positionsbestimmung jedes einzelnen Menschen.

Das Erinnern ist nur durch einen Prozess des Erzählens machbar, denn Fernsehen, Rundfunk und sonstige Medien vermögen nicht, das persönliche und familiäre Erleben zu ersetzen. Auch, wenn moderne Medien oft den Eindruck erwecken, als wollten sie das Erinnern verallgemeinern, ist doch erkennbar, dass sich gerade junge Menschen gern an das Besondere erinnern wollen. Sie entwickeln ihre eigene soziale DNA, und zwar in der Hoffnung, dass andere, ggf. dann ihre Kinder diese wieder aufrufen können, wenn es soweit ist, den familiären Staffelstab weiterzugeben. Wenn dies eine gute Möglichkeit ist, das Erzählen zu bebildern und aufrechtzuerhalten, soll es mir recht sein.

Allen Menschen rate ich, ihren Kindern und Enkelkindern das zu erzählen, was sie selbst und ihre Eltern und Großeltern erlebt haben. Dieser Reichtum der Erfahrung wird den Generationen den richtigen und verantwortlichen Weg auch in die Zukunft weisen und verhindern, dass wir Menschen entwurzelt auf der Strecke bleiben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

KI

Wie entsteht Leben? Durch Zeit und Umstände. Und wie verhält es sich mit der künstlichen Intelligenz? Da ist zunächst eine Begriffsklärung erforderlich. Der Mensch setzt voraus, dass er intelligent sei und hält es für erforderlich, sinnvoll und unabweisbar eine andere Intelligenz außerhalb seiner eigenen Ich-Intelligenz zu schaffen. Der Mensch erscheint hier also als derjenige, dem etwas gelingt, und zwar Dank seiner Fähigkeit, Schöpfer zu sein. Das Künstliche daran signalisiert, dass es sich nicht um ein Prozess der Selbstermächtigung bei den zu schaffenden Wesen selbst handelt, sondern um etwas, das künstlich, das heißt unter Einsatz menschlicher Fähigkeiten geschaffen wird, also in der Abhängigkeit von seinem Schöpfer bleibt.

In dieser Abhängigkeit wird KI allgemein verstanden, und zwar in der Regel als verlängerte Werkbank des Menschen, sei es im autonomen Fahrverkehr oder Smart-Home. Alle, die sich mit der Entwicklung digitaler Möglichkeiten beschäftigen, verkennen nicht die Möglichkeiten, die in Algorithmen und künstlicher Synapsenbildung liegen.

Es ist von „Deep Learning“ die Rede und von der ungeheuren Verarbeitung von Datenmengen, die sich durch digitale Wesen selbst entwickeln und vermehren lassen. Deshalb warnen Wissenschaftler und Praktiker vor den Folgen einer digitalen Entwicklung, die wir nicht mehr im Griff haben. Das Problem ist nur, wir können diese Entwicklung nicht zurückdrehen und den Prozess stoppen.

Noch sprechen besorgte Beobachter, wie Heinz Dürr, vom Leichtsinn des Zauberlehrlings, der gestoppt werden kann, sobald der Hexenmeister wieder nach Hause kommt oder Dädalus, dessen Warnungen vor der Sonne vom Sohn Ikarus nicht befolgt werden, deren Hitze das Wachs seiner Flügel schmelzen lässt und er ins Wasser stürzt. Die Bilder vermitteln den Eindruck, als könne eine fatale Entwicklung durch Ermahnungen noch aufgehalten werden, als gäbe es eine Moral der Abschreckung. Ich glaube das nicht. Bei der sogenannten künstlichen Intelligenz handelt es sich eigentlich nicht um eine „künstliche Intelligenz“, sondern eine „andere Intelligenz“ oder auch „anorganische Intelligenz“ oder auch „uns herausfordernde Intelligenz“.

Unbestreitbar haben wir Menschen den Prozess in Gang gesetzt und die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich diese Form der Intelligenz entwickeln kann, aber diese ist bereits in den Zustand der Selbstermächtigung eingetreten. Die Intelligenz, die ich beschreibe, nutzt unsere digitalen Tools, um ihre eigene DNA zu entwickeln. Man könnte auch sagen, dass das, was wir als die „andere Intelligenz“ bezeichnen sollten, parasitär veranlagt ist, das heißt, wir das „Wirtstier“ für die Ausbeutung durch die künstlichen Wesen darstellen.

Aber nicht nur der Mensch, sondern alle Angebote der Welt und des Universums sind nichts anderes als die Verfügungsmasse dieses nicht humiden Wesens. Wir werden eine Zeit lang noch Konkurrenten sein, auch Unterstützung erfahren, soweit es diesem Wesen zum Zwecke der Selbstoptimierung sinnvoll erscheint, aber irgendwann werden wir auch auf der Strecke bleiben, wenn wir nicht mehr liefern können, was die „künstliche Intelligenz“ von uns erwartet: Energie.

Ich vermute, dass die künstliche Intelligenz oder auch besser gesagt, „konkurrierende Intelligenz“ wieder die Atomenergie entwickeln wird, da sie sich von unseren menschlichen, organischen Vorbehalten nicht beeindrucken lassen muss. Wenn wir diese Entwicklung nicht wollen, was können wir tun? Meines Erachtens nichts, denn wir wollen und können die digitale Entwicklung nicht zurückdrehen. Es mag uns allerdings trösten, dass sich auch bei der künstlichen Intelligenz das menschliche Desaster wiederholen wird. Die Sinnlosigkeit beliebiger Möglichkeiten wird irgendwann zur Selbstaufgabe „künstlicher Intelligenzen“ führen.

Für uns kommt das dann leider etwas spät. Genießen wir also unsere analoge Welt in ihrer ganzen Unvollkommenheit, solange uns dies von der anderen Intelligenz noch gestattet wird.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zeitverschwendung

Wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, sind es wie Gummi gedehnte Podiumsveranstaltungen mit einem/einer selbstverliebten Moderator/in, die selbständig irgendwelche Einschätzungen abliefern und Fragen an ebenso selbstverliebte Teilnehmer stellen, die völlig unvorbereitet das darauf antworten, was ihnen dann gerade durch den Kopf segelt. Bei vier bis sechs Teilnehmern plus Moderator/in dauert die ganze Veranstaltung einschließlich Schlussstatements und Zusammenfassung unendlich lange. Die reine Zeitverschwendung.

Natürlich bleibt für Fragen kaum Zeit. „Keine Co-Referate“ wird vom Moderator/in angemahnt, auch wenn er/sie nicht daran denkt, diese Ermunterung ebenfalls zu beherzigen. Wo wir es eigentlich doch alle so eilig haben, ist diese Form der Zeitverschwendung ein erstaunliches gesellschaftliches Phänomen.

An jeder Supermarktkasse wird gedrängelt, was das Fließband hergibt, aber einem potentiell unbekannten Partygast vom Surfurlaub, Skifahren oder der Hüftoperation zu erzählen, scheint völlig in Ordnung zu gehen, selbst dann, wenn die Schilderungen sehr lange dauern. Reziprok ist das Verhalten ohnehin nicht. Denn in Ermangelung der Fähigkeit, über die Zeit anderer ebenso wirksam verfügen zu können, scheitert so mancher Gesprächspartner kläglich.

Zeitverschwendung ist ein Vermüllungsproblem. Es ist ein Machtkampf entbrannt, aber nicht um Inhalte, sondern um die Verfügbarkeit über die Zeit anderer. Dies drückt sich auch in unzähligen Einladungen zu Podiumsveranstaltungen, Vernissagen oder Gesprächskreisen aus. Die meisten dieser Einladungen sind versehen mit dem Aufruf schon vorsorglich Termine zu blockieren, erfolgen per E-Mail und wiederholen sich bis zum Ereignis fast täglich oder sogar stündlich.

So entkommt man der Verfügbarkeit über die Zeit durch andere kaum, und zwar auch nicht durch persönliche Verweigerung, wie man hofft. Wer nicht mitmacht, wird gestrichen. Das ist kein Triumpf der persönlichen Verweigerung, sondern eine Form der Abrechnung durch unsere interne Zeitverwaltung. Wer schmollt, muss sich nicht beklagen, dass er völlig isoliert von anderen seine Zeit verschwendet. Also lieber mitmachen und die Zeit zum Markte tragen, also wäre sie die eigene Haut.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Sinnlosigkeit

Was juckt es den Bären, wenn man ihm einen Floh in den Pelz setzt. Kurz schüttelt er sich und im hohen Bogen verlässt ihn der Floh. Das Beispiel soll verdeutlichen, dass es völlig sinnlos ist, gegen die Mächtigen etwas vorzubringen, sie schütteln sich einmal und schon geht es weiter.

Ja, es mag sein, dass der Prozess des Schüttelns etwas länger dauert oder die Hilfe von Kammerjägern erforderlich ist, aber, im Ergebnis bleibt der Pelz frei von Störenfrieden. So ist es, wenn wir uns nicht nur Putin, sondern auch Trump, Erdogan und neuerdings auch den chinesischen Parteichef Xi Jinping als Bären denken.

Dabei geht es nicht nur um ihr persönliches dickes Fell, sondern um das Fell an sich. Es geht um die Machtlosigkeit des Flohs angesichts der organisierten Macht von Einrichtungen, die empfindlich reagieren, wenn sie sich angegriffen fühlen, dann unnachsichtig sind und nicht zulassen, dass sie in Frage gestellt werden. Die eigene Selbstverherrlichung geht so weit, sich anzumaßen zu wissen, was Religion ist und was sie will. Indem sie diese instrumentalisieren, lästern sie Gott, und zwar ohne zu erwarten, dass sie zu Lebzeiten dafür bestraft werden. Man könnte auch sagen, sie lästern und missachten die Schöpfung Gottes.

Aber das juckt sie genauso wenig, wie der Floh in ihrem Pelz. Religion, der Mensch, seine Fähigkeiten und Neigungen. Alles ist nur Mittel zum Zweck der Mächtigen. Müssen wir resignieren, verzagen oder bleibt für uns noch etwas zu tun? Ich glaube, ja. Es geht für uns darum, Haltung zu beweisen, unsere Würde, unsere Integrität, unsere Ablehnung, unsere Beharrlichkeit, uns nicht verführen zu lassen, unser Wille, uns im Pelz der Mächtigen festzukrallen und nicht loszulassen, wenn der Bär sich schüttelt. Ein Einzelner vermag da wenig, aber viele anständige Menschen sind eine echte Herausforderung für alle Machthaber. Schaffen wir also eine Population der Integrität, Würde und Güte, die im Pelz der Mächtigen mehr juckt als ein einzelner Floh.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kryptografie

Es wird von den unendlichen Möglichkeiten geredet, menschliche Gehirne miteinander zu verknüpfen, Gedankenaustausch ohne jede Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu pflegen, mit Computern direkt zu kommunizieren und Quantencomputer zu nutzen, die statt Bits and Bytes mit Qubits hantieren, das heißt, nicht nur die Impulse 1 und 2, sondern auch alle Grautöne der Kommunikation zulassen.

So wie von einigen Menschen von der Zukunft aller Möglichkeiten geschwärmt wird, beklagen andere drohende Kontrollverluste, befürchten Brainhacking und schwören auf eine quantensichere Kryptografie. Was ist denn los da draußen und in uns selbst? Alles wirkt entfesselt und die einzige noch verschlossene Türe zu allen Möglichkeiten scheint noch die Zeit zu sein. Der direkte Austausch zwischen Gedankenträgern soll es erst in etwa 50 Jahren geben, also kein Grund zur Beunruhigung? Ich denke doch.

Für den Menschen ist es in seiner DNA verankert, dass er alles erforscht, ausprobiert und versucht, auch umzusetzen. Es geht aber mit der Zeit etwas verloren, was ich für wichtig erachte, und zwar den Anlass allen Strebens nach Fortschritt. Es kann kein verlässlicher Grund für alle unsere Bemühungen geben, das menschliche Gehirn zu verändern, zu optimieren und zu quantifizieren, obwohl zum Beispiel die Chinesen keinen Skrupel haben, dies aus staatlichen Eigeninteressen zu verfolgen.

Das Eingreifen in unser Bewusstsein durch Reduktions- und Sublimierungstechnologien, Beseitigung störender Gedanken und Anreicherung von Nützlichem und Stärkung der Logik stellt keinen Fortschritt dar, wenn wir nicht wissen, was Grund oder Ziel dieses Strebens ist.

Stört uns die Vielfältigkeit menschlicher Gedanken, das Unbekannte und Gefährliche? Müssen wir den Körper des Menschen beseitigen, der als anfälliger Träger menschlicher Unberechenbarkeit gilt? Was soll eine menschliche Gesellschaft noch leisten, in der die menschliche Einzigartigkeit nur noch eine ungeordnete Rolle spielt?

Um den Anfängen eines Zugriffs auf unser Ich Paroli zu bieten, müssen wir bereit sein, uns zu verschlüsseln, und zwar schon jetzt. Dazu gehört, sich Medien zu verweigern, die uns ausspähen, unsere Gewohnheiten kennenlernen, uns befragen, kopieren und unsere scheinbaren Bedürfnisse kreieren. Wir sollten den digitalen Medien nicht alles verraten, sondern das Kostbarste verschlüsselt halten, unser Wesen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Blumenreigen

Im Zeit-Magazin vom 22.03.2018 las ich ein aufregendes Interview mit Stefano Mancuso, der als Botanikprofessor an der Universität Florenz lehrt. Er hat ein Buch geschrieben über die Intelligenz der Pflanzen und behauptet in dem Interview nicht nur die Denk- und Merkfähigkeit von Pflanzen, sondern auch ihre Möglichkeit, miteinander zu spielen. Er mahnt an, die Pflanzen so zu nähren, wie sie es wünschen und darauf zu vertrauen, dass sie sich auch wehren können. Die Pflanzen brauchen kein Glyphosat, so eine seiner erstaunlichen Aussagen. Er beschreibt auch die neuronale Vernetzung der Pflanzen untereinander und ihre großen Potentiale, den Menschen bei der Gestaltung der Welt hilfreich zu sein. Pflanzen empfinden keinen Schmerz und können es auch zulassen, verspeist zu werden. Sie sind anpassungsfähig an ihre Umwelt und Überlebenspartner der Menschen.

Doch warum nehmen wir dies nicht wahr? Ich vermute, weil wir nicht aufmerksam sind und verdrängt haben, dass der Apfel der Erkenntnis, den Eva im Garten Eden für Adam gepflückt hatte, kein schlechter war. Diese gänzlich unwahre Bibelgeschichte ist für uns Menschen betrüblich wahr. Wir scheuen uns vor der Erkenntnis, weil diese uns in Verantwortung zwingen würde. Auch Gott wollte nie diese Verantwortung verhindern, sondern den Menschen Gelegenheit geben, durch wahres Erkennen des Lebens die Potentiale des Entwickelns und des Scheiterns zu ergründen. So ist das biblische Gleichnis eine Aufforderung, der wir bis heute nicht gerecht werden. Schon im Apfel der Erkenntnis hat sich uns die Natur offenbart, aber wir haben darin nur unsere Nacktheit erkannt und nicht die Botschaft des Wachsens, des Reifens und Lernens.

Wir haben aber die Chance, den uns dargebotenen Apfel immer wieder zu ergreifen, ihn zu kosten und wahrzunehmen, was uns die Natur mitzuteilen hat. Dies betrifft nicht nur die Angebote der Nahrungsaufnahme und der Schönheit, sondern auch der Entschlüsselung von Düften, Ritualen und unbekannten Fähigkeiten. Nur ein Beispiel will ich nennen: Würden wir die Möglichkeit der pflanzlichen Natur als Speichermedium erkennen, würden wir wahrscheinlich auch hieraus Nutzen ziehen für den dringend benötigten Energiespeicher für uns alle.

Würden wir für Pflanzen einen Energiekompass entwickeln, wären sie in der Lage, uns zu zeigen, wie wir uns sinnvoll ernähren und gesünder unser Leben bestreiten können. Würden wir Pflanzen als Partner sehen und respektieren, würden sie bereit sein, mit uns die Welt zu retten. Davon bin ich überzeugt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zwischenwelten

Wenn wir etwas von Zwischenwelten hören, denken wir fast zwangsläufig an Science-Fiction-Geschichten. ´Zwischenwelten´ ist ein nicht ganz fassbarer Ort, unkonkret, gefährlich und mächtig. Genau so aber verhält es sich mit Zwischenwelten, die wir kennen und von denen wir wissen, dass sie sich in unserem Alltag komfortabel eingerichtet haben. Die Rede ist von Organisationsformen, wie Gewerkschaften, Parteien und Glaubensgemeinschaften. Deren Einfluss auf unsere Gesellschaft ist unbestreitbar und wird täglich erlebt. Fraglich ist jedoch deren Legitimation.

Die genannten Institutionen sind Vereinen ähnlich, aber in ihrer Wirkung greifen sie weit über ihre eigene Mitgliederstruktur hinaus. Gewerkschaften engagieren sich nicht nur für Arbeitsbedingungen, Gehaltserhöhungen und die Freizeit ihrer Mitglieder, sondern vermögen auch Regelungen für diejenigen zu treffen, die weder Mitglieder sind, noch persönlich beabsichtigten, die Interessensvertretung zu legitimieren.

Meist mit, aber auch gegen den Willen Einzelner können Tarifverträge nicht nur ausgehandelt, sondern auch verbindlich mit Arbeitgebervertretern abgeschlossen werden. Gewerkschaften sind keine staatlichen, auch keine halbstaatlichen, individuellen oder kollektiv privaten Einrichtungen, sondern intermediäre Interessensvertretungen, die ihre Legitimation von grundrechtlich geschützten Interessen ableiten.

Ähnlich verhält es sich mit Parteien. Auch sie verpflichten nach Wahlen unsere Gesellschaft zu einem Verhalten, das nicht davon abhängt, ob wir Parteimitglieder sind oder nicht. Sind sie mehrheitlich gewählt, nehmen sie auch Minderheiten in die Haft für ihr Programm. Dies geschieht ohne Ansehung persönlicher Interessen oder staatlicher Verfasstheit. Parteien bedienen sich dieser Einrichtungen, allein aufgrund ihrer Legitimität.

Auch Kirchen und Glaubensgemeinschaften greifen in ihrer Wirkungsmacht stets weit über die Individualität des einzelnen Gläubigen und der durch sie verfassten Institution hinaus. Sie halten sich allgemein für Daseinsfragen und auch des Jenseits für zuständig und rechtfertigen sich weder durch Mitgliedschaften, noch Zustimmung. Auch sie sind intermediäre Einrichtungen, Teil einer Zwischenwelt, deren Legitimität nicht zur Überprüfung gestellt wird.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Weltenformel

Stephen Hawking ist gestorben. Die Nachricht seines Todes bringt mich zum Grübeln. Was hat es aus meiner Sicht mit dem Universum auf sich? Vom Urknall bis zum Ferienflug, überwiegend werden wir mit konkreten Ereignissen konfrontiert, die mit Materie zu tun haben. Es geht um Naturgesetze, Naturkonstanten, Elektromagnetismus, Gravitation, Quantenmechanik und schwarze Löcher.

Was ist aber, wenn selbst diese komplexen Erklärungsversuche unseres Universums einschließlich aller konkreten Bestandteile selbst nur eine Idee wären, Projektionen eines Geistes, wie der eines Isaac Newtons, Albert Einsteins oder Stephen Hawkings, um nur diese drei zu nennen. Letzterer hat diese Idee der Projektionen selbst einmal angesprochen, indem er auf die Unsicherheit der realen Existenz hinwies.

Diese Unsicherheit manifestiert sich auch im Glauben. Im Glauben wird eine Welt geschaffen, die ebenfalls nicht konkret ist, sondern einer Idee folgt und diese ausformuliert. Könnte es sein, dass das, was wir als konkret begreifen, eigentlich nur eine Idee ist, die zum Konkreten führt? Es gäbe demnach eine Uridee der Existenz, in der sich alles finden kann und sich trennt. Die Idee ist auf Lichtgeschwindigkeiten bei der Erforschung des Universums nicht angewiesen, da bereits der entfernteste Punkt des Universums oder des Multiversums von der Idee erfasst ist und jederzeit erkennbar gemacht werden kann. Unsere Reise durch Zeit und Raum würde sich so an der Idee und nicht an der Beschwerlichkeit des Konkreten festmachen.

Sind derartige Überlegungen, die aberwitzig daherkommen, sinnvoll? Vielleicht doch, und zwar unter dem Gesichtspunkt einer Entdeckungsmöglichkeit jenseits von Erfahrungen der Begrenztheit. Es wird wahrscheinlich alternativen Intelligenzien vorbehalten bleiben, diese von uns Menschen entwickelte Möglichkeit der Idee zu nutzen, um die Weltformel zu entziffern, die alles einschließt und alles umfasst, doch weniger wiegt, als die Luft auf einer Fingerkuppe.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Querung

Straßen sind gefährlich. „Schau nach links und schau nach rechts, bevor du über die Straße gehst“, so lautet die Ermahnung der Eltern an ihre Kinder. Verkehrserziehung. So lautet der Sammelbegriff aller Maßnahmen zum Schutz des Menschen.

Und die Wirklichkeit? Die Autofahrer, die eigentlichen Damen und Herren der Straße. Sie fahren wie immer schnell und zügellos, wenn sie nicht durch Ampeln und Verkehrseinschränkungszeichen gebremst werden. Dasselbe gilt für Motorradfahrer. Und für Fahrradfahrer. Im Rudel oder sehr individuell schießen sie aus allen denkbaren Ecken in den Verkehr hinein, von vorne, von hinten, von links, von rechts, egal wie die Straße verläuft oder die Fahrtrichtung. Weder Verkehrszeichen noch Ampelanlagen halten sie auf. Flächen ihres sportlichen Engagements sind aber nicht nur Straßen, sondern auch Gehwege und Plätze. Der Protest des Fußgängers bleibt nicht aus. Was der Fahrradfahrer kann, kann ich schon lange. Ampeln werden ignoriert, aber vor allem der Verkehr insgesamt. Individuelle Straßenquerung als Zeichen des Selbstbewusstseins. Sollen die Kraftfahrzeuge doch damit zurechtkommen. Und wenn etwas geschieht, dann ist doch ohnehin der Kraftfahrer schuld, denn in seinem Fahrzeug ist die Gefahr beheimatet. Ein gefährliches Werkzeug. So sagen die Gerichte.

Die Kommunen stimmen zu, legen verkehrsberuhigte Straßen an, verstümmeln sie mit Pollern und sonstigen Fahrhindernissen, heben Fußgänger, Radfahrer in die Ebenbürtigkeit mit Kraftfahrzeugen oder erteilen schließlich sogar Fahrrädern den Vorrang vor jeder anderen Art der Fortbewegung: die Fahrradstraße. Und? Werden die Straßen sicherer? Wohl nicht. Aber der Verunfallte hat seinen Kontrahenten, den anderen Verkehrsteilnehmer, von dem er immerhin möglicherweise Schadenersatz verlangen kann. Dadurch erhöht sich leider die allgemeine Unvorsichtigkeit und wird nicht gemindert. Verkehrsteilnehmer rechnen nicht mehr miteinander, sondern sie rechnen miteinander ab. Sie rechnen nicht damit, dass jemand sie überfährt, weil sie den Verkehr ignorierend die Straße gekreuzt haben. Sie orientieren sich nicht am Verkehr, sondern gehen davon aus, dass schon nichts passiert, weil Gesetze und Rechtsprechung ihnen das versprechen. Ein früher Merkspruch lautete: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Ist heute die Gefahr gebannt, weil verkannt? Der Prozess der Verdrängung des Verkehrs als Gefahrenquelle geht einher mit jeder Form der Wirklichkeitsverdrängung in unserer Gesellschaft. Dabei mag die Hoffnung Pate stehen, es passiere ja nichts, und wenn etwas passiere, gäbe es dafür wieder eine Entschuldigung oder Schadenersatz.

Das Leben aber ist eine Risikogemeinschaft, der mit Verdrängung nicht beizukommen ist. So wie die Verkehrsteilnehmer den Straßenverkehr zu verdrängen trachten, indem sie ihn aus ihrer Beobachtung nehmen, verdrängen viele Menschen heute die Gefahren ihres Essverhaltens, des Konsums der medialen Langeweile und der mangelnden Bildungsbereitschaft. Sie wähnen sich in der Sicherheit der sozialen Verschränkung mit anderen und bedenken meist nicht, dass sie trotzdem wachsam sein müssen und ihre Vorsicht bei der Überquerung der Straße von keinem anderen übernommen werden kann. Wenn ein Mensch überfahren wird, so ist er tot oder schwerverletzt. Die Frage der Verantwortlichkeit und des Schadenersatzes ist dabei nebensächlich. Ein verantwortlicher Mensch schaut genau hin, was passiert. Im Verkehr genauso wie im restlichen Leben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Haben und Sein

In seinem 1976 erschienen Buch „Haben oder Sein“ versucht Erich Fromm zu belegen, dass der am Haben orientiere Mensch Opfer der Warenwelt sei und an diesem Fetisch scheitern müsse. Der Mensch, der nach dem Sein strebe, lerne dagegen alle Aspekte der Liebe kennen und erfahre dadurch inneren Reichtum und Zuwendung. Natürlich habe ich in dieser Zusammenfassung das Anliegen von Erich Fromm äußerst stark und subjektiv gekürzt und bin fernab davon, diesem Werk in irgendeiner Weise inhaltlich gerecht zu werden. „Haben oder Sein“ habe ich mit großer Faszination gelesen und meine, dass Fromm in vielen Punkten den Nagel auf den Kopf trifft. Es gibt aber einen Generalvorbehalt gegen das Werk: Zuerst kommt der Mensch und dann die Moral. Was will ich damit sagen. Der Mensch ist. Der Mensch will haben. Er will haben als Sammler und Jäger. Er orientiert sich an seinen Vorteilen und ist stets darauf bedacht, sein Überleben zu sichern.

Die Eigenschaften des Menschen kann man nicht a priori ändern. Mit diesen Eigenschaften müssen der mit ihnen ausgestattete Mensch und auch wir alle mit ihm in Gemeinschaft leben. Zudem ist kein Mensch dem anderen gleich. Die Nuancen des Habenwollens sind vielfältig und reichen von scheinbar ausschließlicher materieller Gier über ein abgestuftes System der Selbstbelohnung bis hin zum Habenstolz des wohltätigen Menschen. Aber gerade darin liegt das Problem der Schrift von Erich Fromm. In der fehlenden Anerkennung des habenden Menschen. Der Mensch hat einen Charakter. Er hat gute und schlechte Eigenschaften. Er hat materielle Lebens­angst. Er hat Sorgen. Er hat Ehrgeiz und Verstand. Er hat den an sich selbst gerichteten Anspruch, für andere etwas zu tun. All dies ist dem Haben-Bereich des Menschen zuzuordnen und sollte ihm nicht abgesprochen werden. Auch der verstockteste Mensch will sein. Als Baby will er angenommen werden, und dies womöglich sein ganzes Leben lang. Doch es will ihn keiner haben. Das vielleicht. Oder es will ihn jemand haben, er wird geliebt und kann lieben. Dann ist er womöglich im Sein und hat noch vieles, um zu geben.

Wer gibt, kann haben, was er gibt. Er muss auf das Haben nicht verzichten, um zu geben. Möglicherweise ist er nicht daran interessiert, seinen Besitz anzuhäufen oder tut das auch nur, um noch nachhaltiger geben zu können. Wer vermag dies zu entscheiden? Aber wir wollen, dass der Mensch gibt, dass er seine Integrität anerkennt, man ihm vertrauen kann und er dem Sein verbunden ist. Um dorthin zu gelangen, ist es nicht hilfreich, dem Menschen vorzuhalten, was er alles falsch mache und wie viel besser es wäre, wenn er im Sein und nicht im Haben leben würde. Was würde der Mensch dann tun? Er wird vielleicht sagen: Haben ist mir lieber. Dumm. Er wird möglicherweise, weil er sich schämen würde, auf das Haben reduziert zu sein, behaupten, er lebe im Sein. Er würde sich und seine Eigenschaften alle dem Sein unterordnen, obwohl sie gerade das Gegenteil offenbaren. Vielleicht würde er glauben, was er behauptet. Auch der Mensch zählt dazu, der, dem Sein eigentlich von Herzen zugewandt, bei seiner Selbstprüfung erfährt, wie er vom Haben angezogen wird. Würde er diesen Widerspruch mit sich selbst klären können oder weiter heucheln und lügen? Das kennen wir genug aus der Geschichte aller Kirchen und Religionen. Der Rigorismus, mit dem Gegensätze geschaffen werden, ist daher nicht hilfreich, sondern fördert gerade das, was vermieden werden soll. Im Sein findet der Mensch seine Vollendung. Um dahin zu gelangen, müssen Zweifel und Irrtümer überstanden werden. Der Mensch muss aber auch lernen, alle seine Eigenschaften zu nutzen. Naheliegenderweise würde ein Persönlichkeitsberater sagen, „gehe deinen eigenen Weg“. Der eigene Weg ist, zu erkennen, dass es sinnvoll ist, zu helfen, denn der, der hilft, dem wird auch geholfen. Alles Binsenweisheiten, von denen der Mensch profitieren kann. Wichtig erscheint mir angesichts des Respekts vor anderen Menschen und ihren Fähigkeiten und Eigenschaften, diese positiv herauszufordern, indem man ihnen erklärt, dass man nichts von ihnen erwartet und sie nicht bestimmen will. Es ist ihre Entscheidung, zu haben oder nicht zu haben. Es ist ihre Entscheidung, zu sein oder nicht zu sein. Den Weg, den sie zu gehen gedenken, können sie selbst wählen und dabei mit Hilfe rechnen. Sie dürfen jagen und sammeln, aber wenn es anderen dabei gut geht, geht es ihnen noch besser. Keiner trachtet mehr nach ihrem Haben und spricht ihnen den Willen zum Sein ab. Sie sind selbstbestimmte Menschen und dürfen dies sein. Jeder Mensch hat immer wieder Chancen, zu lernen. Und dies ein ganzes Leben lang.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski