Beim Nachdenken über den Gehirntod kommt mir Erich-Marie Remarques Roman „Hunde, wollt ihr ewig leben“ in den Sinn. Der Körper ist unwesentlich, wird zeitlebens zerschlissen und schließlich auf dem Schlachtfeld zerfetzt. Was ist am Körper so wichtig, dass man ihn als Träger des Geistes bezeichnet? Was ist am Gehirn so einzigartig, dass man ihm die Entscheidungsmacht über unser Dasein zumisst. In jeder Körperzelle ist auch Gehirn. Überall können Köpfe wachsen, um zu denken.
Ich beschreibe dies in der Novelle „Befund!“ wie folgt: Dem armen Helden wächst bei seinem Irren über die Flure einer psychotherapeutischen Anstalt ein Kopf aus dem Bein, der selbständig zu denken beginnt und viel Verwirrung stiftet. Wer oder was muss hier tot werden, um unseren „Helden“ endgültig zu erledigen? Der matte alte Kopf, der keinen Ausweg mehr erkennt oder das denkende Beingehirn, das sich verselbstständigt hat? Was ich damit sagen will: Dem Gehirn wird als Substanz vielleicht zu viel Bedeutung beigemessen. Was juckt es das Gehirn als Denkorgan, wenn der Körper versagt und ihm Organe entnommen werden können. Als Körper aber durchaus, denn die Zufuhr an Traubenzucker und Sauerstoff wird unterbunden. Könnten wir beides stets gewährleisten, käme es also auf den Körper überhaupt nicht an. Das beschreibt aber nur das Körperliche des Vorgangs. Es erklärt nicht, was Geist ist und was Gehirn vermag. Was ist denn eigentlich Gehirn? Das Wesentliche? Und wenn es das Wesentliche ist, wird es dadurch beendet, dass Körper und Gehirn versagen?
Als ein naher Angehöriger starb, war sein Geist noch für ein paar Stunden im Raum. Auch ich habe es gefühlt und geahnt. Nähern wir uns dem Tod vom Leben her? Mich hat einmal ein Vortrag über die ägyptische Kultur überrascht, und dabei die Erkenntnis, dass man ihr nicht nur von Europa sondern auch von Afrika aus begegnen kann. Also: Wir haben einfach keinen Maßstab für eine abschließende Betrachtung unseres Gehirns entwickelt. Vom Tod her denkend könnte ich die Sinnhaftigkeit des Lebens besser einordnen und dem Gehirn eine ahnungsvolle Bedeutung zumessen. Das hat überhaupt nichts mit Spinnerei zu tun. Kann das menschliche Gehirn nicht ersetzt werden? Ist das Gehirn der spirituelle Nukleus unseres Seins? Metaphysisch tot, gibt es das überhaupt? Ist Wesen jemals tot? Ist Wesen jemals lebendig? Ist Wesen nicht überhaupt nur ein Zustand an sich und unserer armseligen Diskretion anvertraut?
Intensiv haben Geologen, Philosophen, Dichter und Mediziner sich mit allen Aspekten dieser und weitergehender Fragestellungen auseinandergesetzt. Dabei reißen sie Definieren, Geist, Seele und Leib auseinander, um sie dann wieder zusammenzuführen in dem Bestreben, nur nichts falsch zu machen, die Einheit der Anschauung zu bewahren. Das kann richtig sein, aber sind wir denn wirklich so wichtig? Ist es denn entscheidend für den Menschen, ob er gehirntot ist, wenn man ihm Organe entnimmt. Substantiell ja, aber vom Wesen her wohl eher nicht. Hat ein Körper Bedeutung, wenn das Gehirn physikalisch erledigt ist? Wohl eher doch, wenn man sich darauf verständigen könnte, dass jede Körperzelle ein Teil des Ganzen ist. Ich muss gestehen, dass ich Probleme mit meiner körperlichen Zerlegung von Todes wegen habe, dagegen nicht unter Lebenden. Wenn meine Angehörigen etwas benötigen sollten, zum Beispiel eine meiner Nieren, kein Problem für mich. Mit einer Niere kann ich weitermachen. Aber von Todes wegen bleibe ich, selbst, wenn das Gehirn nicht mehr in gewohnter Weise funktioniert, ein Ganzes.
Im metaphysischen Sinn gibt es wohl keine Gewissheiten, aber die Feststellung des Hirntodes durch einen Mediziner beruhigt die Familienangehörigen und Freunde. Jetzt kann man wirklich nichts mehr tun. Uns Menschen ist es besonders wichtig, nicht in der Schuld eines Toten zu stehen, wie natürlich auch der Tote möglichst keine ungeklärten Verhältnisse zurücklassen will. Die Menschen empfinden den Tod wohl als absurd, jedenfalls können sie ihm wenig abgewinnen. Ich dagegen meine, das Leben ist absurd, der Tod dagegen ein äußerst kreativer Akt der Purgation, lässt Neues zu und bietet vielen Menschen Gelegenheit, Geist und Seele ihrem „Schöpfer“ zur Musterung vorzulegen.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski