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Todesstunde

Mors certa – hora incerta. Alles Sterben ist menschlich. Dies ist eine Binsenweisheit, an der sich nicht nur Dichter, Philosophen und Überlebensstrategen abarbeiten, sondern, dies auch konkret jeder Mensch.

Wenn wir jung sind, sprechen wir, denken wir an die lange, sehr lange Zeit, die bis zu unserem Tode noch vor uns liegt. Der Tod ist nicht bedrohlich, er ist zwar als Zufall stets vorhanden, wird aber in der Regel nicht als eine konkrete Selbstgefährdung im Zusammenhang mit Alter und Körper angesehen. Und wie steht es mit alten Menschen? Da besteht auch Ungewissheit, gnädig soll der Tod schon sein, plötzlich ohne Fisimatenten, also ohne Krankheiten, lieber plötzlicher Hirntod als langes Siechtum.

Weil wir unseren Körper Zeit unseres Lebens allein auf der Funktionsebene kennen gelernt haben, misstrauen wir ihm, misstrauen uns, fremdeln mit allen Varianten der Erkrankung, machen ungern frühzeitig ahnende Bekanntschaften mit dem Tod vor seiner Endgültigkeit. Zur „richtigen“ Zeit soll er also dann schnell sein, schneller als unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Schmerzen und unser Widerstand. Um der Ungewissheit zu entgehen, stürzen wir uns ins „offene Messer“, fallen in Kriegen, wollen den Tod kontrollieren, anstatt ihm ausgeliefert zu sein. Im Krieg zählt der Heldentod, Hölderlin wünschte sich nach Vollendung seines Gedichts ebenfalls den Vollendungstod. Aber wenn er uns gar zur falschen Zeit überrascht, uns zappeln lässt, uns durch längere drohende Krankheiten begleitet, uns seine Allmacht zeigt, dann ist er uns unheimlich.

Aber, wie steht es mit unserer Bereitschaft, der Ankunft des ungewissen Todes willkommend zu begegnen? Schwierig! Alles ist „wir“, unser Leben, unser Körper, unser Tod. Der Tod kommt in der Regel nicht sensenschwiegend von irgendwoher, sondern hält sich seit unserer Geburt in jeder Zelle unseres Körpers bereits auf, ein seinsimmanenter Abschaltmechanismus, klar zum Leidwesen unseres Bewusstseins und auch unserer Mitbewohner, der Mikroben, die sich tagaus tagein bemühen, die vielfältige Mechanik unserer Zellen am Laufen zu halten.

Ob sie auch von unserem Tod überrascht werden? Wahrscheinlich ahnen sie dessen Kommen viel eher und sorgen dann nach Erhalt der Botschaft für die verbindliche Aufgabe unserer Körperlichkeit. Die Seele fliegt davon? Nun ja, was so alles in der Todesstunde noch geschieht, wer weiß, jeder Mensch bleibt danach wesentlich auf Dauer.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Vage Annahme

Da wir Axiome des Begreifens festlegen, ist auch das Begreifen selbst davon abhängig, welche Axiome wir gewählt haben. Haben wir etwas als absolut definiert, dann gilt es unserer unbefangenen Betrachtung als relativ verloren. Wäre es dagegen nicht absolut, dann wäre auch das, was es eigentlich festigen soll, also das Begreifen selbst, mit unterschiedlichen Konsequenzen befragbar. Legen wir überhaupt nichts fest, bleibt alles beim Entstehen und Zerlegen in einem Prozess der ständigen Erneuerung. Alles ist in einem Augenblick, im nächsten aber nicht.

Allerdings ist es auch nicht ganz, weil das Eine nur dadurch für einen Augenblick wahr sein kann, weil das Andere im selben Augenblick fragwürdig erscheint. Nichts ist endgültig, aber natürlich auch nicht relativ. Denn Letzteres würde bedeuten, dass wir eine wägende Position zu dem Prozess an sich einnehmen könnten. Relativ gesehen gibt es zwar unterschiedliche Zustände jeweils aus dem Blickwinkel des Betrachters. Wenn wir aber in dem Prozess selbst befangen sind, ist dieser selbst absolut mit all seinen Fragwürdigkeiten, die auf unseren Festlegungen beruhen. Betrachtend vermögen wir niemals die Sphäre der Erscheinungsdefinition zu verlassen. Dies gelänge uns aber dann, wenn wir selbst Teilhaber wären an dem zu beobachtenden Geschehen an sich. Da dies offenbar nicht möglich ist, gewähren wir uns selbst eine befreiende Perspektive dadurch, dass wir unsere Beobachtungen isolieren, betrachten und ins Ganze wieder zurückstellen. Nur so sind wir uns in unseren Beobachtungen verständlich, im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar.

Dies im Gegensatz zur benennungslosen Selbstfindung des Dinges an sich, welches sich ohne jegliche menschliche Perspektive zu definieren vermag. Somit ist nicht das Ding an sich, sondern unsere Erfahrbarkeit, unsere Wahrnehmungsfähigkeit das Problem. Entweder kann das Ding sich nicht mitteilen, weil es nicht ist oder so nicht ist, sich nicht mitteilen will, oder wir unfähig sind, geeignete Mitteilungen vom ihm zu erhalten.

Vielleicht haben wir keine Sensoren für Mitteilungen oder wir unterdrücken Informationen, weil wir sie nicht haben wollen. Vielleicht sind wir auch zu komplexen Aufnahmen nicht fähig oder auch nicht soweit, etwas außerhalb der definierten Mitteilung zu erfahren. Weiterhelfen könnte uns möglicherweise die Akzeptanz des Seins und des Nichtseins, und zwar nicht als definierte Pole von Existenz und Gegenexistenz, sondern als Offenheit gegenüber dem Prozess, dem nicht Fertigen. Hierbei sind zu benennen: die Ehrfurcht vor dem Wunder. Der Respekt vor dem Glauben. Die Einsicht in die Beschränktheit unserer Wahrnehmung. Die Sehnsucht nach dem Ganzen. Das Erstaunen über sämtliche Möglichkeiten, die den Menschen gegeben sind. Die Überwindung des Profanen. Durch eine bewusste Indifferenz gegenüber der gewöhnlichen Zeit und dem üblichen Raum könnte Trennendes wieder zusammengeführt werden. Dies könnte in jedem Augenblick ge- schehen, und zwar unter Ausnutzung aller Zwischenräume. Es ist da gewesen und kommt im selben Augenblick. Den Sternen zum Beispiel ist es völlig gleichgültig, ob sie 18 Millionen Lichtjahre entfernt sind. Sie sind indifferent gegenüber unseren Betrachtungen, d. h. dem was wir denken und fühlen. Sie tragen ihre Pläne in sich und bereiten sich strukturell, explosionsartig oder gemächlich auf die nächste in ihnen bereits angelegte Erfahrung vor.

Im Gegensatz zu ihrer vorbestimmten Verfassung sind sie uns aber nicht gleichgültig, weil wir uns von ihnen abhängig gemacht haben. Dies gilt für alle Dinge, Zeit und Raum. Wir haben sie benannt. Getan haben wir dies aufgrund unseres Sicherungsbedürfnisses gegenüber der extremen Gefährdung, der wir im Leben ausgesetzt sind. Hätten wir die Zuversicht der Sterne, wären wir unsterblich, weil wir völlig unberührt wären gegenüber sämtlichen Festlegungen. Wir dagegen wollen uns durch Bestimmungshoheit fremde Sterne und Planeten fernhalten. Wir haben uns daran gewöhnt, Dinge zu benennen und daraus unsere Existenz zu definieren. Würden wir etwas daran ändern, Zeit und Raum in Frage stellen, müssten wir mit anderen Augen sehen. Wir haben uns deshalb eine Zugangssperre implantiert. Würde der Hebel gegen unseren Willen umgelegt werden können, wäre alles sichtbar.

Die Metapher der aufzustoßenden Tür ist aber allgemein verbreitet und gültig. Das Unvermeidliche an dieser Aktion ist uns hinlänglich bekannt. Wir wissen auch, dass es schon passiert ist und unmittelbar bevorsteht. Wir kennen unsere Irrtümer, die Endgültigkeit einer falschen Entscheidung, die Zwangsläufigkeit unserer Rebellion, das Leid und das Selbstmitleid, das   damit verbunden ist.   Wir denunzieren Anderes als fremden Sinneswahn, um festzuhalten an konkreter Falschheit. Das Quäntchen Energie des Schöpfungsaktes ist zwar das Perpetuum unserer Existenz, wissen wollen wir das aber nicht. Wir merken zwar, dass diese aufgeklärte, aber weder gänzlich christlich noch esoterisch bestimmte Gesellschaft den Mythos nicht aufgeben kann, aber auch nicht will. So benennt z. B. der Gral das Wort, die Sache, die Seele und das Licht. Jenseits von Glauben und Zuversicht wäre es erkenntnistheoretisch zumindest auch zulässig, einmal in Erwägung zu ziehen, dass der Mensch mit seiner Betrachtung der Dinge nicht richtig liegt, sondern sich kein Haar auf dieser Welt krümmt ohne den Willen des Schöpfers aller Dinge.

Würde eine solche Betrachtung unsere materielle und geistige Sicherheit gefährden? Könnten wir uns unserer Errungenschaften nicht mehr so sicher sein? Welche Einflüsse hätte eine solche Realität, die wir ja in Wirklichkeit leugnen, auf unser Leben? Trügen wir mehr Verantwortung oder weniger? Dies könnte alles untersucht werden unter dem Aspekt selbstbestimmten Gestaltens unter Gottes Führerschaft. Der Gedanke wirkt unbehaglich, weil er uns zwingen könnte, etwas zu begreifen, was sich unserer gewohnten Definition entzieht.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski