Im September finden wieder Bundestageswahlen statt. Die Parteien fordern beständig dazu auf, wählen zu gehen. Es werden Wahlen analysiert und prognostiziert. Die Legitimität des französischen Präsidenten Macron wird dabei etwas in Zweifel gezogen, weil weniger als 50 % seine Partei „La République en Marche“ gewählt haben.
Wählen kann jeder, sobald er volljährig geworden ist. Das Kinderwahlrecht hat sich noch nicht durchgesetzt, jedenfalls nicht in allen Bereichen. Nicht wählen dürfen Ausländer, auch wenn sie schon immer hier gewohnt haben, aber solche, die Doppelstaatler sind. Die türkischen Deutschen helfen mehrheitlich Recep Tayyip Erdoğan beim Siegen in seinem Land. Wahlen sind keine Erfindung der Demokratie, sondern öffentlicher Ausdruck eines Verhaltens, das Legitimität verschaffen soll.
Der amerikanische Präsident Trump wurde gewählt, obwohl eine Mehrheit der amerikanischen Bürger nicht für ihn gestimmt hat. Das lag an dem sonderbaren US-Wahlsystem. Aber auch dort, wo es auf die absolute Anzahl der Stimmen ankommt, klafft zwischen Akzeptanz und Ablehnung nur ein zarter Spalt. Erdoğan hat mit gerade einmal 50 % der Wahlstimmen seine Verfassungsänderung durchgebracht.
Theresa May in Großbritannien wurde nicht gewählt, sondern gerade abgewählt. Und dennoch schafft sie es Dank Koalitionen, doch weiter zu regieren. Es kommt anscheinend also nicht darauf an, wie und wen man gewählt hat, sondern dass man gewählt hat. Dabei müssen aber die richtigen Gruppen gewählt haben, und zwar je nach Wahlprogramm und Anliegen der Bewerber.
Im Ergebnis ist es so, wie beim 11-Meter-Schießen im Fußball nach Verlängerung. Die siegreichere Mannschaft bleibt auf dem Platz, die andere geht. Was allerdings im Sport noch verschmerzbar ist, führt bei Abstimmungsverhalten im öffentlichen Raum leicht zu einer Fehleinschätzung des Wahlausgangs. Kandidaten, die ihre Absichten zur Wahl gestellt haben, gewinnen nicht etwa deshalb, weil sie die besseren auf dem Feld gewesen wären, sondern weil die Wähler erwarten, dass ihre Stimme Gewicht hat.
Gewicht sollte aber gerade auch die Stimme desjenigen Wählers haben, der sich entschieden hat, nicht zuzustimmen. Nicht gewählt zu haben oder die Stimme zu verweigern, ist eine programmatische Botschaft, die denjenigen, der mehrheitlich gewählt wurde, veranlassen sollte, das Anliegen des Verweigerers zu berücksichtigen. Anstatt Triumpfe auszukosten, sollten Trump und Erdoğan mit Bescheidenheit, Toleranz und Demut im Sinne ihrer Völker handeln und dabei auch auf die Stimme derjenigen achten, von denen sie gerade nicht gewählt wurden. Wahlen sind ohnehin nur Momentaufnahmen, gegenwärtig und nicht zukunftsorientiert. Alle diejenigen, die sich aufgrund von Wahlen ermächtigt sehen, für Andere zu handeln, sollten ihre Legitimitätsdefizite bedenken und darum ringen, auch ihre Nichtwähler und Gegner zu berücksichtigen.
In Deutschland sind wir diesen Vorstellungen schon sehr nahe. Wenn dann politischer Gleichklang und fehlende Opposition unter dem Gesichtspunkt der fehlenden politischen Gesamtvertretung behauptet wird, ist dies allerdings ein fehlerhaftes Wahlverständnis. Gerade dass man in Deutschland so schwerfällig und kompliziert um Alternativen ringen muss, macht deutlich, dass wir in einem der pluralistischsten, aber auch konsensfähigsten Staaten dieser Welt leben. Unsere Fähigkeit des gesellschaftlichen Ausgleichs macht uns einzigartig und erfolgreich. Weil wir es können, müssen wir die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen in unserer Gesellschaft schaffen, den Hunger dieser Welt angehen und unseren Beitrag zur Rettung des Planeten leisten. Wir haben nicht nur die Wahl, sondern die sich aus unserer Wahlmöglichkeit abzuleitende Verpflichtung.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski