Warum leben wir? Diese Frage wird von den meisten als so intim und überflüssig erachtet, dass ihnen die Beantwortung unpassend erscheint. Dies beruht darauf, dass die meisten Menschen glauben, dass sie deshalb auf der Welt seien, weil ihre Eltern sie gezeugt haben. Dieser Einsicht darf man sich nicht verschließen, weil sie die reale körperliche Erfahrung wiedergibt und nachhaltige Konsequenzen hat.
Wir leben, weil wir sind, nicht mehr und nicht weniger. Weil wir sind machen wir dann auch den Rest unseres Lebens was wir sind. Von der Schule bis ins Alter, bei Arbeit, Sex und Freizeit, betätigen wir uns auf einem ganz selbstverständlichen Terrain: unserem Sein. Nichtsdestotrotz kennen wir den Grund unseres Seins nicht. Christen sagen – und andere Religionen vertreten die gleiche Auffassung – dass wir seien, weil wir von Gott gemacht worden wären, sein Ebenbild in uns trügen. Diese Selbstdarstellung des Menschen entspricht exakt der materialistischen und zwar, dass der Mensch da sei, weil er entweder genetisch oder von Gott gemacht worden sei.
Die Frage aber bleibt: Warum? Sollte die Natur so endlos einfältig sein, ohne Grund Menschen zu reproduzieren, damit sie Arbeit, Sex und Freizeit haben? Sollte Gott so zynisch sein, uns nach seinem Ebenbild zu gestalten, damit wir Arbeit, Sex und Freizeit haben? Wenn die Apotheose der menschlichen Existenz Hohn und Spott ist, müsste vorstehenden Gedanken nichts mehr hinzugefügt werden. Trägt sie in sich den Zweifel, müssten wir nach dem Sinn biologischer und göttlicher Verhaltensweise fragen. Alles hat seinen Grund. In dieser Überzeugung halten wir alle fest zusammen.
Wenn der Mensch diese Frage aus dem Blickwinkel seiner biologischen Existenz stellt, spekuliert er aufgrund seiner Erfahrung darauf, dass jeder genetische Prozess sich darin beschränkt, dass er lebt, um sich immer weiter zu entwickeln, zu einem hoch spezialisierten menschlichen Wundergerät, welches es nach Unterwerfung sämtlicher biologischer Ressourcen geschafft hat, an der Spitze nur jeder denkbaren und erfahrbaren Allmacht zu stehen. Das ist der Traum einer unendlichen biologischen Geschichte.
Apokalypse und Neuanfang aus den Trümmern perfekter biologischer Errungenschaften. Warum aber diese Anstrengung, wenn schlussendlich nichts anderes dabei herauskommt als das, womit alles begonnen hat? Der religiös orientierte Mensch vermutet hinter allem eine lenkende Kraft, traut dieser aber auch nicht mehr zu, als die materialistische Anschauung der Welt zulässt. Letztlich versinkt auch hier alles in der Apokalypse. Die Ausnahme ist nur: Die guten Menschen werden gerettet, nachdem sie von Gott geprüft worden sind. Sie kommen in den Himmel. Für viele Religionen scheint daher festzustehen, dass wir leben, um in den Himmel zu kommen. Wir müssen uns nur irgendwie richtig und anständig verhalten, in die Kirche gehen und die passende Religionszugehörigkeit aufweisen.
Wer glaubt, es sich so einfach machen zu können, ist ein Narr. Keine Kraft, die jenseits unserer Einsicht liegt, würde sich auf unsere Spielchen einlassen. Wenn wir meinen, wir seien das Ebenbild Gottes, versuchen wir uns eine Maske aufzusetzen, die unser sonderbares Treiben rechtfertigen soll. In meinen Kindertagen sah ich zur Faschingszeit ein Plakat aushängen: „Gott schaut hinter deine Maske“. Dieses Plakat halte ich insoweit für völlig töricht, als es den Karneval als heidnischen Brauch diskreditieren soll. Ehrlich ist diese Aussage gleichwohl. Wir können keiner wirklichen Kraft etwas vormachen, weder biologisch noch durch unsere Rituale und Verhaltensweisen, ob diese nun religiös bestimmt sind oder nicht. Wir leben, obwohl wir nicht wissen, warum. Wir leben, weil wir das Leben unablässig erforschen müssen, durch unsere Zweifel, unsere Skrupel, unsere Demut, unsere Beharrlichkeit, unseren Lebenswillen, unsere Stärke und unsere Nachsicht. Wir leben, weil wir etwas beweisen müssen. Wir müssen anderen und uns selbst beweisen, dass es nicht ausreicht, dass wir nur sind, sondern dass wir unser Leben gestalten müssen, jedoch nicht, um Gott zu gefallen oder weil wir seine Strenge fürchten.
Etwas zu tun, entspricht einerseits unserer biologischen Entwicklungsfähigkeit, andererseits lassen Gestaltungswille und Übernahme von Verantwortung erkennen, dass wir mit einer Kraft ausgestattet sind, die uns bei unserer Geburt anvertraut wurde und uns auch nach unserem Tode nicht verlässt. Die Prägbarkeit dieser Kraft gibt unserem Leben Individualität und Sinn. Nicht unserem Körper als biologisches Phänomen allein, sondern uns selbst als Trägern dieser Kraft sind wir verantwortlich. Das ist „des Pudels Kern“.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski