Archiv der Kategorie: Gesellschaft

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen gesellschaftsrelevanten Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Zauberberg

Thomas Manns Bildungsroman kam mir in den Sinn, als mir von Patienten von einer Einrichtung berichtet wurde, die nicht in den luftigen Bergen der Schweiz liegt, sondern ohne Tageslicht im Keller der Charité. Dort werden keine Tuberkulose-Kranken versorgt, sondern der Versuch unternommen, sehr kranke Krebspatienten mit Hilfe von Strahlentherapien so zu behandeln, dass sie eine außerordentlich große Chance haben, wieder geheilt ins Leben zurückzukehren.

Auch, wenn der Aufenthalt der Patienten nur ambulant erfolgt und auf wenige Monate begrenzt ist, ist es doch offenbar so, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, die alle Teilnehmer in unverhoffter Weise zu einer Gemeinschaft auf Zeit werden lassen. Diese Gemeinschaft schließt Ärzte, Angehörige des Pflegepersonals und Verwaltungskräfte mit ein. Es entsteht durch Blickkontakte, allmählich auch durch sprachliche Kommunikation eine Vertrautheit, die persönliche Nachfragen zum Befinden, zu Urlaubsplänen und sonstigen privaten Vorkommnissen zulassen.

Zögerlich zwar, aber durch den längeren Aufenthalt ständig gesteigert, entsteht ein wechselseitiges Interesse, welches auch begünstigt, dass sich die Patienten ohne Vorbehalte den Ärzten und dem Pflegepersonal anvertrauen. Distanziertheit, Scham und jede Form des persönlichen Widerstandes schwinden allmählich. Es ist unwahrscheinlich, dass Patienten, die auf die Dauer von etwa drei Monaten stets werktäglich zur etwa gleichen Zeit diese Abteilung aufsuchen, sich zuvor schon einmal begegnet sind. Es treffen sich also sehr fremde Menschen, gezeichnet von der Anspannung einer beginnenden Therapie, die sich regelmäßig auf etwa 40 Bestrahlungen insgesamt u. a. mit hohem Energieeinsatz der extrem teuren, aber effektiven Geräte belaufen.

Jedem Neuankömmling ist seine Unsicherheit, Sorge vor dem, was passieren wird, anzumerken. Es bleibt die Skepsis gegenüber der richtigen Behandlungsart, die Angst vor der Wirkung auf die inneren Organe, bange Erwartungen, ob der beabsichtigte Erfolg sich später auch einstellen wird. Es sind jüngere und ältere Patienten dabei, sie kommen aus den unterschiedlichsten Familien und gingen bzw. gehen auch unterschiedlichsten Berufen nach, seien diese Polizisten, Staatssekretäre, Taxifahrer, Ärzte oder Anwälte. Einige sind auch schon Rentner oder Pensionäre.

Was alle Beteiligten vom ersten Tag des Betretens dieser Unterwelt an eint, ist die Unausweichlichkeit des täglichen Rituals im Interesse einer möglichen Genesung. Wenn jeder darum weiß, schwinden plötzlich alle Grenzen der Verständigung. Mit dem Grüßen fängt es an, dann folgt schnell der Übergang in ein vertrauliches Du. Woher man kommt, spielt bei der Art und Weise der Begegnung überhaupt keine Rolle mehr. Man lernt sich kennen, indem man sich über das tägliche Befinden auch in intimsten körperlichen Bereichen austauscht, über Erschöpfungen, Schmerzen und Missbehagen spricht.

Die Zeit, die man jeden Tag miteinander verbringen muss, wird so auch eine Zeit, die man miteinander verbringen will, weil jeder teilnehmende Patient Gesprächspartner findet, die ebenfalls Zeit und Muße haben werden, sich einander zu widmen. Es geht dabei nicht nur um Offensichtliches, Allgemeines, sondern vor allem auch um sehr persönliche durch Empfindungen gesteuerte Angelegenheiten.

Aus dem Kennenlernen entwickeln sich Kumpel- und Kameradschaften, zuweilen auch Freundschaften, die weit über die gemeinsamen Momente im Tiefgeschoss hinausgreifen. Die „Drei von der Tankstelle“ hießen zum Beispiel Patienten, die nicht nur anderen Betroffenen, sondern auch vielen Angehörigen der Station durch die Intensität ihrer morgendlichen gemeinsamen Gespräche aufgefallen waren und auch diese es sehr bedauerten, dass mit Beendigung der Therapie sich diese Gruppe zwangsläufig auflöste. Die „Drei von der Tankstelle“ sind aber weiterhin freundschaftlich miteinander verbunden, pflegen zudem ihre Kontakte auch zu den Angehörigen dieser Krebstherapiestation. Dem Einsatz der dort Beschäftigten im Interesse ihrer Gesundheit verdanken sie sehr viel.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gewaltherrschaft

Gewalt gegen Sachen, aber nicht gegen Menschen … So lauteten Parolen zu den Aktionen der „Rote Armee Fraktion“ (RAF), die Namen Gudrun Ensslin und Andreas Baader sind bekannt. Es ging ihnen zunächst vordergründig um die durch das „Kapital“ verursachten Missstände und Ungerechtigkeiten in dieser Welt, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland. Dagegen sei ein deutliches Zeichen zu setzen. So legten sie zum Beispiel in einem Frankfurter Warenhaus Feuer mit der Parole: „Burn Warehouse burn!“. Erstaunlich viele Bürger hatten für diese Aktion, wahrscheinlich wegen des eigenen schlechten Gewissens und weil sie nicht unmittelbar selbst davon betroffen waren, sogar Verständnis bzw. haben nicht verstanden, dass mit dieser Aktion eine Tür geöffnet wurde, die kaum mehr geschlossen werden konnte.

Die der ersten Aktion folgende Radikalisierung bis hin zu den schrecklichen Attentaten und Morden dürfte zumindest den älteren Menschen in unserem Land noch bekannt sein. All das, was schon gewesen ist, kommt mir in den Sinn, wenn ich heute Vertretern der „Letzten Generation“ bei Auftritten zum Beispiel in der Tagesschau „zuhöre“. Sie bedauern wortreich, dass durch ihre Aktionen die Freiheit von Menschen unter anderem im Straßen- und Flugverkehr erheblich beeinträchtigt würde, aber sie leider keine andere Möglichkeit sehen, als durch ihre Aktionen auf die katastrophalen Missstände in der Klimapolitik hinzuweisen.

Diese Art der Rechtfertigung fortschreitender Gewalt gegen Sachen, die sozusagen zwangsläufig auch Gewalt gegen Menschen mit umfassen könnte, wenn die Aktionen den gewünschten Erfolg nicht bringen und daher eine Radikalisierung unverzichtbar erscheint, entspricht bekannten Mustern. Spätestens dann, wenn Teilnehmer und Sympathisanten der „Letzten Generation“ zu Haftstrafen verurteilt werden, ist eine Enthemmung zu befürchten und die Gewalt könnte sich auch gegen Menschen, zunächst Polizisten, dann aber auch Politiker, Wirtschaftsführer und andere Menschen richten.

Derzeit gibt es noch bei Intellektuellen, wohlsituierten Bürgern und auch jungen Menschen viel Sympathie für das Vorgehen der „Letzten Generation“, aber was kommt dann, wenn zum Beispiel die schon jetzt bereits arg strapazierten roten Linien überschritten werden? Was geschieht, wenn überhaupt dieses Muster der Auseinandersetzung allgemein von Gruppen mit unterschiedlichen Interessen für die Durchsetzung ihrer Ziele adaptiert wird?

Eine sich selbst rechtfertigende Begründung für das eigene Handeln lässt sich immer finden. Durch die fortschreitende Belastung infolge der sich steigernden Aggressionen ist jedoch zu befürchten, dass unsere Gesellschaft selbst irgendwann in einen Erosionszustand gerät, die dann folgende Radikalisierung das Misstrauen schürt und gewalttätige Auseinandersetzungen viele Opfer schaffen werden. Die gesellschaftliche Auflösung geht mit der wirtschaftlichen und politischen Erosion einher.

Was können wir verhindern? Ist bei dieser Aussicht heute noch eine Einsicht möglich? Vielleicht! Wie bei der Bewältigung der Klimakatastrophe muss vorbeugend auch die gesellschaftliche, sich abzeichnende Katastrophe erkenntnisbereit besichtigt und konsequent mit allen gebotenen Mitteln behandelt werden.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Eskalation (Teil 2)

…Daraufhin spreche ich nochmals explizit die ältere Frau an, die dann doch kurz den Blick hebt und mich wissen lässt, sie sei derart in ihr Buch vertieft und im Übrigen seien ihre Enkel nicht so. Diese würden so etwas nicht machen. Der Mann mittleren Alters schweigt weiter und die junge Frau steigt an der nächsten Station noch immer grinsend ohne Wortbeitrag aus.

Ich stelle fest, dass keiner der im Abteil Anwesenden mir beigestanden hat und meinen Appell an den Jungen unterstützte. Mein Eindruck ist, dass die Menschen bereit sind, alles hinzunehmen, zumindest solange, sie durch das Verhalten anderer nicht unmittelbar selbst betroffen werden. Und wie schätze ich mein eigenes Verhalten ein?

Ich fühlte mich jedenfalls hilflos, etwas wütend und auch traurig. Was vermag ich denn wirklich? Kurz hatte ich erwogen, den „Flegel“ zu fotografieren. Aber, was wäre das für ein Quatsch geworden! Sicher noch ein weiteres Zeichen meiner Hilfslosigkeit und dabei hätte ich noch riskiert, dass er mich entweder auslacht oder mich schlimmstenfalls auch angreift und ich in eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm verwickelt werden würde.

Menschen, mit denen ich meine U-Bahn-Erfahrung dieses Tages teilte, rieten mir, künftig auf solche Ermahnungen zu verzichten, da sie eskalieren könnten. Hier halte ich, wie ich dies auch in meiner kurzen Ansprache an meine Mitreisenden im Abteil versucht hatte, damit dagegen, dass wir alle eine auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung haben, derartige Vorkommnisse zu verhindern, da Gewalt, Rüpelhaftigkeit, Zerstörung, Missachtung der Werte anderer nicht zur Regel werden dürfen.

Ich führte auch an, dass wir alle ohnehin schon unter der rapiden Zunahme der Rücksichtslosigkeit leiden würden. Tatsächlich kann ich diese Gleichgültigkeit gegenüber dem durch den Jungen gezeigten Verhalten nicht hinnehmen. Sie sind vergleichbar mit den Pöbeleinen, die überall an der Tagesordnung sind, der Rücksichtslosigkeit gegenüber älteren Menschen und auch Behinderten. Dabei ist zu bedenken, was es für mich selbst und auch andere Menschen bedeuten würde, wenn ich meine Missachtung und die damit verbundene Abwehrhaltung aufgeben würde? Ich stelle mir dabei vor, was geschehen würde, wenn statt der von mir beschriebenen Anwesenden im Zug drei Rechtsradikale zugestiegen wären, den Jungen gesehen, diesen entweder angebrüllt oder gleich versucht hätten, ihn gewaltsam von der Bank zu ziehen. Dies zumal dann, wenn sie erkannt hätten, dass er einen Migrationshintergrund hat.

Was ich beschreibe, ist nicht nur vorstellbar, sondern es geschieht tatsächlich. Was würde ich tun? Ich würde versuchen, dem Jungen zu helfen und mich bemühen, die Radikalen von ihm abzuhalten. Das ist allerdings auch risikoreich und gefährlich. Hätte ich dann die Unterstützung der anderen Mitreisenden erhalten? Ich fürchte nein.

Es wäre bestimmt alles so verlaufen, wie ich es schon beschrieben habe. Wenn wir es allerdings nicht schaffen, als Gemeinschaft zu lernen, solidarisch zu handeln, für die von uns geschaffenen Regeln und Ordnungen einzutreten, für Deeskalation zu sorgen, dann droht uns eine Zunahme der Gewalt in jeglicher nur denkbaren Art und Weise. Das müssen wir im Interesse unserer Enkelkinder, Kinder, anderen Menschen und uns selbst verhindern.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Eskalation (Teil 1)

In der U-Bahn sitzt mir ein Junge gegenüber. Er ist etwa 10 bis 11 Jahre alt. Aufgrund seiner äußeren Erscheinung nehme ich an, dass er einen migrantischen Familienhintergrund hat. Er beachtet mich nicht, telefoniert und spricht, so ist meine Wahrnehmung, ein sehr gutes Deutsch. Er hat sich aber so hingesetzt, dass er seinen linken Schuh hoch und auf den übernächsten Sitzplatz gestellt hat, eine für ihn bequeme Lage zum Telefonieren.

Auf der Bank neben ihm sitzt eine junge Frau, deren Alter ich auf etwa 40 Jahre schätze. Neben mir sitzt eine etwas ältere Frau, etwa 60 Jahre alt und neben ihr noch ein junger Mann, etwa 30 Jahre, nehme ich an. Die junge Frau ist in ihr Smartphone vertieft, aufgrund der Sichtbehinderung durch die ältere Frau kann ich nicht sehen, was der junge Mann macht, wahrscheinlich dasselbe. Die ältere Frau liest in ihrem Buch, es steigt auch ein Mann, etwa im Alter von 50 Jahren zu, setzt sich aber nicht, sondern steht in unmittelbarer Nähe dabei.

Ich fordere bestimmt, aber durchaus höflich, den Jungen auf, seinen Schuh von dem Sitz zu nehmen und begründe dies mit dem Argument, dass später sicher andere Menschen dort sitzen mögen und für diese es nicht angenehm sei, wenn zuvor Straßenschuhe dort gelagert haben. Ich wiederhole zwei Mal meine Appelle. Der Junge reagiert aber nicht. Nach meinem dritten Versuch, ihn anzusprechen, stellt er auch seinen weiteren Schuh auf den Sitz und zeigt mir seinen „Stinkefinger“, und zwar dies wiederholt. Wohlwissend, dass dies nichts bringen wird, aber sozusagen als Ausdruck meiner Hilflosigkeit werfe ich ihm schlechte Manieren vor. Der Junge reagiert aber auch darauf nicht mit einer Korrektur seiner Haltung. Nach drei weiteren Stationen steigt er dann aus.

Während ich ihn angesprochen habe, schaute ich mich schon um, die junge Frau grinste, starrte aber weiter in ihr Smartphone, hob den Blick nicht. Die Reaktion des jungen Mannes kann ich nicht feststellen, da er weiterhin von der älteren Frau verdeckt ist. Während meiner ganzen Ansprache hebt diese nicht den Blick aus ihrem Buch, der Mann mittleren Alters scheint nur körperlich anwesend zu sein. Keiner der Anwesenden im Abteil zeigte irgendeine Reaktion, was mich veranlasste, nachzufragen, ob denn keiner mitbekommen habe, um was ich mich hier bemühte und wie die Reaktion des Jungen ausfiel. Keine Reaktion…

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zeitenwende

Einmal als politisches Schlagwort im Kontext des Angriffs auf die Ukraine 2022, insbesondere durch den Kanzler Olaf Scholz in Szene gesetzt, schaffte der Begriff es sogar, als Wort des Jahres zu reüssieren und schließlich als eine allzeit und allseits taugliche Beschreibung eines Befundes nicht nur in die Sprache, sondern auch in die Köpfe vieler Menschen, und zwar auf Dauer, einzuziehen.

Der Begriff Zeitenwende wird also heute fast ebenso inflationär, wie der Begriff Nachhaltigkeit genannt. In beiden Fällen hat dies zur Folge, dass sich dieser an sich unbestimmte Begriff inhaltlich abnutzt, ohne zuvor substantiell brauchbar Inhalte oder Nutzen für uns Menschen zu produzieren. Doch was könnte Zeitenwende denn verkörpern?

Eine Ära die zu Ende geht oder ein Neubeginn? Welcher Beginn könnte im geschichtlichen Kontext dann damit gemeint sein? Ist denn nicht alles, was überhaupt geschieht, neu und entsteht als Folge von etwas bereits Vorhandenem? Den Eintritt welcher Umstände könnte man denn als Zeitenwende bezeichnen?

Ich würde sagen, zum Beispiel die Entstehung des Lebens auf diesem Planeten, das Auftauchen der ersten Menschen und die Übernahme wesentlicher Funktionen durch die künstliche bzw. treffender artifizielle Intelligenz. Möglicherweise leitete das Jahr „0“ unserer Zeitrechnung eine Wende ein, wie auch hoffentlich bald die Beendigung des hemmungslosen Ressourcenverbrauchs unserer Erde durch den Menschen.

Zeitenwende sind meines Erachtens Zukunft gestaltende Zeitzeichen und markieren unsere jeweiligen politischen und damit auch gesellschaftlichen Verhaltensweisen, die so gravierend sein müssen, dass sie auch auf die gegenwärtige und künftige Geschichte bleibenden Einfluss nehmen. Bei Kriegen, so fürchterlich sie auch sein mögen und schlimme globale Verwerfungen hervorrufen, vermag ich daher keinen Zeitwendencharakter zu erkennen.

Wir versuchen eher durch solche Zuweisungen Phänomene zu bändigen, die sich nicht wieder in die Flasche zurückbringen lassen, aus denen der Geist deshalb entwich, weil wir verhängnisvollerweise die Flasche öffneten und dafür jetzt nicht mehr verantwortlich sein wollen. Die von uns so bezeichneten Zeitenwenden sind aber keine Umstände, die unserem verantwortlichen Handeln entzogen sind. Sie werden uns nicht aufgedrängt, sondern wir gestalten sie selbst, teilweise nachhaltig verheerend.

Zeitenwende oder eher ewig menschlich?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Krankheit

Krankheiten sind sehr populär. Sie erfahren eine große politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und private Beachtung, aber erstaunlicherweise ist damit nicht verbunden, dass Menschen Krankheiten als eine sehr persönliche Herausforderung begreifen und die Chance nutzen, sich mit diesen und der Wirkung auf ihren eigenen Körper auseinandersetzen.

Damit meine ich nicht nur die manifeste Erkrankung des Körpers an sich, sondern schon der Prozess, der zu einer Erkrankung führt, also die Lebensweise und unterlassene Prophylaxe durch bestimmte Maßnahmen. Für viele Menschen bedeutet Krankheit nur ein unvermeidbarer Zustand, dem sie ausgeliefert sind und dadurch zu entgehen hoffen, dass sie sich wieder anderen ausliefern, also Ärzten, Krankenhäusern und Wunderheilern. Dies alles in der Erwartung, dass der frühere scheinbar unbeschwerte Zustand wieder herbeigeführt werden kann. Um diesen Eindruck zu fördern, sorgt eine gigantische Gesundheitsindustrie dafür, dass diese Illusion beständig erhalten bleibt, denn Krankheit ist ein unverzichtbarer Wertschöpfungstreiber und je verfügbarer ein Mensch ist, umso vielfältiger ist es um die Möglichkeiten bestellt, seine Krankheit dauerhaft zu vermarkten.

Zwar werden eine gesunde Lebensweise, Sport und verschiedene weitere Maßnahmen prophylaktischer Krankheitsvermeidung immer wieder empfohlen, dies aber sicher wohlwissend, dass Appelle kaum Gehör finden, angesichts einer vollständig auf die Ich-Wohlbeförderung ausgerichteten allgemeinen Lebensanschauung, die dank aller Versprechen dafür sorgt, dass die Erwartungen so nicht versiegen und der Mensch lebenslang als Konsument zur Verfügung steht.

Daran wird sich auch nichts ändern, es sei denn, die wirtschaftliche Gesamtlage erfährt in der Folge klimatischer, politischer, pandemischer und auch kriegerischer Verschlimmerungen unserer objektiven Verhältnisse eine derartige Belastung, dass die Menschen sich den Verzicht auf eine auch persönliche Zuständigkeit in Fragen ihrer Gesundheit und Lebenserhaltung nicht mehr leisten könnten. Taucht der Versuch, den Menschen selbst in Verantwortung zu nehmen, gelegentlich schon in der öffentlichen Diskussion auf, so ist es erstaunlich, dass im Gegensatz zum abstrakten Allgemeindiskurs dann doch sehr persönliche Verbindungen zur eigenen körperlichen Wahrnehmung aufgebaut werden können.

Der Mensch ist lernfähig. Doch leider zeigt es sich, dass es bereits an der Ausbildung junger Menschen mangelt, die Notwendigkeit der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit des eigenen Körpers zu erfassen. Die Übernahme der persönlichen Verantwortung beim Konsumverhalten, wie Tabak, Alkohol und Fast Food würde zur Reduzierung von Krankheiten und zur Einsparung von Kosten führen. Krankheit ist kein nachhaltiges Geschäftsmodell und sollte dies angesichts der veränderten Erwartungshaltung an die Politik, die Wirtschaft und auch den einzelnen Menschen künftig nicht mehr sein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Bilder

Es ist sicher nicht nur Instagram zu verdanken, dass wir diese Welt vorwiegend bildhaft begreifen. Durch Selfies versichern wir uns und anderen, dass wir vorhanden sind, teilhaben am großen Weltspektakel. Nicht Texte, sondern Bilder fluten die Smartphones insbesondere von Kindern und Jugendlichen. Die Pose ist Bildinhalt und muss den „Wischtest“ bestehen. Die Interaktion zwischen Bild und Betrachter ist entscheidend für die Beständigkeit im Konsum des bildhaft Dargestellten.

Auf der Konsumentenebene beanspruchen Bilder aber keine Ewigkeit. Sie vermitteln vielmehr zeitlich und örtlich Zustände, die mit jeder neuen Aufnahme wieder zur Disposition gestellt werden können. Die durch das Bild vermittelten Eindrücke sind niemals wahr, denn sie berücksichtigen keine Umstände, die außerhalb des Bildausschnittes liegen.

Woher wissen wir aber, dass selbst das, was wir vordergründig als Abbildung der Wirklichkeit begreifen, in Wahrheit nicht nur ein durch Manipulationen erzeugter Bildeindruck ist?

Das Bild ist eine Fiktion der Wirklichkeit, hat aber die Kraft, uns täglich nicht nur bei der optischen Wahrnehmung, sondern auch in unserem Handeln zu beeinflussen, selbst gar zu bestimmen. Zu dem Abbild einer konkret behaupteten Wirklichkeit, gesellt sich aber auch das Bild, dass zwar niemals behauptet, die Wirklichkeit zu kopieren, aber in seiner Ausdrucksstärke geeignet sein kann, uns einen Aspekt der Wirklichkeit aufzuzeigen, der unsererseits zwar mit Augen aufgenommen, aber nicht visuell verarbeitet werden kann.

Diese Bilder erzeugen Geschichten, die uns dabei unterstützen können, die Wirklichkeit zu begreifen und uns Möglichkeiten eröffnen, mehr zu erkennen, als ein Abbild dies jemals vermag.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Leistung

Dass Leistung sich wieder lohnen müsse, ist einer in Tarifstreitigkeiten oft vernommener Appell an den Arbeitgeberpartner. Gemeint damit ist eine gerechte persönliche Kompensation für geleistete Arbeit.

Wie aber ist es um Leistung und deren Kompensation außerhalb des durch Arbeit und Wirtschaft geprägten Lebensraums bestellt? Schlecht, so ist jedenfalls mein Eindruck, denn es geht dabei oft nicht um eine vorhandene Leistung, die durch Entgelt kompensiert werden soll, sondern um die Förderung von Leistung an sich. Der Begriff Leistung wird in unserer Gesellschaft leider misstrauisch beäugt. Leistung scheint ein Privileg zu sein, Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit und zudem belastend für diejenigen, die sie erbringen sollen. Leistungsdruck und jede Form des Wettbewerbs an Kitas, Schulen und Universitäten werden als schädlich für Kinder und Heranwachsende gebrandmarkt. Statt Leistung wird schon das Bemühen um Ausbildung und zuweilen sogar die schiere Anwesenheit als ausreichend und anerkennungswert erachtet.

Wird man aber mit dieser oft pädagogisch begründeten Genügsamkeit den Erwartungen junger Menschen gerecht? Ich glaube das nicht. Menschen sind von Geburt an bereit, Erwachsene zu werden und haben daher einen Anspruch auf ein Ausbildungsleben, dass das Ziel zur Gewissheit werden lässt. Weil zielführende Förderung von den Eltern, Erziehern und Lehrern erwartet wird, müssten sie von den Kindern und Heranwachsenden Leistungen fordern und diesen dabei einen Vergleichsmaßstab vermitteln.

Leistung und Konkurrenz sind Partner der Förderung, die diese erfahren müssen, um sich im Leben auszubilden und sich dem Druck, den Schule, Familie, soziale Medien und weitere Herausforderungen ausüben, gewachsen zu sehen. Sie sollten sich persönlich und gemeinschaftlich profilieren und dabei Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen. Das Erkennen eigener Fähigkeiten verleiht zudem die Möglichkeit, auch ein Scheitern als eine Form der Leistung anzusehen und dieses ehrgeizig und kraftvoll wieder zu überwinden. „Ich lerne für mein Leben gern!“ Die Leistungen junger Menschen sind anzuerkennen und nicht als nebensächlich zu relativieren. Wenn kein Maßstab für Leistungen geboten wird, ist es naheliegend, dass Heranwachsende selbst bestimmen, ob und mit welcher Intuition und welchen Zielen sie ihre Leistung erbringen.

Die Kraft und Möglichkeit, alles zu schaffen, werden sie haben. Ob sie diese Kraft aber tatsächlich in ihrem Interesse, im Interesse ihrer Eltern, ihrer Familie und der Gesellschaft insgesamt einsetzen, ist stets eine offene Frage, die von den Chancen und Möglichkeiten dieser Menschen, sich zu beweisen, abhängt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Weltbild

Das Leben der meisten Menschen, zumindest in Deutschland, ist von einem hohen Sicherheitsbedürfnis bestimmt. Da jedem Menschen bewusst ist, dass ein Sicherheitsbedürfnis nur dann wirksam bedient werden kann, wenn die Allgemeinverbindlichkeit eines bestimmten Weltbildes erreicht wird, schaffen die Menschen Strukturen, innerhalb derer sich eine gemeinsame Sichtweise entwickeln und verfestigen soll. Ob das durch diese Sichtweise geschaffene Weltbild mit der Wirklichkeit kongruent ist, ist dabei offenbar weniger bedeutend als die Verbindlichkeit, die durch die gemeinsame Anschauung dieser Menschen begründet wird.

Das so gewonnene Weltbild grundsätzlich in Frage zu stellen, ist ausgeschlossen, abweichende Sichtweisen werden nur dann akzeptiert, wenn sie im Kern keiner Aufgabe des bisherigen Standpunktes, sondern nur dessen Bekräftigung dienen. Allerdings führt dies für den Fall, dass sich Weltbild und eine sich stets verändernde Wirklichkeit auch nicht mehr ansatzweise decken, dazu, dass sich Menschen nicht mehr in dieser Welt zurechtfinden.

Verschiebt sich der Fokus der Betrachtungsmöglichkeiten, mag der Einzelne noch Korrekturen für möglich erachten, innerhalb einer Gruppe fördern dagegen Anzeichen von tatsächlichen Veränderungen die Angst, wieder in den unsicheren Zustand vor der Festigung eines Weltbildes zurückzufallen. Wenn Weltbild und Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen, weil sich die Wirklichkeit verändert, dann fördert dies zudem die Bereitschaft von Menschen, die Wirklichkeit entsprechend ihren Vorstellungen anders zu gestalten, ggf. unter Einsatz von politischer und physischer Gewalt.

Sollte dies eintreten, dann ist es naheliegend, dass die so neu geschaffene Wirklichkeit nunmehr wieder Projektionsfläche für ein Weltbild wird, das ebenfalls Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit bis zur nächsten durch Gruppeninteressen rückversicherten Sichtweise auf die Welt erhebt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wünsche

Einmal las ich, dass Wünsche das Rechnen gelernt hätten. Dieser zunächst völlig fremde Eindruck erschloss sich mir beim näheren Betrachten allerdings als zutreffend. Wünschende und diejenigen, die Wünsche erfüllen, begeben sich in einen Dialog, der Erwartungshaltung gegen Nutzen ausspielt. Wünschende vergnügen sich nicht damit, eine Erfüllung ihrer Wünsche als möglich erscheinen zu lassen, sondern versehen ihre Wünsche bereits mit berechenbaren Attributen.

Dadurch erleichtern sie einerseits deren Erfüllung, schaffen andererseits auch die potentielle Gefahr des Misstrauens, dem Wünschenden durch Versagungsrituale zu begegnen zu versuchen. Bei jeder Erfüllung eines Wunsches soll es möglichst darum gehen, diesem Prozess den Anschein der Freiwilligkeit zu geben, die in erkennbarem Widerspruch zum Wunsch selbst steht. Jeder Wunsch erwartet seine Befriedigung.

Nun wird natürlich nicht jeder Wunsch befriedigt, aber auch dieses Defizit ist kalkulierbar. Selbst nicht erfüllte Wünsche sind in der Lage, berechenbare Vorteile dem Wünschenden zu verschaffen, denn nur der Wünschende selbst weiß, wie auch der Adressat des Wunsches, auf welcher Ebene gerechnet wird. So kann auch der versagte Wunsch sich als besonders wertvoll erweisen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski