Archiv für den Monat: Mai 2021

Rechtsbefolgungswillen

Recht erfährt erst dann seine Sachverhalte gestaltende Fähigkeit, wenn es von dem Adressaten als verbindlich angenommen wird, sich dieser also mit dem Rechtssetzenden verabredet, es zu beachten und umzusetzen.

Das setzt zunächst die Legitimität der rechtssetzenden Instanz voraus. Diese Legitimität ge­winnt sie durch einen Prozess der gesellschaftlichen Verabredung, die formal und inhaltlich eine verbindliche Grundlage im Prozess der Rechtsgewährung und seiner Annahmen schafft.

Als Mittler sind Parlamente, Regierungen, Präsidenten, Versammlungen, Bürgerbegehren und Gerichte berufen. Dies aber nur dann, wenn die Art und Weise der Rechtsgestaltung auch dem Judiz der potentiellen Anwender entspricht. Erst dieses begründet die Bereitschaft, nach einem inzident erfolgenden Überprüfungsverfahren, mit den eigenen Erwartungen und einen Plausi­bilitätscheck, das angebotene Recht auch dann zu akzeptieren, wenn sich Unschärfen herausstellen sollten.

Judiz bedeutet, dass Recht nicht nur persönlich als vernünftig wahrge­nommen wird, sondern zur kognitiven Erfassung auch das Rechtsempfinden sowohl individuell als auch kollektiv bedient werden kann. Das zwingt Rechtsgestalter stets zu einer schlüssigen Begründung, die mehr verlangt, als auf Tatsachen hinzuweisen oder auch eine etwa vorhandene Regelungsmacht auszuspielen.

Wird dieser Umstand, der unserer Selbstüberzeugungslogik entspricht, nicht beachtet, wird ein dissonanter Rechtsbefolgungszwang geschaffen und so statt einem selbstbewussten Rechtsbefolgungswillen eine persönliche sowie gesellschaftliche Schizophrenie hervorrufen. Dann ist zu erwarten, dass die Rechtsadressaten volatil auf jedes Gebot oder Verbot so reagieren, wie es eben die Machtverhältnisse erlauben. Durch die Erosion jeglicher Legitimität schiebt sich Opportunität an die Stelle des Rechts, bestimmt das Maß an gesellschaftlicher Verrohung und erodiert jegliche Bereitschaft, Geboten oder Verboten verantwortungsvoll zu entsprechen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Freiheit

Ein Schlachtruf, den ich in dieser Corona-Endzeitstimmung häufig auf der Straße vernehme, heißt: Freiheit! Dieser Ruf findet sein Echo in Aufrufen und Talkshow-Beiträgen. Dabei wird die Corona-Gefahr überhaupt nicht geleugnet, die eigene Einschätzung aber eingeleitet mit einem „aber auch“. Das „aber auch“ bezieht sich darauf, dass in einer Demokratie nicht nur Wissenschaftler den Ton angeben dürften und die vielen Toten auch kein Argument seien, um die noch Lebenden von einem Leben abzuhalten, was sie als das Normale begreifen. Die Freiheit des Menschen sei grundgesetzlich verbrieft und die Demokratie fordere, dass die Politiker diese Freiheit den Bürgern gewähren und sie nicht einsperren.

Richtig ist, dass das Politische auch in Krisenzeiten, wie der der Pandemie, nicht versagen darf, sondern zum Wohle der Bürger handeln muss. Ob die Regierung, also unsere gewählten Vertreter, hier alles richtiggemacht haben, wage ich zu bezweifeln. Andererseits bin ich in meiner Meinung nachsichtiger als viele andere, weil ich verstehen kann, wie schwierig es ist, mit einer Herausforderung umzugehen, die nicht nur in ihrer Dimension für uns ungewohnt war, sondern auch zum ersten Mal, Dank der Wissenschaft, uns Möglichkeiten der zügigen Bewältigung zur Verfügung standen.

Unverständlich ist für mich, dass die Regierung und die Länderchefs die Aufgabe allein meistern wollten, ohne alle gewählten Vertreter unseres Volkes mit einzubeziehen, d. h. das Politische frühzeitig zum Debattieren und Entscheiden in den Bundestag zu tragen.

Überhaupt nicht einverstanden bin ich zudem mit dem öffentlichen Wehklagen meiner Mitbürger über den Verlust ihrer Freiheit, da sie nun mal gerne in Konzerte, das Kino, in Restaurants und Fitnessclubs gehen würden. Ich bin nicht einverstanden damit, dass sie ihre persönliche Freiheit als ein einschränkungslos demokratisch verbrieftes Recht in dem Sinne ansehen, dass sie haben wollen und machen wollen, was ihnen angeblich zusteht und die Politik dafür zu sorgen habe, dass dies auch geschieht.

Ich wundere mich, dass nicht nur die Schwächeren unserer Gesellschaft dabei nicht mitbedacht werden, sondern dass sie die zwischen uns verabredeten Werte dieser Gesellschaft, also den Schutz anderer Menschen, nicht vor eigene Ansprüche stellen. Was heißt das? Es bedeutet, dass es in erster Linie darauf ankommt, dass ich persönlich andere Menschen vor jedem Unglück schütze und mich soweit zurücknehme, dass dies gewährleistet ist. Ein Mensch, der sich selbst mit seinen Freiheitsansprüchen im Vordergrund sieht, missachtet meines Erachtens Artikel 1 Grundgesetz, der nicht nur die Würdegarantie des Staates gegenüber seinen Bürgern und allen Menschen gewährleistet, sondern auch als Rechtsreflex von jedem Bürger und Menschen verlangt, dass er auch für die Würde seines Mitmenschen eintritt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gier

Eine Wahrnehmung möchte ich mit den Lesern teilen, wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich damit richtig liege. Ich jedenfalls bilde mir ein, feststellen zu können, dass Menschen, die bereits über ein hohes Einkommen oder auch ein beträchtliches Vermögen verfügen, sich gezwungen sehen, ihr Einkommen zu mehren und das Vermögen zu vervielfältigen. Da dies einer grundsätzlichen Haltung zu entspringen erscheint, spielt es dabei keine Rolle, ob es sich um jüngere Menschen oder schon sehr alte Menschen handelt.

Genetische Präpositionen kann ich mir dabei allerdings nicht vorstellen, denn diese Art der Vermögensmehrung, falls ich das richtig sehe, konnte sich in aller Intensität erst in relativ kurzer Zeit entwickeln. Es ist zu konstatieren, dass Sammeln und Horten ein Lebensprinzip ist, das nicht nur das eigene Überleben, sondern auch das der kommenden Generationen sichern kann. Könnte man also die These aufstellen, dem gierigen Menschen ginge es vor allem um seine Lebenssicherung?

Nach meiner Anschauung ist dies nicht der Fall. Denn die Gier wächst selbst dann, wenn alle versorgt sind und sogar vorgesorgt ist. Ob Nachkommen vorhanden sind, spielt auch eine eher untergeordnete Rolle. Was ist also Gier und was treibt Menschen, sich immer mehr Einkommen und Vermögen einzuverleiben, wenn keine Not besteht? Vielleicht beruht dieses Verhalten auf einer Fehlwahrnehmung der Wirklichkeit, vielleicht spielen Defizite eine Rolle, die ausgeglichen werden sollen, vielleicht ist es aber nur ein Spiel, eine Herausforderung der eigenen Möglichkeiten?

Ich weiß es nicht, kann diese Frage nicht beantworten und bin davon überzeugt, dass es nicht die eine Antwort gibt. Es gibt aber Regeln, an die man sich halten sollte: Frage einen Vermögenden nie um seine Unterstützung, sondern ermögliche ihm zu erkennen, dass bestimmte Unterstützungsleistungen für andere vor allem seinem Interesse entsprechen. Da Vermögende sehr oft wehleidig und empfindlich sind, begegne ihnen souverän und selbständig, damit sie erkennen, dass es nutzlos ist, beeindrucken zu wollen. Gier ist eine gesellschaftliche Belastung und eine Persönlichkeitsstörung, die ein Krankheitsbild aufweist und behandelt werden muss. Leider erfährt sie aber in Verkennung ihrer Störung weitgehend Respekt, manchmal sogar Bewunderung und löst nur Stillstand aus.

Hier wäre eine Thematisierung dieses Phänomens aber wichtig, um denen von der Gier Betroffenen eine Chance zu geben, in die Gemeinschaft zurückzufinden. Denn eines ist klar, hilfreich ist diese Haltung in keiner Weise und spätestens der alte Mensch erfährt, dass man ihn der Gier wegen in der Familie verachtet, aber die Nachkommen bereits infiziert sind.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Ahnung

Nicht, dass es in der Vergangenheit nicht auch schon Erkenntnisse gegeben hätte, die trotz ihrer Behauptung allein auf Vermutungen beruhten. Aber grundsätzlich sind sich alle Menschen darin einig, dass unser Wissen auf einem Denken fußt, dass in der Lage ist, erwiesene Tatsachen zu schätzen. So feindlich sich Geistes- und Naturwissenschaften gegeneinander gebärden mögen, so recht ähnlich sind sie sich dennoch bei der Wahl der Mittel, mit denen sie ihren Werkstoff bearbeiten.

Ihr Werkstoff ist eine Wirklichkeit, von der die Naturwissenschaften behaupten, sie sei fassbar, sei real. Paradoxerweise sagen die Geisteswissenschaften dasselbe, werden aber von den Naturwissenschaften mit der Behauptung konfrontiert, sie erfänden nur eine Wirklichkeit, um sie zu bearbeiten. Die Geisteswissenschaften wollen ihrerseits nicht nachstehen, sondern verblüffen mit der Aussage, dass nicht wirklich sei, was wirklich erscheine.

Das erbost nun jeden Naturwissenschaftler, obwohl er für sich selbst nicht ausschließen kann, dass er die Geisteswissenschaften benötigt, um überhaupt den Sinn seines Erforschens der Wirklichkeit zu erklären. Wie soll man aber die Kohärenz in allem erkennen, wenn man nur das Zerlegen gelernt hat?

Denken und Handeln sind die geläufigen Werkzeuge der Erkenntnis, die stets an Grenzen stößt, weil sie dem Fühlen, der Ahnung, dem Ungewissen und Ungefähren, das sich unfertig mitteilt und keine Formung hat und bereit ist, ungesichert zu bleiben, keine Berechtigung zubilligen will. Für das Unfassbare, für das normativ nicht zu Ordnende, haben wir keine Sprache. Wir könnten es Platz nehmen lassen, neben unseren Gedanken in der Hoffnung, dass es bereit ist, etwas Entscheidendes mitzuteilen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski