Archiv für den Monat: Mai 2016

Zumutung

Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. So einfach geht das. In der Theorie. In Wirklichkeit? Nicht. Wir kennen alle Rücksichtslosigkeiten im Straßenverkehr: Autos gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger und Fußgänger gegen andere Fußgänger. Nachbarschaftsstreitigkeiten wegen Lärm und Feuerschalen. Verwahrlosungen in Parks und Grünanlagen, Verschmutzungen in U- und S-Bahn, Fehlinformationen und Korruption.

Warum fügen wir anderen Leid zu, obwohl wir wissen, dass wir jederzeit mit dem Revanchefoul rechnen müssen? Es gibt hierfür viele Erklärungsmuster, unter anderem soziale Herkunft, frühkindliche Erfahrungen und altersbedingte Absicherung des Lebenswerks.

Denkbar ist allerdings auch, dass wir uns zuweilen gerne widerwärtig verhalten, insbesondere dann, wenn wir anonym zu sein scheinen, zum Beispiel am Steuer unseres Autos. Auch in der Anonymität der U- und S-Bahn können wir in einem mit Menschen überfüllten Abteil ungeniert in der Nase bohren, denn den davon Angewiderten werden wir wohl kaum wieder begegnen. Zunehmend ist zu beobachten, dass die soziale Kontrolle verschwindet und damit Gedankenlosigkeit bzw. Rücksichtslosigkeit Platz greift. Wer will das schon erleben, aber wenn keiner anfängt, sich zu ändern, wird sich auch nichts ändern. Jammern wir also weiter, das Leben ist ja ohnehin zu kurz, um etwas zu tun.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gotteskrieger

„Auf und macht das Banner Licht, ob das Wetter niederbricht, frisch hinausgeschritten, denn wir bleiben immer dar, Christi junge Kämpferschar, er in unserer Mitten…“ So sangen wir einst beim CVJM in Grünhemd und mit Koppel, während wir durch den Nachtwald marschierten, die Stellung einer Pfadfindergruppe überfielen, um deren Wimpel zu erbeuten. Wir waren mutig und stolz und hatten einen Anführer in heller Rüstung: Gottes Sohn Jesus Christus.

Wie der Oberbefehlshaber der jungen Christen Jesus sein muss, ist der Truppenführer der jungen Moslems Mohammed. Hier gibt es keine Unterschiede im Denken und Fühlen, sondern nur schmerzhafte Erfahrungen mit der Gewalt und im Handeln. Wenn es im eingangs zitierten Lied weiter heißt: „…wo wir sind, wo wir gestellt, wird den Herren aller Welt unser Lied gesungen…“ lassen die muslimischen Glaubenskämpfer Waffen sprechen.

Das ist ziemlich feige. Mit Waffen bringe ich andere Menschen nicht nur um, was ein immanenter Widerspruch zu jeder Missionarstätigkeit ist, sondern setze mich in Unrecht vor Gott. Menschen zu töten, ist Unrecht und führt in Verdammnis, ob vor Gott oder vorläufig unter den Menschen.

Natürlich sollen die Menschen untereinander streiten, um das, was sie für Wahrheit halten, mit Liedern, Gebeten und Offenbarungen auszudrücken. Die Wahrheit aber für sich zu reklamieren, ist anmaßend dreist, da diese bei einem wissenden Menschen, nie bei ihm selbst liegen kann. Der ihn durch Wort und Tat lästernde Mensch kann Gott nie begegnen und kommt auch sicherlich nicht ins Paradies. Ob er in die Hölle kommt, vielleicht. Aber das ist auch egal.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Rote Nasen

Im Winter bei klirrender Kälte holt man sich leicht eine rote Nase. Rote Nasen haben auch Zirkusclowns, während sie ihre Späße machen und Menschen zum Lachen bringen. Dies bedenkend, hat sich eine Rote-Nasen-Bewegung entwickelt, die kranken Kindern dabei hilft, ihren Zustand zu akzeptieren, aber sich auch durch ein Lachen über die Späße eines Clowns zu entlasten. Dieselbe Hilfe erfahren nun auch Flüchtlingskinder.

Professionelle Clowns bringen Flüchtlinge zum Lachen, sozusagen als Hilfestellung bei der Integration und entlastend nach all den erlittenen Furchtbarkeiten von Krieg und Vertreibung. Rote-Nasen-Clowns kosten aber Geld und die hierfür erforderlichen Spenden müssen aufgetrieben werden. Großspender sind eher die Ausnahme, deshalb werden junge Menschen, Schüler und Studenten zumeist, im Fundraising ausgebildet, um gegen eine Beteiligungsquote für sich selbst, Passanten auf der Straße dafür zu gewinnen, der Roten-Nasen-Organisation zu spenden, steuermindern versteht sich.

Die Fundraising-Rekruten, ob Rote Nasen, Greenpeace oder andere Organisationen bevölkern nun Straßen und Plätze, Rote Nasen leicht zu erkennen an den Roten Schaumstoffbällchen auf der Nase. Sie sehen einen, stürzen auf einen zu, gestikulieren wild mit den Armen und rufen zum Beispiel „Hallo, einmal stehenbleiben!“. Das Hallo bedeutet ganz offensichtlich, ich soll auf den Fundraiser aufmerksam werden. Die Infinitivform: „Einmal stehenbleiben!“ klingt da schon etwas nach einem Befehl und dem Hinweis, dass man als Nichtstehenbleiber auf jeden Fall einen Fehler macht. Sollte der so Angesprochene weitergehen, trägt er die ganze Last seines Versagens mit dem Nachruf: „Einen schönen Tag noch!“.

Aber, bevor es soweit kommt, vergehen weitere Sekunden, in deren Verlauf man erkennt, dass der Fundraiser, der ganz selbstverständlich die Situation beherrschen gedenkt, keinerlei Verständnis dafür aufbringt, dass man selbst entweder nur weitergehen möchte, beschleunigt ein Ziel ansteuert oder auch gar keine Lust hat, angesprochen zu werden. Wie weigert man sich aber? Vielleicht mit einem Nein, Kopfschütteln oder „Lass mich in Ruhe!“? Alles falsch. Es gibt kein Entrinnen, zumindest kein verbales. Manch auch halblaut hinterhergezischtes Wort hallt nach und vergällt dem Weitergehenden zumindest ein paar Minuten des Tages die Laune, wie: Arschloch, Geizhals, Spießer oder ….

Dabei denkt der eine oder andere gerade damit Bedachte daran, wie viel er ganz freiwillig für die ihm nahestehende Organisationen geleistet hat und auch künftig zu leisten bereit ist. Natürlich sieht ihm auch keiner an, dass er sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe oder in Sportvereinen oder in der Kirche beschäftigt. Schade. Aber die jungen Fundraiser sollten dies in Erwägung und bei ihrem Engagement weniger an sich und ihren Erfolg denken.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Freeze

Sich einfrieren zu lassen, um Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende später wieder aufzutauen, was für ein interessanter Gedanke. Menschen tun dies insbesondere dann, wenn sie an einer derzeit unheilbaren Krankheit leiden, aber davon ausgehen, dass es ein Wundermittel irgendwann geben wird, das ihrem Leiden ein Ende bereitet.

Woraus nährt sich diese Zuversicht? Angenommen, es gäbe diese Möglichkeit, wären dann die wieder aufgetauten Menschen nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen, würden seziert und malträtiert im Namen der Wissenschaft? Ein normales Leben, kaum denkbar!

Vielleicht ein Teil, das zu leben beginnt in einem anderen Körper, Gehirntransplantation in einen anderen Menschen oder in eine Maschine? Der Mensch kann doch nichts für seine Geburt. Es ist eine Laune der Natur, dass er geboren wurde. Es ist eine Laune der Natur, wann und wie er stirbt. Warum will der Mensch dieser Laune widerstehen und die Schöpfung in Frage stellen?

Der in einem Sarg eingefrorene Mensch verachtet die Geburt als Naturerlebnis oder spirituelle Sensation, sieht seinen Körper als hinderlich bei der Gestaltung des ewigen Lebens und mutet dem neuralen Flunkern seines Gehirns die gesamte objektive Wahrheit des Seins zu. Ist die Seele auch konservierbar? Hat der gefrorene Klumpen Gehirn ein Langzeitgedächtnis? Kann man Gefühle einfrieren und wieder auftauen? Erinnerungen? Gerüche? Nein, denn alles hat seine Zeit. Und solange du das nicht hast: dieses Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunkeln Erde … (Goethe).

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Selbstbespiegelung

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land. Seit „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ wissen wir um die Agonie einer Frau, die sich ständig selbstbespiegelt, um dann leidvoll festzustellen, dass jemand anderes doch schöner ist als sie.

Wie das Märchen, so auch die Wirklichkeit. Dem Blick in den Spiegel entspricht die ständige Überprüfung vieler Menschen tagaus tagein: Wie geht es mir, bin ich überlastet, bin ich krank oder übervorteilt man mich. Mütter hatten früher viele Kinder, einen Haushalt, einen Mann, den sie zu versorgen hatten, gingen zur Kirche, hatten Waschtag und machten 100 Gläser Obst ein. Sie beschwerten sich nicht und schauten nicht in den Spiegel, ob es vielleicht noch anderen besser ginge als ihnen selbst, sondern sie erledigten das, was sie als ihre Pflicht erachteten.

Die Zeit ist darüber hinweggegangen. Die Vergangenheit ist kein Maßstab mehr für die Gegenwart und Zukunft. Die typische Familie besteht aus Vater, Mutter, Kind. Die Mutter, vielleicht nicht verheiratet oder geschieden, aber berufstätig. Auch der Vater arbeitet und alle erklären, völlig gestresst zu sein von der Situation. Da es nicht ausreicht, sich selbst nur im Stillen zu bemitleiden, wird dieses Leid anderen per Facebook, Twitter oder Direktansprache mitgeteilt.

Aber nicht nur der Stress ist Gegenstand von permanenten Veröffentlichungen, sondern auch Events, Wünsche, Klamotten, Freunde, Feinde, Befürchtungen und Ängste. Schaut her, all das gehört zu mir. Spotlights on! Ich stehe mitten im Zirkus und um mich herum dreht sich die Welt. Ich habe keine Zeit dafür, mich um anderes zu kümmern, mein Beruf ist mir zu viel, mein Mann stresst und mein Kind eine Plage. Warum schreit es in der Nacht, wenn ich schlafen will? Warum hat es Fieber? Warum, warum, warum? Ich will meine Ruhe. Am Wochenende will ich mit Freunden doch einmal wieder richtig feiern! Also muss meine Mutter das Kind nehmen. Das ist doch nicht zu viel verlangt.

Nein, zu viel verlangt wäre es von den Menschen nicht, wenn sie erkennen müssten, dass sich nicht das ganze Leben um sie und ihre Befindlichkeiten dreht, sondern Gewissenhaftigkeit und Pflicht, Verzicht und Zuwendungen Tugenden sind, die eine Selbstbespiegelung überflüssig machen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Bürokratie

Einmal angenommen, sie haben eine gute Idee und wollen zum Beispiel mit Hilfe ihrer Stiftung den Pflegedienst für ältere Menschen organisieren oder Praktika an jugendliche Immigranten vermitteln. Was immer sie mit großem Enthusiasmus und Einsatz eigener Mittel auf den Weg bringen wollen, sie brauchen sicher einen langen Atem. Regeln, Vorschriften und bürokratische Anordnungen sind die Widerhaken auf dem Weg zum Erfolg. Das ist zwar lästig, teilweise absurd, aber normal, denn mit ihrem Engagement dringen sie ein in einen Raum, den die Bürokratie im Griff behalten will, denn wenn die Zivilgesellschaft wirkungsmächtig werden sollte, verliert diese ihren Einfluss.

Deshalb gibt es Zuwendungen des Staates oft nur in homöopathischen Dosen, und dies zudem nur widerwillig. Der Staat, der seine Bürokratie pflegt, begreift sich in einer Konkurrenzsituation zu seinem Dienstherrn, dem Bürger als Souverän. Diesen Kampf möchte er für sich entscheiden, eigene Vorhaben werden bevorzugt, so unsinnig diese sein mögen. Sie bestätigen dabei die Hilflosigkeit des Bürgers angesichts der Totalität des bürokratischen Apparates.

Dieser ist allerdings nicht nur im Ausgeben erfindungsreich, sondern auch im Vereinnahmen. Von einem kleinen Bespiel des Straßenverkehrs kann jeder berichten, zum Beispiel von kostenpflichtigen Verkehrsüberwachungsmaßnahmen an völlig absurden Stellen kurz vor Aufhebung des Tempolimits auf der Autobahn oder kurzfristig angesetzten unsinnigen Parkbeschränkungen. Jeder Bürger hat Beispiele bürokratischen Handelns aus seinem Alltagsleben parat. Also: Wir lassen uns nicht unterkriegen, auch nicht von unserem Staat und seinen Bürokraten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Geschäfte machen

Die Ökonomisierung der Welt – dem einen erscheint dies erschreckend, dem anderen zwangsläufig. Das Schlagwort wird oft mit Schulterzucken abgetan. Vor einiger Zeit noch gut dotierter Berater börsengelisteter Unternehmen, trägt sich ein mir bekannter Philosoph mit dem Gedanken, persönliche Insolvenz anzumelden. Dabei hat er nie über seine Verhältnisse gelebt, sondern seine Aufträge blieben plötzlich aus.

Nutzen geht vor Wert. Vielleicht etwas krass ausgedrückt, angesichts der allgemeinen Debatte, dass Werte doch erhalten werden müssten. Doch was wird unter diesen Werten verstanden: unsere christlichen Werte, die Grundzüge des zivilisatorischen Umgangs miteinander, die Erhaltung der Kultur im Allgemeinen? Würden diese Werte gänzlich schwinden, wäre es auch schlecht um die Ökonomie bestimmt.

Angesichts von Bürgerkriegen, Unruhen und allen denkbaren Formen der Selbstzerfleischung würden Grundzüge ökonomischen Handelns nur noch kurze Zeit bis zum endgültigen Stillstand funktionieren. Vielleicht muss es so sein. Dabei könnten wir umdenken. Ökonomie wird ihren Wirkungskreis nicht nachhaltig für unsere Gesellschaft ausbauen können ohne Philosophie Musik, Kunst, Sprache, soziale Verständigung, Ökologie und Lebensfreude.

Der Mensch selbst ist ein gesamtheitliches Wesen und steht für die Komplexität aller Lebensbetätigungsformen. Die Ökonomie ist nur eine davon und wird verkümmern ohne das umfassende gesellschaftliche Verständnis. Die Gesellschaft und der Einzelne, der stets nur darüber nachdenkt, was ein bestimmtes Verhalten ihm bringt, verkümmert geistig und seelisch, verwandelt sich peu á peu in einen ökonomischen Zombie. Jetzt ist es an der Zeit, sich weiterzuentwickeln und zu revitalisieren.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Plan B

Es gibt Dinge, die müssen erst reifen. Wenn man beharrlich dran bleibt, stellt sich der Erfolg irgendwann ein. Es gibt aber auch Dinge, die scheinen auf den ersten Blick mühelos zu gelingen, weil alles darauf hindeutet. Doch dann taucht unerwartet ein Hindernis auf, ein Missverständnis wird zum handfesten Problem, plötzlich werden die Verhandlungspartner ausgetauscht, die Geschäftsgrundlage radikal verändert oder eine Entscheidung auf lange Zeit verschoben.

Es ist also absehbar, dass das Projekt scheitert. Eine Katastrophe bahnt sich an, die sich in Unternehmen, aber auch in der Politik und der Gesellschaft ausbreiten und bleibenden Primär- und Sekundärschaden verursachen kann. Es sei denn, es gibt einen Plan B, der das Scheitern des Plan A schon voraussehend einkalkuliert hat. Das Vorhandensein eines Plans B hat viele Vorteile. Er verschafft Gelassenheit, wo sonst Irritation, Empörung, Fassungslosigkeit oder Aggressionen das Handeln bestimmen.

Der Plan B ersetzt nicht den Plan A, sondern leitet aus der jeweiligen Situation neue Handlungsoptionen ab, die die Fähigkeit des Planinhabers, auf jede Herausforderung zu reagieren, unter Beweis stellt. Das Vorhandensein eines Plan B wird dazu führen, dass diejenigen, die den Plan A zum Scheitern bringen wollten, nun erkennen, dass der Verhandlungspartner möglicherweise auch einen Plan B hat und alles versuchen, diesen zu verhindern und sich folglich doch noch auf die Bedingungen des Plans A einlassen. Statt Machtverschiebungen, Vertrauensverluste und Schäden wird vielleicht dann doch ein Ergebnis erzielt, mit dem alle Beteiligte gut leben können, weil sie sich durch konsequentes Handeln Respekt verschafft haben.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Bargeld

Hilfe, man nimmt uns das Geld weg – Geld in der Lohntüte als sichtbares Zeichen geronnener Arbeit. Von Ausnahmen abgesehen, wird Geld aber schon seit langem auf das Konto des Arbeiters oder Angestellten überwiesen. Die Banken sind verpflichtet, für jeden Bürger ein Bankkonto einzurichten, wenn er dies wünscht. Aber noch können wir alle unser Geld von der Bank abheben und die Scheine unter der Matratze verwahren, wenn wir dies bevorzugen. Damit soll es bald vorbei sein.

Kluge Menschen warnen vor dem Verlust der Freiheit und des Vertrauens, das wir uns wechselseitig durch den Geldverkehr bezeugen. Das ist sicher die eine Seite der Medaille. Die andere ist aber die schier unbegrenzte Möglichkeit des Schuldenmachens, die die virtuelle Welt des bargeldlosen Geldverkehrs ermöglicht.

Solange ich eine Transaktionskarte habe, kann ich handeln, wie ich will, kaufen, verkaufen, sparen, verschwenden. Verliere ich eine Karte, ersetze ich sie durch die nächste, denn auf die Höhe der Inanspruchnahme der Karte, das Ausmaß der Kreditierung kommt es künftig überhaupt nicht mehr an, sondern ausschließlich darauf, dass man es mir gestattet, über die Karte zu verfügen.

Dies kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen, weil ich arbeite, zum anderen, weil ich spekuliere oder von Algorithmen als wert befunden werde, weiter über eine Karte zu verfügen. Das Maß meiner virtuellen Verschuldung ist dabei nur der Gradmesser für die Möglichkeiten, die den Distributoren von Geldkarten zur Verfügung stehen, um mich zu disziplinieren.

Solange ich jung und arbeitsfähig bin, man mir ein Renditebewusstsein zutraut oder ich über Vermögen verfüge, ist dies völlig problemlos. Aber, wenn ich alt, kinderreich oder widerspenstig bin, dann ist die Karte weg. Unter dem Kopfkissen liegt leider auch kein Bargeld, das ich nehmen könnte, um abzuhauen, mein Glück woanders zu versuchen, eine Existenz neu aufzubauen. Vielleicht bekomme ich wieder eine Karte als Gnadenerweis oder ich begebe mich für den Rest meines Lebens mit leeren Taschen in die Abhängigkeit des Staates.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Europa

Europa versinkt im Chaos, löst sich auf. „Weh und ach“ schallt es aus den Mündern der Politiker und echot es in allen medialen Veröffentlichungen. Na und? Was soll das Geschwätz? Besinnen wir uns doch einen Moment darauf, was Europa ist. Dieser Kontinent ist die Heimstätte von Menschen, die hier leben. Man nennt sie Europäer. Da löst sich keineswegs etwas auf, weil Menschen nicht verschwinden.

Ja, zugegebenermaßen gibt es wirtschaftliche Verwerfungen, Endsolidarisierungen (furchtbares Wort!), Machtgehabe, Bevormundungen und Rücksichtslosigkeiten. Aber, so gebe ich zu bedenken, ist dies nicht immer so, ob in Klein- oder Großfamilien. Zoff gehört zum Lebensalltag, die großen Worte und die unsinnigen Taten.

Dennoch: Auch das Scheitern bietet Chancen, sich trennende Wege kreuzen sich wieder, wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. Irrtümer ziehen Einsichten nach sich, neue Herausforderungen führen zu neuen Lösungen, dies auch bei scheinbar unüberwindbaren Konflikten, denn die Geschichte zeigt, dass alle Gegner irgendwann ermatten oder erkennen, dass an unerwarteter Stelle Neues entsteht, sie dann aber nicht abseits sein wollen. Es ist immer an der Zeit, mit Gelassenheit Leitfäden zu entwerfen, Verabredungen zu treffen, eine Mediation einzuplanen, zu untersuchen, weshalb einzelne europäische Staaten so oder so handeln. Der Appell allein an Vernunft und Einsicht ist zwar wohlgemeint, aber nicht förderlich.

Ob in Einzel- oder Gruppengesprächen ist es stets dem gemeinsamen Anliegen förderlich, anderen vorbehaltlos zuzuhören und schon dadurch zu einer Entlastung beizutragen, Haltungen zu verstehen, auch wenn man sie selbst nicht teilt und Lösungsmöglichkeiten jedem zuzutrauen. All dies schon aus eigenem gesellschaftlichen und staatlichen Interesse heraus. Das ist eine europäische Haltung, die anstiftet.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski