Archiv der Kategorie: Soziales

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen sozialen Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Eskalation (Teil 2)

…Daraufhin spreche ich nochmals explizit die ältere Frau an, die dann doch kurz den Blick hebt und mich wissen lässt, sie sei derart in ihr Buch vertieft und im Übrigen seien ihre Enkel nicht so. Diese würden so etwas nicht machen. Der Mann mittleren Alters schweigt weiter und die junge Frau steigt an der nächsten Station noch immer grinsend ohne Wortbeitrag aus.

Ich stelle fest, dass keiner der im Abteil Anwesenden mir beigestanden hat und meinen Appell an den Jungen unterstützte. Mein Eindruck ist, dass die Menschen bereit sind, alles hinzunehmen, zumindest solange, sie durch das Verhalten anderer nicht unmittelbar selbst betroffen werden. Und wie schätze ich mein eigenes Verhalten ein?

Ich fühlte mich jedenfalls hilflos, etwas wütend und auch traurig. Was vermag ich denn wirklich? Kurz hatte ich erwogen, den „Flegel“ zu fotografieren. Aber, was wäre das für ein Quatsch geworden! Sicher noch ein weiteres Zeichen meiner Hilfslosigkeit und dabei hätte ich noch riskiert, dass er mich entweder auslacht oder mich schlimmstenfalls auch angreift und ich in eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm verwickelt werden würde.

Menschen, mit denen ich meine U-Bahn-Erfahrung dieses Tages teilte, rieten mir, künftig auf solche Ermahnungen zu verzichten, da sie eskalieren könnten. Hier halte ich, wie ich dies auch in meiner kurzen Ansprache an meine Mitreisenden im Abteil versucht hatte, damit dagegen, dass wir alle eine auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung haben, derartige Vorkommnisse zu verhindern, da Gewalt, Rüpelhaftigkeit, Zerstörung, Missachtung der Werte anderer nicht zur Regel werden dürfen.

Ich führte auch an, dass wir alle ohnehin schon unter der rapiden Zunahme der Rücksichtslosigkeit leiden würden. Tatsächlich kann ich diese Gleichgültigkeit gegenüber dem durch den Jungen gezeigten Verhalten nicht hinnehmen. Sie sind vergleichbar mit den Pöbeleinen, die überall an der Tagesordnung sind, der Rücksichtslosigkeit gegenüber älteren Menschen und auch Behinderten. Dabei ist zu bedenken, was es für mich selbst und auch andere Menschen bedeuten würde, wenn ich meine Missachtung und die damit verbundene Abwehrhaltung aufgeben würde? Ich stelle mir dabei vor, was geschehen würde, wenn statt der von mir beschriebenen Anwesenden im Zug drei Rechtsradikale zugestiegen wären, den Jungen gesehen, diesen entweder angebrüllt oder gleich versucht hätten, ihn gewaltsam von der Bank zu ziehen. Dies zumal dann, wenn sie erkannt hätten, dass er einen Migrationshintergrund hat.

Was ich beschreibe, ist nicht nur vorstellbar, sondern es geschieht tatsächlich. Was würde ich tun? Ich würde versuchen, dem Jungen zu helfen und mich bemühen, die Radikalen von ihm abzuhalten. Das ist allerdings auch risikoreich und gefährlich. Hätte ich dann die Unterstützung der anderen Mitreisenden erhalten? Ich fürchte nein.

Es wäre bestimmt alles so verlaufen, wie ich es schon beschrieben habe. Wenn wir es allerdings nicht schaffen, als Gemeinschaft zu lernen, solidarisch zu handeln, für die von uns geschaffenen Regeln und Ordnungen einzutreten, für Deeskalation zu sorgen, dann droht uns eine Zunahme der Gewalt in jeglicher nur denkbaren Art und Weise. Das müssen wir im Interesse unserer Enkelkinder, Kinder, anderen Menschen und uns selbst verhindern.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Eskalation (Teil 1)

In der U-Bahn sitzt mir ein Junge gegenüber. Er ist etwa 10 bis 11 Jahre alt. Aufgrund seiner äußeren Erscheinung nehme ich an, dass er einen migrantischen Familienhintergrund hat. Er beachtet mich nicht, telefoniert und spricht, so ist meine Wahrnehmung, ein sehr gutes Deutsch. Er hat sich aber so hingesetzt, dass er seinen linken Schuh hoch und auf den übernächsten Sitzplatz gestellt hat, eine für ihn bequeme Lage zum Telefonieren.

Auf der Bank neben ihm sitzt eine junge Frau, deren Alter ich auf etwa 40 Jahre schätze. Neben mir sitzt eine etwas ältere Frau, etwa 60 Jahre alt und neben ihr noch ein junger Mann, etwa 30 Jahre, nehme ich an. Die junge Frau ist in ihr Smartphone vertieft, aufgrund der Sichtbehinderung durch die ältere Frau kann ich nicht sehen, was der junge Mann macht, wahrscheinlich dasselbe. Die ältere Frau liest in ihrem Buch, es steigt auch ein Mann, etwa im Alter von 50 Jahren zu, setzt sich aber nicht, sondern steht in unmittelbarer Nähe dabei.

Ich fordere bestimmt, aber durchaus höflich, den Jungen auf, seinen Schuh von dem Sitz zu nehmen und begründe dies mit dem Argument, dass später sicher andere Menschen dort sitzen mögen und für diese es nicht angenehm sei, wenn zuvor Straßenschuhe dort gelagert haben. Ich wiederhole zwei Mal meine Appelle. Der Junge reagiert aber nicht. Nach meinem dritten Versuch, ihn anzusprechen, stellt er auch seinen weiteren Schuh auf den Sitz und zeigt mir seinen „Stinkefinger“, und zwar dies wiederholt. Wohlwissend, dass dies nichts bringen wird, aber sozusagen als Ausdruck meiner Hilflosigkeit werfe ich ihm schlechte Manieren vor. Der Junge reagiert aber auch darauf nicht mit einer Korrektur seiner Haltung. Nach drei weiteren Stationen steigt er dann aus.

Während ich ihn angesprochen habe, schaute ich mich schon um, die junge Frau grinste, starrte aber weiter in ihr Smartphone, hob den Blick nicht. Die Reaktion des jungen Mannes kann ich nicht feststellen, da er weiterhin von der älteren Frau verdeckt ist. Während meiner ganzen Ansprache hebt diese nicht den Blick aus ihrem Buch, der Mann mittleren Alters scheint nur körperlich anwesend zu sein. Keiner der Anwesenden im Abteil zeigte irgendeine Reaktion, was mich veranlasste, nachzufragen, ob denn keiner mitbekommen habe, um was ich mich hier bemühte und wie die Reaktion des Jungen ausfiel. Keine Reaktion…

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Krankheit

Krankheiten sind sehr populär. Sie erfahren eine große politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und private Beachtung, aber erstaunlicherweise ist damit nicht verbunden, dass Menschen Krankheiten als eine sehr persönliche Herausforderung begreifen und die Chance nutzen, sich mit diesen und der Wirkung auf ihren eigenen Körper auseinandersetzen.

Damit meine ich nicht nur die manifeste Erkrankung des Körpers an sich, sondern schon der Prozess, der zu einer Erkrankung führt, also die Lebensweise und unterlassene Prophylaxe durch bestimmte Maßnahmen. Für viele Menschen bedeutet Krankheit nur ein unvermeidbarer Zustand, dem sie ausgeliefert sind und dadurch zu entgehen hoffen, dass sie sich wieder anderen ausliefern, also Ärzten, Krankenhäusern und Wunderheilern. Dies alles in der Erwartung, dass der frühere scheinbar unbeschwerte Zustand wieder herbeigeführt werden kann. Um diesen Eindruck zu fördern, sorgt eine gigantische Gesundheitsindustrie dafür, dass diese Illusion beständig erhalten bleibt, denn Krankheit ist ein unverzichtbarer Wertschöpfungstreiber und je verfügbarer ein Mensch ist, umso vielfältiger ist es um die Möglichkeiten bestellt, seine Krankheit dauerhaft zu vermarkten.

Zwar werden eine gesunde Lebensweise, Sport und verschiedene weitere Maßnahmen prophylaktischer Krankheitsvermeidung immer wieder empfohlen, dies aber sicher wohlwissend, dass Appelle kaum Gehör finden, angesichts einer vollständig auf die Ich-Wohlbeförderung ausgerichteten allgemeinen Lebensanschauung, die dank aller Versprechen dafür sorgt, dass die Erwartungen so nicht versiegen und der Mensch lebenslang als Konsument zur Verfügung steht.

Daran wird sich auch nichts ändern, es sei denn, die wirtschaftliche Gesamtlage erfährt in der Folge klimatischer, politischer, pandemischer und auch kriegerischer Verschlimmerungen unserer objektiven Verhältnisse eine derartige Belastung, dass die Menschen sich den Verzicht auf eine auch persönliche Zuständigkeit in Fragen ihrer Gesundheit und Lebenserhaltung nicht mehr leisten könnten. Taucht der Versuch, den Menschen selbst in Verantwortung zu nehmen, gelegentlich schon in der öffentlichen Diskussion auf, so ist es erstaunlich, dass im Gegensatz zum abstrakten Allgemeindiskurs dann doch sehr persönliche Verbindungen zur eigenen körperlichen Wahrnehmung aufgebaut werden können.

Der Mensch ist lernfähig. Doch leider zeigt es sich, dass es bereits an der Ausbildung junger Menschen mangelt, die Notwendigkeit der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit des eigenen Körpers zu erfassen. Die Übernahme der persönlichen Verantwortung beim Konsumverhalten, wie Tabak, Alkohol und Fast Food würde zur Reduzierung von Krankheiten und zur Einsparung von Kosten führen. Krankheit ist kein nachhaltiges Geschäftsmodell und sollte dies angesichts der veränderten Erwartungshaltung an die Politik, die Wirtschaft und auch den einzelnen Menschen künftig nicht mehr sein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Leistung

Dass Leistung sich wieder lohnen müsse, ist einer in Tarifstreitigkeiten oft vernommener Appell an den Arbeitgeberpartner. Gemeint damit ist eine gerechte persönliche Kompensation für geleistete Arbeit.

Wie aber ist es um Leistung und deren Kompensation außerhalb des durch Arbeit und Wirtschaft geprägten Lebensraums bestellt? Schlecht, so ist jedenfalls mein Eindruck, denn es geht dabei oft nicht um eine vorhandene Leistung, die durch Entgelt kompensiert werden soll, sondern um die Förderung von Leistung an sich. Der Begriff Leistung wird in unserer Gesellschaft leider misstrauisch beäugt. Leistung scheint ein Privileg zu sein, Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit und zudem belastend für diejenigen, die sie erbringen sollen. Leistungsdruck und jede Form des Wettbewerbs an Kitas, Schulen und Universitäten werden als schädlich für Kinder und Heranwachsende gebrandmarkt. Statt Leistung wird schon das Bemühen um Ausbildung und zuweilen sogar die schiere Anwesenheit als ausreichend und anerkennungswert erachtet.

Wird man aber mit dieser oft pädagogisch begründeten Genügsamkeit den Erwartungen junger Menschen gerecht? Ich glaube das nicht. Menschen sind von Geburt an bereit, Erwachsene zu werden und haben daher einen Anspruch auf ein Ausbildungsleben, dass das Ziel zur Gewissheit werden lässt. Weil zielführende Förderung von den Eltern, Erziehern und Lehrern erwartet wird, müssten sie von den Kindern und Heranwachsenden Leistungen fordern und diesen dabei einen Vergleichsmaßstab vermitteln.

Leistung und Konkurrenz sind Partner der Förderung, die diese erfahren müssen, um sich im Leben auszubilden und sich dem Druck, den Schule, Familie, soziale Medien und weitere Herausforderungen ausüben, gewachsen zu sehen. Sie sollten sich persönlich und gemeinschaftlich profilieren und dabei Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen. Das Erkennen eigener Fähigkeiten verleiht zudem die Möglichkeit, auch ein Scheitern als eine Form der Leistung anzusehen und dieses ehrgeizig und kraftvoll wieder zu überwinden. „Ich lerne für mein Leben gern!“ Die Leistungen junger Menschen sind anzuerkennen und nicht als nebensächlich zu relativieren. Wenn kein Maßstab für Leistungen geboten wird, ist es naheliegend, dass Heranwachsende selbst bestimmen, ob und mit welcher Intuition und welchen Zielen sie ihre Leistung erbringen.

Die Kraft und Möglichkeit, alles zu schaffen, werden sie haben. Ob sie diese Kraft aber tatsächlich in ihrem Interesse, im Interesse ihrer Eltern, ihrer Familie und der Gesellschaft insgesamt einsetzen, ist stets eine offene Frage, die von den Chancen und Möglichkeiten dieser Menschen, sich zu beweisen, abhängt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Weltbild

Das Leben der meisten Menschen, zumindest in Deutschland, ist von einem hohen Sicherheitsbedürfnis bestimmt. Da jedem Menschen bewusst ist, dass ein Sicherheitsbedürfnis nur dann wirksam bedient werden kann, wenn die Allgemeinverbindlichkeit eines bestimmten Weltbildes erreicht wird, schaffen die Menschen Strukturen, innerhalb derer sich eine gemeinsame Sichtweise entwickeln und verfestigen soll. Ob das durch diese Sichtweise geschaffene Weltbild mit der Wirklichkeit kongruent ist, ist dabei offenbar weniger bedeutend als die Verbindlichkeit, die durch die gemeinsame Anschauung dieser Menschen begründet wird.

Das so gewonnene Weltbild grundsätzlich in Frage zu stellen, ist ausgeschlossen, abweichende Sichtweisen werden nur dann akzeptiert, wenn sie im Kern keiner Aufgabe des bisherigen Standpunktes, sondern nur dessen Bekräftigung dienen. Allerdings führt dies für den Fall, dass sich Weltbild und eine sich stets verändernde Wirklichkeit auch nicht mehr ansatzweise decken, dazu, dass sich Menschen nicht mehr in dieser Welt zurechtfinden.

Verschiebt sich der Fokus der Betrachtungsmöglichkeiten, mag der Einzelne noch Korrekturen für möglich erachten, innerhalb einer Gruppe fördern dagegen Anzeichen von tatsächlichen Veränderungen die Angst, wieder in den unsicheren Zustand vor der Festigung eines Weltbildes zurückzufallen. Wenn Weltbild und Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen, weil sich die Wirklichkeit verändert, dann fördert dies zudem die Bereitschaft von Menschen, die Wirklichkeit entsprechend ihren Vorstellungen anders zu gestalten, ggf. unter Einsatz von politischer und physischer Gewalt.

Sollte dies eintreten, dann ist es naheliegend, dass die so neu geschaffene Wirklichkeit nunmehr wieder Projektionsfläche für ein Weltbild wird, das ebenfalls Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit bis zur nächsten durch Gruppeninteressen rückversicherten Sichtweise auf die Welt erhebt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schnäppchen

Wenn jemand einen Fisch verführerisch blinken sieht, wird er davon überzeugt sein, dass sich ihm ein Schnäppchen bietet. Er beißt zu und ist damit meist am Haken. Die Analogie zum menschlichen Verhalten ist gewollt. Ein Schnäppchen lohnt für uns den Einsatz. Risiken werden ausgeblendet. Risiken?

Schnäppchen werden landläufig eher mit Vorteilen gespiegelt. Schnäppchen bieten sich uns an, weil sie vermitteln, dass wir anbeißend besonders clever sind und der Ignorant besonders dusselig. Bei Schnäppchen geht es stets um uns zugemessene Vorteile. Es geht nicht darum, ob diese objektiv vorhanden sind, sondern um unsere Überzeugung. Um einem Schnäppchen öffentlich Wirkung zu verleihen, benötigt es die Anerkennung anderer Menschen. Sollten wir allerdings unsere Schnäppchenerfahrung mit anderen Menschen teilen, laufen wir Gefahr, dass Neid aufkommt oder wir dahingehend belehrt werden, dass wir leider einem Eigenschaftsirrtum aufgesessen seien, unser Schnäppchen nur ein vermeintliches sei.

Wird uns die Anerkennung des Schnäppchens schließlich gänzlich versagt, weil wir die erwartete Würdigung unserer Cleverness nicht erfahren, macht sich bei uns Unsicherheit und Misstrauen breit. Was wissen, was denken die Anderen? Wegen fehlender Anerkennung oder Gleichgültigkeit vergeht uns jeder Spaß. Unser Triumph wird durch Ernüchterung, Enttäuschung und Infragestellung erledigt. Der gerade noch vorhandene Schnäppchenjägerstolz erlischt.

Wem ist noch zu trauen? Es folgen Rückzug und Einsamkeit, Entwurzelung oder Schlimmeres. Genug, genug, gehen wir lieber weiter auf Schnäppchenjagd! Ja, wir optimieren unseren Einsatz, kaschieren, panaschieren, nutzen alle denkbaren legalen und halblegalen, vielleicht auch noch illegalen Möglichkeiten, unser Schnäppchen zu machen! Ist das nicht die sublimste Form der Nachhaltigkeit? Was schert denn den Pawlow´schen Hund bei so viel Selbstgewissheit noch die Anerkenntnis anderer, wenn er in der Lage ist, sich selbst zu belohnen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Verwandtschaft

Wenn von Fürstenhäusern die Rede ist, vernimmt man häufig Ausführungen zur Tradition und zum Stammbaum. Es wird ausführlich davon berichtet, wer sich mit wem eingelassen hat und welche Erwartungen die Öffentlichkeit an diese Verbindung knüpfen darf. Eine entsprechende mediale Aufmerksamkeit wird auch Genies geschenkt. Politiker und Sportler verweisen ebenfalls gern auf ihr Elternhaus mit dem Zusatz, dass sie es gerade deshalb oder auch trotzdem geschafft haben, ihre berufliche Stellung zu erringen.

Ansonsten nehmen die meisten Menschen ihre Verwandtschaft oft nur bei Familienfeiern wahr, entweder als lästig oder unumgänglich bzw. hilfreich. Eine tiefere Auseinandersetzung mit Verwandtschaft und Abstammung erfolgt in der Regel nicht und systematische Bearbeitung, wie es zur Tier- und Pflanzenwelt praktiziert wird, nur dann, wenn es darum geht, Menschen in einen gesellschaftlichen oder anthroposophischen Zusammenhang zu stellen. Detailfragen zur persönlichen Verwandtschaft werden oft nur im Zusammenhang mit Erbschaften geklärt und Geburts-, Heiratsurkunden, alte Briefe, Fotos, Taufbescheinigungen und Kirchenbuchauszüge selten genutzt, um sich eine Übersicht über die vielfältigen menschlichen, kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Verbindungen innerhalb der Familie zu verschaffen.

Warum ist die oft vernachlässigte Vergewisserung über Familie, Verwandtschaft und Abstammung eigentlich so wichtig? Ich meine, durch das Entdecken der vielfältigen Beziehungen, die uns verbinden, durch das Eintauchen in die Vergangenheit und das Aufdecken von Zusammenhängen kommen wir unserer eigenen Existenz näher und werden uns bewusst, was alles erforderlich war, um uns zu dem Menschen werden zu lassen, der wir heute sind.

Meines Erachtens schafft das Sicherheit und verlangt gleichzeitig Demut, denn bei der Erforschung sind uns unter Umständen nicht nur wunderbare Überraschungen gewiss.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Netzwerke

Die Bildung von Netzwerken entspricht – wie die Forderung nach Nachhaltigkeit – dem Zeitgeist. Der Fortschritt allgemein und speziell die Entwicklung eigener Vorhaben wird mit der Zugehörigkeit zu und ggf. der Schaffung von Netzwerken verbunden. Das ist sicher nicht falsch, denn schon früh wussten wir Menschen, dass wir nur gemeinsam stark sind. Davon lebt auch der Allmendegedanke. Aber, was zeichnet nun Netzwerke aus, was sollten sie beachten und wo lauern Gefahren?

Netzwerke bilden sich dadurch, dass Menschen einander kennenlernen und ihre Auffassungen und Tätigkeiten miteinander teilen. Eine auf der Hand liegende Gefahr ist dabei aber auch, dass die Handelnden in erster Linie zusammenfinden, um eine gemeinsame Meinung zu bilden und zu verbreiten. Geschieht dies, führt das so aktivierte Netzwerk über kurz oder lang zu einer Gleichrichtung der Meinungen, die im Netzwerk durch Kraft aufgeladen, zu einer Meinungsdiktatur führen könnte und damit zerstörend und verantwortungslos wirkt. Dies ist aber genau das Gegenteil dessen, was ein Netzwerk verspricht, und zwar einander in der Vielfältigkeit von Meinungen, Erfahrungen und Ansichten kennenzulernen und eine gemeinsame Idee, einen weiterführenden Gedanken zu entwickeln und fortzuschreiben, um so in der Lage zu sein, das Netzwerk zu bereichern.

Damit sich die Netzwerkteilnehmer wahrnehmen, ist es unerlässlich, dass sie einander zuhören, statt in erster Linie eigene Parolen und Meinungen zu verbreiten. Jeder sollte bedenken: „Was ich zu sagen habe oder sagen könnte, das kenne ich, was andere aber zu sagen haben, nicht.“ Wenn ich erwartungsoffen anderen Menschen zuhöre, werde ich in der Regel an Ideen und Erfahrungen reicher. Sollte ich aber auch etwas beizutragen haben, dann muss ich darauf achten, dass dies mit den Erkenntniserwartungen anderer Netzwerkteilnehmer korrespondiert, d. h. dass ich empfängerorientiert rede. Dabei ist jedes Offensichtliche zu vermeiden, denn dies interessiert niemanden. Es ist nur Geduld und Höflichkeit, die ein solches Verhalten hinnehmbar erscheinen lassen.

Was ich sage, kann für andere wichtig sein, aber nicht unbedingt. Es ist allerdings für mich selbst stets wichtig, etwas Neues, mir bisher Unbekanntes zu erfahren, es ist wertvoll, und zwar selbst dann, wenn ich augenblicklich den Nutzen noch nicht richtig einordnen kann. Aufgeschlossenheit und Verständnis für die Ansichten anderer und deren Handeln schafft Verbindungen und leistet die Voraussetzung für etwaige gemeinsame Projekte, die in oder aufgrund eines Netzwerkes entstehen könnten.

Dies geschieht nicht zwangsläufig, sondern hängt von der Aufnahmefähigkeit und dem beharrlichen Willen aller Beteiligten ab, etwas zu gestalten, ihre Fähigkeiten kooperativ zu optimieren und beharrlich dabei zu sein, also prozessual nicht nachzulassen im Gestalten und Handeln und dabei zu bedenken, dass das Leben eine lange, wunderbare Veranstaltung ist, die allen Teilnehmern von Netzwerken alle Chancen und Möglichkeiten bietet, Vorhaben zu verwirklichen, wenn der Wille bleibt, sich tatsächlich einzubringen und dabei im Auge zu behalten, dass wir alles gemeinsam friedlicher und besser von Menschen für Menschen, für die Natur, die Tiere und schließlich die Umwelt machen sollten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Paradigmenwechsel

1961 rief John F. Kennedy seine amerikanischen Landsleute auf, nicht zu fragen, was ihr Land für sie tun könne, sondern zu prüfen, was sie für ihr Land tun können. Der Bundespräsident Roman Herzog forderte in seiner berühmten Adlon-Rede 1997, dass ein Ruck durch Deutschland gehen möge und er erwarte, dass sich sämtliche gesellschaftlichen Kräfte einschließlich der Politik in diese Richtung bewegen.

Diese Zitate haben viele Ansprachen garniert, aber eine gesellschaftliche Verinnerlichung ist bisher nicht erkennbar. Das ist bei einer Vorteilsgesellschaft, die stark davon geprägt ist, Ansprüche zu stellen und auch zu realisieren, um die eigene Existenz zu sichern und auszubauen, auch nicht passend. Es sollte aber bedacht werden, dass sich Gesellschaften weiterentwickeln und bisherige Gesellschaftsmodelle entweder versagen oder ausgedient haben können.

Die gängigen Lebensbewältigungsmethoden enthalten kein Fortschrittsversprechen. Bedenken wir, dass ein weit verbreitetes Anspruchsverhalten immer weitere Ansprüche generiert, die trotz eines hohen Sättigungsgrades an ertrotzten Zuwendungen nicht zur Befriedigung der Anspruchsteller führen wird. Sollten wir in der Lage sein, dies zu erkennen, wäre ein Paradigmenwechsel dahingehend angezeigt, dass wir das „Geben“ statt des „Nehmens“ als gerecht empfinden, und diese Erkenntnis als Rechtsgewährungspflicht ohne Rücksicht auf jegliche Anspruchsstellung ausformulieren.

Da sich im Nehmen, wie im Geben alle Menschen gleich sein könnten, würde die Änderung der Sichtweise viele neue Möglichkeiten eröffnen, die sich nicht in der Reaktion auf Anspruchsstellungen erschöpfen würde. Im privaten Bereich könnten z. B. erbrechtliche Zuwendungen unter dem Blickwinkel der Notwendigkeit einer Absicherung der Nachkommen neu bedacht werden. Früher durchaus geläufige Allmende-Erfahrungen könnten wiederbelebt und strukturell neu genutzt werden. Das Streben nach eigenen Vorteilen könnte einer günstigeren Erfahrung des gemeinsamen Gewinns unter Einsatz aller dazu zur Verfügung stehenden Ressourcen Platz machen.

Die Organisationsformen, seien diese Stiftungen, Genossenschaften oder Gesellschaften mit gebundenem Vermögen, stehen zur Verfügung. Sie könnten nicht nur in einem Land, sondern grenzüberschreitend entwickelt werden und über den kommunalen bis in den persönlichen Bereich hinein wirken. Es könnten die Instrumente für ein generationenübergreifendes Miteinander im Wohnquartierbereich bis hin zur Generationenbank auf eine sehr praktische Art und Weise umgesetzt werden.

Die Vorteile für ein nachhaltiges Wirtschaften im Interesse der Menschen, der Tiere, der Natur allgemein, zur Lebensverbesserung und zum Klimaschutz liegen auf der Hand. Diese Verhaltensweise ist im Gegensatz zu fast allen bekannten bisherigen Lebensverwirklichungsformen nicht mit Ideologien befrachtet, sondern speist ihre Rechtfertigung ausschließlich aus dem gleichberechtigten, pragmatischen Verhalten aller Teilnehmer bzw. Stakeholder. Wir können es uns erlauben, etwas für unser Land, für die Natur und andere Menschen zu tun. Wir haben die Kraft und die Fähigkeit dazu und können schließlich Freude daran haben. Möge der Ruck gelingen!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

ChatGPT

Seit etwa 10 Jahren schreibe ich beständig Blogbeiträge, von denen etwa drei bis fünf Ausführungen zu verschiedenen Themen monatlich ins Internet gestellt werden. Auf Kommentarfunktionen zu meinen Beiträgen habe ich verzichtet, lasse mir aber stets von meinem Administrator dieser Beiträge berichten, dass sie jährlich ca. 80.000 bis 130.000 „Klicks“ mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 2,2 Minuten erfahren.

Als ich davon erstmalig hörte, war ich sehr überrascht, denn nur einige Bekannte und Freunde haben mir erzählt, dass sie hin und wieder, zuweilen aber auch häufiger, meine Beiträge lesen, zumindest aber zur Kenntnis nehmen würden. Auch aus meiner Sicht darf man die Erwartungen nicht sehr hoch setzen, weil wir alle, also auch ich, von dem „Overflow“ an Informationen und Meinungen bereits ermüdet sind.

Nun erfahren meine Blogbeiträge eine für mich überraschende neue Dimension, und zwar durch ChatGPT. Ich muss mich mit der Vorstellung auseinandersetzen, dass das digitale Netzwerk und die Neuronen dieses Programms längst auch sämtliche Informationen meiner Blogbeiträge seit deren Beginn gescannt und mutmaßlich auch verarbeitet haben. Angesichts der unzähligen Blogs anderer Menschen und Informationen bei Twitter, Instagramm, Facebook usw. haben diese Informationen wieder den Wettbewerb mit anderen aufgenommen, um dann zu sehen, welche sich letztlich durchsetzen.

Ich stelle mir ein gigantisches neuronales Potpourri von Europa bis Neuseeland vor und ahne, dass ich, wie alle anderen Menschen, mit dieser Entwicklung etwas zu tun habe. Will ich das aber? Besteht nicht die Gefahr, dass aus meinen Behauptungen, die ich in meinen Beiträgen aufstelle, durch die Bearbeitung Gewissheiten werden? Kann es sein, dass ChatGPT eine gigantische „Umformungsmaschine“ ist, deren Sättigungsgrad nie erreicht sein wird und dabei gleichmütig alle Gedanken der Menschen zu einem eigenen Produkt macht, ganz egal, wer die Urheberschaft eigentlich für sich in Anspruch nehmen kann? Was sollte man der Maschine aber vorwerfen, wenn man sie dabei erwischt, dass sie Plagiate produziert, Ideen, Meinungen und sogar Tatsachen verfälscht?

Es geht dabei nicht nur um „Fakes“, sondern auch um Nuancen des Eindrucks von Stimmungen. Alles ist relevant, ob Kommata oder Doppelpunkte, Frage oder Ausrufezeichen! Es wäre ein Irrtum zu glauben, erst war die Sprache, dann war der Mensch. Die Aussage kann vor dem Gedanken nicht bestehen. Unter Einsatz von ChatGPT verändert sich nicht nur das Bibliothekswesen, sondern wir uns selbst. Wir sind im Begriff, den Schöpferstatus für all das, was wir einmal selbst geschaffen haben, zu verlieren und uns zum Handlanger der Maschine und von ihr abhängig zu machen.

Waren es damals Alexander der Große und Ptolemaios, die durch die Gegend zogen und Bücher für ihre Bibliothek in Alexandria raubten, um zu wissen, was die Menschen weltweit dachten und aufschrieben, so erfahren wir nun „ehrfurchtsvoll“ das Wortgemisch der Maschinen. Dem Zeitgeist ist nicht zu entgehen und bekanntermaßen schafft sich jede Zeit ihr eigenes Gewand.

Also sollte ich praktisch reagieren: Wenn ich bei ChatGPT meinen Namen eingebe, mit welchem Text muss ich rechnen? Wenn ich die Eingaben wiederhole, kann ich mit Varianten des Textes rechnen? Ich bedenke dabei, dass in Sekundenschnelle nun alle Texte entstehen könnten, für die ich mir in der Summe 10 Jahre Zeit gelassen habe.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski