Da das Grundlagengesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht Verfassung, sondern Grundgesetz genannt wird, wäre es unangemessen, die Krise des Grundgesetzes als eine Verfassungskrise zu beschreiben. Wieso das? Das Grundgesetz ist 1948 von fähigen Persönlichkeiten geschaffen worden, historische Erfahrungen wurden berücksichtigt und Perspektiven eröffnet, die im Zeitpunkt des Entstehens des Grundgesetzes noch kaum mit schneller Umsetzung rechnen durften. In diesem Sinne wurde das Grundgesetz als modern, komplex und integrativ bezeichnet. Und doch, da es Menschenwerk ist, haben dessen Auswirkungen auch dafür gesorgt, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinanderdriften können.
Das zeigt sich meines Erachtens deutlich darin, dass mit der Wiedervereinigung das Grundgesetz kurzerhand für die hinzugewonnenen Landesteile der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurde, ohne durch Einsetzung einer verfassungsgebenden Versammlung zu überprüfen, ob dieses Grundgesetz auch den Willen der neuen Bundesbürger abbildet. Dem Unbehagen und der Kritik daran begegneten die Verantwortlichen stets mit dem Hinweis, dass alles schnell gehen musste und die künftigen Bundesbürger des Ostens dieses Grundgesetz wollten oder es ihnen egal war, Hauptsache, sie profitierten nun auch vom gemeinsamen Staat und würden entschädigt für die vielen Jahre, die sie davor von der Bundesrepublik abgehängt waren.
Es hätte eine Aufholjagd des Ostens werden können, aber diese „Missachtung“ des Gedankens der Schaffung eines einheitlichen Verfassungsstaates führte in der Konsequenz auch dazu, dass die Bürger und ihre Betriebe sowie Einrichtungen des Ostens so behandelt wurden, als seien sie Besitzstände der vorhandenen Bundesrepublik. Die Rolle der Treuhand ist bekannt. Ihre fehlerhafte Einrichtung und teils gewissenlose Nutzung durch bestimmte Akteure führten dazu, dass Betriebe abgewickelt, ausgeplündert und stillgelegt wurden, statt einen vertretbaren Entwicklungsprozess einzuleiten, der es erlaubt hätte, Versäumnisse aufzuholen und vorhandene Entwicklungskräfte freizusetzen. Eine zwar in weitem Sinne nicht gelebte, aber gleichwohl per Staatsdoktrin verkündete Teilhaberschaft der DDR-Bürger an ihren Betrieben, spiegelte sich auch in einer Teilhaberschaft im öffentlichen Leben wider, deren Bodenständigkeit kurzerhand durch das Demokratiemodell der Bundesrepublik Deutschland abgelöst wurde.
Demokratien beruhen nun aber auf Verabredungen von Menschen, ihr Zusammenleben auf eine abgestimmte Art und Weise so zu ordnen, dass jeder Bürger auf die Interessen und Belange anderer Bürger bei der Ausübung seiner freiheitlichen Rechte Rücksicht nimmt. Dieser Aushandlungsprozess erfolgt in einer Verfassung als eine Manifestation des „Contract Sociale“, aus dem sich festgeschriebene und verbindliche Garantien für eine soziale Teilhaberschaft der Bürger ableiten lässt.
Diese rechtlich verbürgte Teilhaberschaft ist in der neu gefügten Bundesrepublik Deutschland nicht gewährleistet und führt in der Konsequenz zu einem Verhalten seiner Bürger, die darin eine Missachtung ihres fundamentalen Anspruchs auf Mitsprache sehen und Gelegenheit haben wollen, ihrem Gemeinschaftsverständnis nunmehr eine Stimme zu geben. Um die darin begründete Höhe des Grundgesetzes zu überwinden, wäre es erforderlich, das Versäumte nachzuholen, ein Verfassungskonvent zu berufen und über eine ausgehandelte Verfassung eine Abstimmung herbeizuführen. Geschieht dies nicht, droht eine Erosion unseres Staates.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski