Archiv für den Monat: August 2015

Gehirntod

Beim Nachdenken über den Gehirntod kommt mir Erich-Marie Remarques Roman „Hunde, wollt ihr ewig leben“ in den Sinn. Der Körper ist unwesentlich, wird zeitlebens zerschlissen und schließlich auf dem Schlachtfeld zerfetzt. Was ist am Körper so wichtig, dass man ihn als Träger des Geistes bezeichnet? Was ist am Gehirn so einzigartig, dass man ihm die Entscheidungsmacht über unser Dasein zumisst. In jeder Körperzelle ist auch Gehirn. Überall können Köpfe wachsen, um zu denken.

Ich beschreibe dies in der Novelle „Befund!“ wie folgt: Dem armen Helden wächst bei seinem Irren über die Flure einer psychotherapeutischen Anstalt ein Kopf aus dem Bein, der selbständig zu denken beginnt und viel Verwirrung stiftet. Wer oder was muss hier tot werden, um unseren „Helden“ endgültig zu erledigen? Der matte alte Kopf, der keinen Ausweg mehr erkennt oder das denkende Beingehirn, das sich verselbstständigt hat? Was ich damit sagen will: Dem Gehirn wird als Substanz vielleicht zu viel Bedeutung beigemessen. Was juckt es das Gehirn als Denkorgan, wenn der Körper versagt und ihm Organe entnommen werden können. Als Körper aber durchaus, denn die Zufuhr an Traubenzucker und Sauerstoff wird unterbunden. Könnten wir beides stets gewährleisten, käme es also auf den Körper überhaupt nicht an. Das beschreibt aber nur das Körperliche des Vorgangs. Es erklärt nicht, was Geist ist und was Gehirn vermag. Was ist denn eigentlich Gehirn? Das Wesentliche? Und wenn es das Wesentliche ist, wird es dadurch beendet, dass Körper und Gehirn versagen?

Als ein naher Angehöriger starb, war sein Geist noch für ein paar Stunden im Raum. Auch ich habe es gefühlt und geahnt. Nähern wir uns dem Tod vom Leben her? Mich hat einmal ein Vortrag über die ägyptische Kultur überrascht, und dabei die Erkenntnis, dass man ihr nicht nur von Europa sondern auch von Afrika aus begegnen kann. Also: Wir haben einfach keinen Maßstab für eine abschließende Betrachtung unseres Gehirns entwickelt. Vom Tod her denkend könnte ich die Sinnhaftigkeit des Lebens besser einordnen und dem Gehirn eine ahnungsvolle Bedeutung zumessen. Das hat überhaupt nichts mit Spinnerei zu tun. Kann das menschliche Gehirn nicht ersetzt werden? Ist das Gehirn der spirituelle Nukleus unseres Seins? Metaphysisch tot, gibt es das überhaupt? Ist Wesen jemals tot? Ist Wesen jemals lebendig? Ist Wesen nicht überhaupt nur ein Zustand an sich und unserer armseligen Diskretion anvertraut?

Intensiv haben Geologen, Philosophen, Dichter und Mediziner sich mit allen Aspekten dieser und weitergehender Fragestellungen auseinandergesetzt. Dabei reißen sie Definieren, Geist, Seele und Leib auseinander, um sie dann wieder zusammenzuführen in dem Bestreben, nur nichts falsch zu machen, die Einheit der Anschauung zu bewahren. Das kann richtig sein, aber sind wir denn wirklich so wichtig? Ist es denn entscheidend für den Menschen, ob er gehirntot ist, wenn man ihm Organe entnimmt. Substantiell ja, aber vom Wesen her wohl eher nicht. Hat ein Körper Bedeutung, wenn das Gehirn physikalisch erledigt ist? Wohl eher doch, wenn man sich darauf verständigen könnte, dass jede Körperzelle ein Teil des Ganzen ist. Ich muss gestehen, dass ich Probleme mit meiner körperlichen Zerlegung von Todes wegen habe, dagegen nicht unter Lebenden. Wenn meine Angehörigen etwas benötigen sollten, zum Beispiel eine meiner Nieren, kein Problem für mich. Mit einer Niere kann ich weitermachen. Aber von Todes wegen bleibe ich, selbst, wenn das Gehirn nicht mehr in gewohnter Weise funktioniert, ein Ganzes.

Im metaphysischen Sinn gibt es wohl keine Gewissheiten, aber die Feststellung des Hirntodes durch einen Mediziner beruhigt die Familienangehörigen und Freunde. Jetzt kann man wirklich nichts mehr tun. Uns Menschen ist es besonders wichtig, nicht in der Schuld eines Toten zu stehen, wie natürlich auch der Tote möglichst keine ungeklärten Verhältnisse zurücklassen will. Die Menschen empfinden den Tod wohl als absurd, jedenfalls können sie ihm wenig abgewinnen. Ich dagegen meine, das Leben ist absurd, der Tod dagegen ein äußerst kreativer Akt der Purgation, lässt Neues zu und bietet vielen Menschen Gelegenheit, Geist und Seele ihrem „Schöpfer“ zur Musterung vorzulegen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Wahre Zeit

Immer wieder erfahre ich, dass Journalisten im Internet für ihre Beiträge gedemütigt, beleidigt und sogar mit dem Tode bedroht werden. Dass Letzteres sogar öfters, und zwar nicht nur in Paris, auch umgesetzt wurde, offenbart, dass Sprache noch immer eine Macht bedeutet, der offenbar mit anderen Mitteln als der Vernichtung des Urhebers nicht mehr beizukommen ist. Dass die Urheber dieser Maßnahmen damit ihre eigene Machtlosigkeit unter Beweis stellen, scheint eher noch zu radikalisieren.

Es trifft allerdings nicht nur Journalisten, sondern auch Blogbetreiber, Gelegenheitsschreiber, Schriftsteller, Professoren und Politiker. Kurzum: Jeder ist einmal dran oder kann dran sein, wenn er den Mund auf macht, sich äußert zu einem Thema, privat, beruflich oder gesellschaftlich. Insbesondere die sprachlichen Pfeile aus dem Hinterhalt kennt auch jede Dorfgemeinschaft. Man nennt das „tratschen“. Die eigene Einsicht oder Haltung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, maßgeblich ist es, den Prozess an sich in Gang zu bringen und sich durch Aggressivität zu profilieren.

Und dank Internet ist es leicht, Verbündete zu finden: Gemeinsam ist man stark, so jedenfalls der Glaube, bis der Frust einsetzt. Lohnt sich der Kampf, das Beleidigen und Beschimpfen derjenigen, die etwas schreiben oder sagen? Aus der Sicht derjenigen, die das tun, vielleicht. Folgende Geschichte: Eine Frau mittleren Alters sitzt jeden Tag am Fenster ihrer Parterrewohnung mit Blick auf eine viel befahrene Straße und mit Spiegeln links und rechts des Fensters. In diesen kann sie den Verkehr überblicken und alles aufzeichnen, was sich ereignet. Wer falsch oder zu lange parkt, beim Aus- und Einrangieren eines Fahrzeuges, ein anderes touchiert. Alles trägt sie mit Uhrzeit, Autokennzeichen und Vorkommnis in Stichworten in ein Buch ein, welches täglich anwächst und sie als Zeugin zum Beispiel wegen eines Verfahrens wegen Fahrerflucht in Betracht kommen lässt. Gleichermaßen werden in Zeitschriften, Zeitungen aber auch in Hörsälen Verstöße gegen angebliche Verletzungen von Objektivitäten, Gesetzen und sonstigen Wahrheiten gesucht und protokolliert. Das Protokoll setzt dann das Verfahren in Gang, in dem der Ermittler auch der Scharfrichter sein darf und das noch anonym. Welche Genugtuung. Um welche Wahrheit geht es allerdings, die da verletzt worden sein soll? Warum soll ich mir von anderen vorschreiben lassen, was ich lesen will oder zu lesen habe? Warum kann ich mir nicht fragwürdige Angebote textlich, visuell oder allein durch Hören unterbreiten lassen und auswählen, was mir zur Erfahrung genügt und was nicht? Die Wahrheit gibt es nicht. Es gibt auch nicht eine Wahrheit oder sogar eine halbe Wahrheit. Nichts ist wahr und es ist alles wahr. Alles, was mir zugetragen wird, sind Anregungen für meine eigenen Fähigkeiten, zu denken, zu fühlen und Entscheidungen zu treffen.

Daher bin ich jeder Zeitung, allen Medien und Professoren dankbar, dass sie sagen, was sie denken und fühlen. Mich bereichern viele Gedanken und Argumente. Die Autoren zu beleidigen und gar zu töten, ist auch ein schwerwiegender durch nichts zu rechtfertigender Eingriff in mein Leben als Adressat.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ändert Euch!

Bei der Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften, Stöbern im Internet und allen weiteren verfügbaren Medien gewinnt man leicht den Eindruck: Jetzt ist alles schon gesagt und kaum ein neuer wesentlicher Gedanke kann noch dazukommen. Gerade weil alle wichtigen Themen schon angesprochen sind, ist zuweilen die Aufforderung an andere Menschen, aber auch Institutionen und Staaten unüberhörbar: Ändert Euch, beansprucht weniger und gebt mehr. Das ist sicher im Kleinen genauso vernünftig wie im Großen. Nur die Summe der kleinen Schritte schafft das große Ganze. Solange die Verschwendung anhält, kann der Planet wohl kaum gerettet werden. Aber, wie kriegen wir den großen Wurf hin?

Meines Erachtens nur dann, wenn wir den Menschen Angebote machen, die ihren Interessen entsprechen. Hierfür sind wiederum Anreize nötig, die sowohl materieller als ideeller Natur sind. Wir haben ein außerordentlich verkümmertes soziales Anerkennungssystem. Diejenigen, die sich engagieren, zum Beispiel ehrenamtlich, werden eher milde belächelt, anstatt als das Herz unserer Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Wir machen Mülltrennung, weil wir dazu verpflichtet werden, aber nicht, weil diese Mühseligkeit belohnt wird. Vieles, was der Mensch leistet, wird als selbstverständlich betrachtet, allenfalls erfahren Politiker Schauspieler oder Sportler die höheren Weihen der Anerkennung. Dabei wäre es schon gut, die Vorbilder des Tages oder der Woche zu publizieren, damit sie durch diese Wahrnehmung eine Genugtuung erfahren, die ihnen meist in dieser Gesellschaft völlig versagt bleibt. Soziale Kälte? Ja schon, aber wer ruft den Menschen in diesem Land mit ständiger Begeisterung denn zu, dass das Leben eine lange wunderbare Veranstaltung ist, die jedem Menschen Gelegenheit gibt, zu erfahren, zu sehen, zu riechen, zu schmecken, überhaupt sich auszubilden, um dann am Ende irgendwann auf sein Leben zurückzuschauen und zu sagen: Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand und dieses Leben hat sich für mich gelohnt.

Der Mensch, der für seine Leistungen anerkannt wird, sowohl materiell als auch ideell, weiß, dass sich Leistung für ihn lohnt und diese Zuwendung nicht nur ein Wortbeitrag für irgendeine Medienstory ist.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Mehlpfote

Jeder von uns kennt das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein. Als der Wolf sicher war, dass die besorgte Mutter das Haus verlassen hatte, bestäubte er seine Pfote mit Mehl und behauptete gegenüber den im Haus verschanzten Geißenkin­der, er sei ihre Mutter und fraß sie auf, als sie öffneten.

„We love to entertain you“, so titelt ein großer Privatsender. Nicht nur im Me­dienbereich, sondern überall in der ganzen Warenwelt werden Menschen ähnliche Versprechungen gemacht. Irgendwie tut es uns gut, deren Stimme zu hören. Ein bisschen wollen wir es auch glauben. Jedenfalls erfahren wir durch Werbeankündi­gungen oft Trost, Wärme, Freundlichkeit, Geborgenheit, Schönheit, Abenteuer usw. usw. Das sind die Türöffner. Auch, wenn ein Rest Misstrauen bleibt, so sind wir doch derart besänftigt, dass wir die eigentliche Mechanik dieses Prozesse, d. h. die Botschaft, nicht verstehen bzw. auch nicht verstehen müssen, weil sie nicht so brutal verpackt ist. Die Botschaft lautet: Wir wollen euer Geld, wir wollen euch! Geld ist, so wissen wir, so erfahren wir es täglich, der wichtigste Teil des Menschseins. Wie Marx sagt: „Geld ist geronnene Arbeit.“ Etwas höchst persönli­ches, was ihm gehört, was er geschaffen hat, was er gespart hat, was ihm Möglich­keiten eröffnet. Derjenige, der vorgibt, uns zu unterhalten, will unser Geld. Er will uns verzehren, unsere Kraft, unsere Leistung, unser Vermögen nehmen, um sich zu stärken. Es ist ganz normal, weil es der Natur und dem Menschen entspricht: Er ist auf den Raubzug gegangen, hat seine mit Mehl bestäubte Pfote hingehalten, die Türe wurde geöffnet und der, der sich täuschen ließ, gefressen. Warum tut er das? Er tut es, um selbst stark und kräftig zu werden. Das liegt im System. Würde der Wolf seinen Hunger nicht stillen, müsste er hungern. Er würde sterben, ohne in die ewigen Jagdgründe einzugehen. So sterben Versager. Der Kapitalist will kein Versager sein und kämpft daher mit seinen Mitteln um die Beute. Sie wird ver­zehrt. Bemerkenswert ist, dass auch der Terrorismus auf einem kapitalistischen Prinzip beruht. Auch der Terro­rist gaukelt der Welt vor, es ginge um Befreiung, Gerechtigkeit, Spiritualität etc. So öffnet er Türen und verschlingt seine Opfer, um selbst stark zu werden und in die ewigen Jagdgründe der Seeligkeit einzugehen.

Gibt es Rettung? Der Wolf wird müde, er hat gefressen, er will ausruhen und wird überlistet. Mit Steinen gefüllt und in den Brunnen geworfen. Also: Der Kapitalis­mus überfrisst sich, wird träge und geht daran zugrunde. Der Terrorismus verendet an seiner Selbstbespiegelung. Um im Beispiel zu bleiben; der Wolf will sich im Wasser des Brunnen spiegeln. Aufgrund der Schwere verliert er das Gleichgewicht, stürzt ins Wasser und ertrinkt.

Kapitalismus und Terrorismus können mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden. Erfährt der Kapitalist, dass sein System der ständigen Ausbeute nicht funk­tioniert, weil er mehr verliert als er einnimmt, so wird er sich von diesem System schnell verabschieden. Z. B. könnte dem Kapitalisten abverlangt werden, dass er mehr Dividende auszahlt, als er einnimmt. Dann wäre der Kampf um „share holder value“ schnell erledigt. Hätte der Kapitalist keine Kunden mehr, wäre die Einsam­keit der Wölfe auch nicht mehr auszuhalten. Den Kapitalismus mit den eigenen Ködern fassen, hieße, ihn solange zu füttern, bis er platzt. Den Terrorismus mit den eigenen Waffen zu schlagen ist dann möglich, wenn das Opfer vor dem Täter nicht mehr zittert, sondern mit seinem eigenen Glauben erdrückt und dadurch dem Täter die Hoffnung auf das ewige Leben raubt.

Alle Beispiele und Mutmaßungen werden der Herausforderung mit ihrer ganzen Tragweite nicht gerecht. Ich will aber deutlich machen, dass die Fremdheit unterschiedlicher Lebensentwürfe nicht nur zwischen Religionen, sondern auch innerhalb unseres Wertesystems entscheidend dazu beitragen, dass ein Ausgleich zwischen unterschiedlichen Ansprüchen auf Selbstverwirklichung nicht mehr möglich erscheint.

In diesem Sinne bin ich mir in diesem Leben fremd. Ich will etwas bewahren, was ich nicht kenne, will etwas gestalten, was sich mir entzieht. Ich stehe mitten im Leben und bewege mich in der Gesellschaft. Es ist alles in Ordnung aber was ich vermisse ist der Erkenntniswille, der ernsthafte Versuch, selbst integer im Umgang miteinander zu sein und dadurch dem Kapitalisten und dem Terroristen eine Alternative zu bieten.

Wie steht es mit dem Terrorismus?

Auch gilt, dass darüber nachgedacht werden muss, den Terrorismus mit den eige­nen Waffen zu schlagen. Der, der Schrecken verbreitet, erfährt Schrecken, z. B. da­durch, dass er verhöhnt und lächerlich gemacht wird. Der Selbstmordattentäter als Witzfigur. Er wird exkommuniziert bzw. der geistliche Bannfluch gegen ihn ausge­spro­chen. Weiß er, dass er nicht mehr in den Himmel kommt, dann war das Op­fern umsonst. Wenn das Opfer vor dem Täter nicht mehr zittert, sondern ihn mit Glauben erdrückt und ihm dadurch die Hoffnung auf das ewige Leben raubt, dann verliert auch er die Lust zu sterben. Wenn er nicht sterben will, dann will er auch nicht mehr bomben. Welches Mittel letztendlich tauglich ist, kann niemand ohne Weite­res sagen. Wichtig ist allerdings, dass der Weg eingeschlagen wird, der aus dem In­neren des Prozesses führt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Täglich das Unmögliche tun

Nur, wer grenzenlos spinnt, ist in der Lage, das Resultat normativ zu ordnen. Diese Erkennt­nis drängte sich mir auf, als ich Anfang der 80er Jahre eine Ausstellung besuchte, die unter dem Motto stand „Täglich das Unmögliche tun“. Es wurden die Werke der Meister des Bauhauses u. a. Feininger, Schlemmer, Gropius präsentiert. „Spitze bleiben“ heißt, sich immer wieder neu finden und sogar zu er­finden, auf Entdeckungsreise gehen, neue Produkte zu entwickeln, von der Zukunft her den­ken und nicht rechthaberisch mit dem bereits erzielten unternehmerischen Erfolgen umgehen. Sind dies Binsenweisheiten?

Ja vielleicht. Es ist aber hilfreich, sich dies immer wieder vor Augen zu führen, sich zu spiegeln in den Möglichkeiten, die es auch noch gibt, die wir bisher aber nicht erprobt haben. Das war einer der Gründe, weshalb ich in Erinnerung an den Aus­stellungsbesuch Anfang der 80er Jahre und nach Aufnahme der bekannten Adlon-Rede un­sere Bundespräsidenten Roman Herzog – es soll ein Ruck durch Deutschland gehen – die Ruck – Stiftung des Aufbruchs gründete mit dem Ziel zu erfahren, welche Entwicklungen bei uns selbst durch Impulse ausgelöst werden können, auf die wir uns einlassen.

Es geht dabei nicht nur um die ganz großen Dinge, nein, sondern auch um die kleinen Möglichkeiten im Alltag, in der Familie und bei der Arbeit. Durch dieses Zulassen von Anregungen, Entwick­lungen durch Engagement entsteht Neues. Dabei spreche ich nicht von Projekten, sondern von Selbstverständlichkeiten und Produkten auch im philanthropischen Bereich.

Ehrbarer Kauf­mann, Social Responsibility, Good Governance, Complience. Alles dies sind Aufbruchsig­nale der Realwirtschaft mit dem Ziel, Verlässlichkeit zu schaffen, neue Erfahrungen zu schöp­fen und werteorientiert zu arbeiten, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein und dabei Gutes zu tun. Philanthropic Industries – ein Begriff, den ich geprägt habe – kommt bekanntlich von Industria und heißt so viel wie Fleiß und Betriebsamkeit.

Dies soll wegweisend sein für den gesamten philanthropischen Bereich, d. h. Produkte zu entwickeln, die wie in der Marktwirt­schaft ebenfalls Marktgeltung erlangen können, nachfrageorientiert und begehrenswert für andere Menschen sind. Es ist sinnvoll und zukunftszugewandt, dass wir auch unter diesem Gesichtspunkt die Energie-, Gesundheits- Pflege- und Betreuungsstrukturen analysieren, verändern und gekonnt ausbauen. Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten, die auf unsere Zuwendung angewiesen sind.

Einige haben wir im Rahmen der Ruck – Stiftung des Aufbruchs selbst be­nannt, andere werden bereits angedeutet, aber soweit ich sehe, noch nicht umgesetzt. Ich bin überzeugt davon, dass unter den jungen Unternehmern schon etliche Meister von Morgen sind, ihren Vor­habenplan für enthusiastische Maßnahmen im Tornister haben und nur darauf warten, dass sie uns zeigen können, was auch noch möglich ist. Viele wissen, dass das Leben eine wunderbare lange Veranstaltung ist, aber auch einmalig. Nutzen wir daher unsere Fähigkeiten, unsere Leidenschaft und unsere Erfahrungen, ob wir jung oder alt sind, das spielt dabei keine Rolle und nehmen wir uns wechselseitig mit auf unsere Streifzüge durch die Galaxien der Fantasien, um gemeinsam Neuland zu betreten, Gebiete, auf denen es nach einer Generation schon wieder selbstverständlich sein wird, dass wir sie in Besitz genommen haben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

FAZIT

Die Idee der Philanthropic Industries entspricht den Herausforderungen, denen sich unsere Gesellschaft aufgrund demografischer Entwicklungen, Änderungen der Produktions- und Arbeitsverhältnisse und der notwendigen Anpassung der Menschen an neue Lebensumstände ausgesetzt sieht.

Diese zukunftsgewandte Lebensbewältigungsform muss weiterentwickelt und konsolidiert werden. Sie ist nicht nur eine Organisationsform für neue Betätigungsmöglichkeiten des Bürgers in der Zivilgesellschaft, sondern nimmt entscheidend Einfluss auf seine Bereitschaft, ein neues marktfähiges aber auch integres Produkt in großer Betriebsamkeit und mit Fleiß zu schaffen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

RECHTSFORMEN PHILANTHROPISCHER UNTERNEHMEN

Philanthropische Unternehmen sind nicht vorgebildet in einem unangreifbaren Begriff der Selbstständigkeit, sondern formen sich im Dialog und in Kooperation mit den von den Menschen in dieser Gesellschaft geschaffenen Einrichtungen.

Verwirklichungsformen für philanthropische Einrichtungen sind heute in erster Linie als  Stiftungen   denkbar.   Stiftungen   verkörpern   die   Unantastbarkeit   des Vermögensstockes eines Unternehmens zu spekulativen Zwecken. So wenig wie der Stiftungsbegriff selbst geschützt ist, muss sich ein philanthropisches Unternehmen allerdings auf Dauer in der Gesellschaftsform einer Stiftung präsentieren. Andere gemeinnützige Unternehmen, wie gemeinnützige Gesellschaften mit  beschränkter Haftung,   Kommanditgesellschaften,   selbst Aktiengesellschaften sind denkbar, soweit die beteiligten Gesellschafter sich verabreden, die Unternehmensverfassung und die Ziele eines philanthropischen Unternehmens zur Richtschnur ihres Handelns zu machen. Es wird sich immer als klug erweisen, eine effiziente, an der Problemlösung orientierte gesellschaftliche Konstruktion zu wählen und dabei gerade nicht in den typischen Formen zu erstarren, sondern bedarfsorientiert flexibel zu handeln. Komplementär hierzu muss aber stets die Bestandskontrolle gelten, um dem Missbrauch der Unternehmenseinsatzform einen Riegel vorzuschieben.

Das Konzept der Philanthropic Industries beinhaltet einen Zukunftsentwurf gemeinnütziger Unternehmen, die ihre Stärke daraus erfahren, dass sie weder im Interesse Einzelner noch von Gruppen Leistungen abschöpfen, sondern sich einbringen, um die Leistungsfähigkeit von Unternehmen im Interesse der Menschen und ihrer Möglichkeiten zu erweitern, zukunftssicher zu machen und neue Anreize zu schaffen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Sprache

„Small is beautiful“ oder „less is beautiful“. Manchmal passen wohlmeinende Erkenntnisse nicht, insbesondere dann nicht, wenn es um die Sprache geht. Sicher hat die allgemeine Ermahnung „Reden ist Silber und Schweigen ist Gold“ ihren Charme, wenn man das unablässige Geplapper der Menschen bedenkt, das man zumindest zuweilen auch gern als „Sprachdurchfall“ bezeichnen könnte.

Wenn aber etwas gesagt sein muss, dann in einer Sprache, die das ausdrücken kann. Die Sprache hat viele Erscheinungsformen. Eine davon ist geprägt von Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, Politikern zum Beispiel, Teilnehmern an Talkshows und Moderatoren. Ihre Sprache soll nicht nur verständlich sein, sondern jederzeit abrufbar und widerspruchsfrei. Diese Sprache kennt wenig Worte und ist von Versatzstücken geprägt, die so oder so zusammengesetzt werden können und einen Sinn nur deshalb erzeugen, weil wir uns in diese Sprache eingehört haben. Die Vertrautheit mit dieser Sprache ist ihr eigentliches Geheimnis, nicht der Inhalt oder ihr Klang.

Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, benutzen eine Sprache, die aus Begriffen, aber wenigen Wörtern besteht, um sich unantastbar zu machen, sich nicht zu verfangen in Überlegungen, nicht hinweggetragen zu werden zur Sprachlosigkeit, wenn ein neuer, unerwarteter Gedanke aufscheint. Diese Sicherheit teilen sie mit dem Zuhörer, und zwar auch dann, wenn überhaupt nichts zu sagen ist. Diesem Sprachverhalten ist dasjenige von Podiumsdiskutanten sehr verwandt. Sie sind vorbereitet und können oft stichwortgenau – um welches Stichwort es sich hierbei handelt, ist völlig gleichgültig – können sie ihre Sätze beginnen und verstehen diese so zu formen, als hätten sie sich mit nichts intensiver auseinandergesetzt als gerade mit dieser Frage. Kein eigener Satz wirkt unvollendet, die Quelle des eigenen Sprachvermögens scheint unerschöpflich. Der Wettbewerb besteht im hohen Sprachanteil. Der ganze Raum wird erfüllt von Stichwörtern. Aber diese Sprache ist nicht komplex, reflexiv oder geöffnet. Es wird vor allem die Erwartungshaltung der Zuhörer bedient, auch wenn das Ergebnis der Reflexionen am Horizont verschwindet.

Es ist alles gesagt, aber noch nicht von mir. Die meisten Redner holen kaum Luft, um zu sprechen, getragen von der Angst, dass ihnen Andere ins Wort fallen könnten, dass etwas noch nicht gesagt worden sei. Doch wenn es um mehr geht als nur eine sichere Unterhaltung, kann dann die Sprache überhaupt noch Begleiter sein? Ein Gedanke entwickelt sich in seiner Komplexität, ist geprägt von Ratio, Emotionen, Erfahrungen und Einschätzungen. Die Letzteren können fragwürdig und nicht bis zum Ende gedacht sein. Wie vermitteln wir aber das Komplexe, das Offene, den für andere Menschen zugänglichen Gedanken?

Die Sprache müsste dabei eine Verabredung eingehen mit der Einstellung des Menschen. Diese Sprache würde Angebote unterbreiten, wäre vielfältig, beherbergte Worte und Begriffe aus dem gesamten Bereich des Möglichen. Diese Form des Spracheinsatzes würde nicht auf viele Worte und Begriffe der gleichen Art drängen, sondern auf wenige Worte unterschiedlichsten Ursprungs. Der seine Gedanken so verschickt, spricht nicht schnell, sondern überlegt, hat möglicherweise nicht sofort eine Antwort oder verzichtet vorläufig darauf, stellt selbst Fragen und sich selbst mit seinen Ansichten anderen zur Disposition und also infrage. Er bleibt dabei souverän, selbst beim Sprechen, unabhängig von der latenten Einschätzung, hält Pausen und ist sich immer dessen bewusst, dass er nicht alles weiß und damit auch nicht zu allem etwas zu sagen hat.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

KREDITE

Philanthropische Unternehmen sind wie andere Unternehmen darauf angewiesen, Rückstellungen zu bilden und für Investitionsvorhaben finanzielle Mittel zu akquirieren. Dies kann zum einen über Kooperationen und Joint-Venture-Projekte geschehen, andererseits muss, wenn die Ertragskraft des Unternehmens eine längerfristige Kapitalrückführung erwarten lässt, auch eine andere Form der Mittelbeschaffung auf dem Kapitalmarkt möglich sein. Der wesentliche Unterschied zu heutigen Wirtschaftsunternehmen besteht in der eigentlichen Unantastbarkeit des Kapitals und der Organisation der Kapitalrückführung aus den Erträgen bzw. Rücklagen. Um eine geeignete Form der Mittelbeschaffung zu organisieren, ist die Bereitschaft erforderlich, die Annuitäten von vornherein und zwar kon- junkturunabhängig so festzulegen, dass ihre Rückführung in jedem Fall gewährleistet ist.

Da bei philanthropischen Unternehmen spekulative Verhaltensweisen keine Rolle spielen, kann der Kapitalrücklauf bereits im Moment der Mittelbeschaffung eingeplant werden. Ein System des Transfers von Erträgen eines philanthropischen Unternehmens an das andere erlaubt es zudem, Überschüsse so   einzusetzen,   wie   sie   ad   hoc   erforderlich sind, d. h. die Finanzströme zusätzlich ganz neu zu strukturieren, z. B. dadurch, dass philanthropische Unternehmen statt Rückstellungen zu bilden, einen Teil ihrer Kapitalerträge in so genannten „Slots“ unterbringen, aus denen sie sich nach Bedarf wieder bedienen, soweit der Produktionsablauf dies erfordert. Eine Flexibilisierung der Geldbewegung („Floating“) würde es dem Unternehmen zudem erlauben, zukunftssicher und effizient zu operieren, ohne Verlust an Arbeitskraft und Zeit aufgrund umständlicher Finanzverhandlungen und finanzpolitischer Hürden, da der „Return of Money“ systemimmanent unbedingt gewollt ist.

Infolge der Gründung philanthropischer Unternehmen wird der Kapitalmarkt nicht aufgelöst, sondern im Gegenteil verwalten die Banken ein großes Treuhandvermögen, welches durch die auch heute für Stiftungen geltenden Regelungen im Wesentlichen zusammengehalten und neu formiert wird. Ein solches Verhalten ist ertragsfreundlich, weil das Kapital „arbeitet“; unter anderem durch Einsatz bei anderen philanthropischen Unternehmen und Vornahme von In- vestitionen in neue philanthropische Produkte auf einem sich verändernden, aber insoweit affinen Markt. Spekulative Erwartungshaltungen werden dabei schon deshalb nicht bedient, weil entsprechende Gewinnerwartungen aufgrund der Verlässlichkeit dieser kompensatorischen Handlungen ausscheiden.

Dies eröffnet auch einen völlig neuen Markt für Bürgschaften und andere Sicherungsmöglichkeiten privater und gesellschaftlicher Einrichtungen, da Wagnisse nicht auf fehlerhaften Spekulationen etwaiger Darlehensnehmer im philanthropischen Bereich beruhen.

Andererseits können Bürgschaften, Garantien oder Patronatserklärungen gerade den besonderen Einstandswillen desjenigen signalisieren, der bereits das Risiko des Scheiterns eines philanthropischen Projekts bewilligend eingegangen ist, aber persönlich wollte, dass es trotz des latenten Risikos durchgeführt wird.

Ein Risiko, welches nicht durch Spekulationen, sondern durch plötzlich auftretende Schwierigkeiten, Änderung von äußeren Bedingungen etc. entsteht, ist ein echtes, vertretbares Risiko des Fehlschlags bester Absichten. Ein wirklicher Verlust tritt deshalb selbst dann nicht ein, wenn Garantien in Anspruch genommen werden müssten. Der Einsatz hat sich dennoch gelohnt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

EIGENSCHAFTEN PHILANTHROPISCHER UNTERNEHMEN

Da philanthropische Unternehmen keine Eigenschaften aufweisen, die anderen wirtschaftlich orientierten Unternehmen widersprechen, wirken sie komplementär zu diesen. Philanthropie ist nicht beschränkt auf die klassischen Bereiche der idealistischen Dienstleistung, sondern im Wesen etwas anderes. Dieses andere drückt sich aus in einer Unternehmensverfassung, die nicht nur die Bereiche Wertschöpfung und Führung auf eine besondere Art und Weise kommentiert, sondern auch den Unternehmensgegenstand an sich beschreibt. Zum Produktionsablauf gehören alle diejenigen Eigenschaften, die erforderlich sind, um ein Produkt zu evaluieren, worunter u. a. zählt:

  • biologisch und energetisch wertvolle Nahrungsgewinnung,
  • fairer Handel,
  • ressourcenschonende Rohstoffgewinnung,
  • respektvoller Umgang mit anderen Menschen,
  • kreislauforientierte Wiederverwertung von Produkten,
  • bedarfsbemessene Beschaffung,
  • Kostenminimierung,
  • Rationalisierung, aber nicht auf Kosten von Produzenten,
  • Antidiskriminierung,
  • Verträglichkeit mit Menschen, Tieren und Pflanzen.

Diese Aufzählung ist beispielhaft und soll den Gegenstand der Tätigkeit in seinen signifikanten Erscheinungsmerkmalen ausformen. Philanthropische Unternehmen sind in allen Bereichen der Daseinsvorsorge denkbar, müssen sich allerdings dem Wettbewerb mit niedrigen Produktionskosten anderer Länder und renditeorientierten Dienstleistungsangeboten stellen. Auf mittlere Sicht werden sich aber die Produkte philanthropischer Unternehmen durchsetzen, denn sie weisen diejenigen Merkmale auf, die für die Aufrechterhaltung der menschlichen Gesellschaft wesentlich bestimmend sind. Letztlich wird sich jedes renditeorientierte auch global agierende Unternehmen der Einsicht nicht entziehen können, dass das Ziel produktiver Tätigkeit nicht die Abschaffung des Menschen und seiner Umwelt sein kann.

Philanthropische Einsichten müssen auch dort Maßstab für Ausbildung und eigenes Handeln sein, wo sie bisher nur eingeschränkt bekannt oder strukturell nur unzureichend gefestigt waren.

Das eigene integre Verhalten muss vertraglich verbriefter Anspruch an das Verhalten anderer sein; Verhalten, das den entsprechenden Kriterien nicht folgt, führt zwangsläufig zur Kündigung der Verabredungen und zum Anspruch auf Kompensation des durch Wortbruch entstandenen Schadens.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski