Archiv für den Monat: Juni 2021

Completion Process

Als junger Mensch hielt ich mich für kurze Zeit in den USA auf, um an einer Schulung teilzunehmen, die sich „Completion Process“ nannte. Es ging einfach ausgedrückt darum, nicht nur die Souveränität über seine eigenen Gedanken und Gefühle zu erlangen, sondern auch eine Methode zu erlernen, das eigene Verhalten stets als Erfolg zu begreifen und dazu nicht passende Argumente anderer Menschen damit zu erledigen, dass man sie aufforderte, über das von ihnen selbst Gedachte und Gesagte selbst intensiv nachzudenken, um so zur richtigen Erkenntnis und Aussage zu gelangen.

Diese Methode wirkt und ich schwebte damals nach meiner Rückkehr aus den USA auf einer Wolke der Selbstzufriedenheit, bis ich feststellte, dass die verblüfften Mitmenschen, Familienmitglieder und Freunde nicht mehr mitmachen wollten. Was habe ich daraus gelernt: dass es notwendig ist, Methode und Inhalte voneinander zu trennen, um zu vermeiden, dass die Äußerung selbst, ob diese mündlich, schriftlich oder durch Handeln erfolgt, durch deren Inhalt so infiziert wird, als ob sie untrennbar und selbstverständlich miteinander verbunden seien.

Genau das, was ich vor 40 Jahren erlebt habe, verkörpert für mich heute die identitäre Bewegung. Es werden vielerlei Themen benannt, aber gleichzeitig vorgeschrieben, wie damit umzugehen sei und wer sich nicht daran hält, wird aufgefordert, sich über die Art und Weise des Umgangs mit dem jeweiligen Thema selbstkritisch auseinanderzusetzen. Diese Art des ´Ver-rücktseins` hat Methode, weil es selbst ´ver-rückt` ist.

Die Evolution, die Entwicklung unseres Menschseins fordert uns im Gegenteil geradezu auf, uns mit allen Aspekten unseres Daseins nicht nur kritisch auseinanderzusetzen, sondern auch perspektivisch, argumentativ, emotional, kulturell und in jeder Richtung beispielhaft. Wenn wir uns nur für einen Augenblick bewusst werden, dass wir trotz aller feststellbaren Unterschiede Vertreter einer Menschheit sind und in der gemeinsamen Weiterentwicklung eine große Chance liegt, implodiert sofort die ganze Aberwitzigkeit der Vereinzelung. Natürlich muss ich für jeden Menschen, jedes Tier und jede Pflanze reden können, weil es mir Freude macht, alles wahrzunehmen, zu lernen, Schlüsse zu ziehen und zur Entwicklung beizutragen.

Schlimm wird es aber, wenn ich mich mangels angeblicher Inkompetenz absondere und mich darauf zurückziehe, ein alter weiser Mann zu sein. Meine Weisheit lässt dies nicht zu.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Beobachtung

Zuweilen habe ich die Selbstwahrnehmung, dass ich das Geschehen auf dieser Welt so beobachte, als ginge mich dieses nichts an. Diese Selbstwahrnehmung ist nicht eingeschränkt, sondern bezieht sich auf alle Umstände, die Corona, Kriege, Hungersnöte, Krankheiten, Armut, Fluchtursachen und Klimawandel betreffen. Alles ist zu benennen, was mich eigentlich nichts angehen müsste, da ich nicht unmittelbar Betroffener bin.

Allerdings lege ich Wert darauf, überhaupt nicht falsch verstanden zu werden, denn alles, was ich aufzähle oder auch noch nicht benannt habe, geht mich etwas an, aber meine Perspektive ist oft eine andere als diejenige vieler anderer Menschen. Vieles, was ich beobachte, scheint mir schon deshalb sonderbar, weil ich den Sinn und den Nutzen des Handelns Anderer nicht begreife, die enorme Entfernung zu meiner Wahrnehmung spüre, und mich kurzum oft fremd in einer seit Langem eigentlich vertrauten Welt fühle.

Alles, was ich beobachte, ist festgehalten in einem Moment, dessen Bedeutung ich nicht verstehe. Ich begreife nicht das Leid, das Menschen anderen zufügen, ich begreife weder Diskriminierung, noch Hartherzigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Vieles bündelt sich in Übervorteilung, Selbstsucht und Verantwortungslosigkeit. Der rücksichtslosen Selbstermächtigung eines Menschen kann erstaunlicherweise oft sogar eine gesellschaftliche Ächtung nichts anhaben. Ich beobachte sogar die Zustimmung des Opfers zu seiner eigenen medialen Hinrichtung.

Das mag pathetisch klingen, zeigt aber deutlich das Dilemma: Was hat der Mensch davon, wenn er die ganze Welt erobert, Ressourcen plündert und Wälder abfackelt? Was hat der Mensch davon, dass er zulässt, dass andere dies tun? Bin ich blind für die Ursache? Ist es lebensnäher, dagegen zu sein, als dafür, Neid stärker als die Bereitschaft zu geben? Zuweilen zweifle ich aber daran, dass meine Beobachtungen zwingend sind und ich mit meinen Einschätzungen richtig liege.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Romantik

Romantik ist einer der starken Nenner in unserer Gesellschaft – zum Glück nicht ganz fassbar – jedoch lebendig. Hier treffen sich Künstler aus Ost und West mit ihren Fragen nach der Zeit, Fragen nach Werten in unserer Zeit.

Mit der Romantik gehen wir erstaunlich vorsichtig um. Diese Zurückhaltung scheint in der Sehnsucht und in der Erinnerung an eine verborgene Substanz im Menschen begründet. Holen wir die Seele hervor, erfahren wir Neugier und Fantasie, lassen wir Hemmungen und Vorbehalte fallen!

Sind solche Wünsche merkwürdig? Was verraten sie über unseren Seelenzustand?

Diese Grußworte stellte ich einem Buch voran zu „Berliner Romantik, Orte, Spuren und Begegnungen“, welches ich im Oktober 1992 über ein Fest, das ich im Palais am Festungsgraben, dem Künstlerclub „Die Möwe“ und im Schauspielhaus mit Lesungen, Theaterstücken, Konzerten und künstlerischen Projekten veranstaltete, veröffentlichte.

Romantik als Nenner einer Stadt, die noch völlig ungeübt darin war, zusammenzufinden, aber sich auf der Suche nach Gemeinsamkeiten befand.

In meiner Ansprache vom 30.10.1992 zur Eröffnung dieses Festes führe ich dazu unter anderem aus:

„Warum Romantik? Ich gestehe, es ist keine Zufälligkeit. Ich könnte einen weiten Bogen spannen. Es hat damit zu tun, dass ich mich noch erinnern kann an Märchen der Kindheit, dass ich versucht habe, mir Empfindsamkeit zu bewahren, trotz aller Hektik und Geschäftigkeit, die Freude an Stimmungen und Gedichten zu erhalten. In der Zeit großer Leselust fiel mir auch in die Hände das Büchlein von Christa Wolf und Gerhard Wolf „Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht Gesprächsraum Romantik, Prosa und Essays.“ Ich bin mir sicher, das hat dann den Ausschlag gegeben, zu erfahren, wie die Romantiker, also diejenigen, die sich mit ihr früher beschäftigten und heute befassen, Zeitgefühle zusammenführen und dabei Grenzen überspringen.

Romantik in Schwaben, Romantik in Jena, Romantik in Berlin. Stadtromantik Berlin bedeutet eine kraftvolle Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Musik, der Literatur und der Kunst am Anfang des letzten Jahrhunderts in Salons, auf der Straße und in Briefen. Ich erinnere an Bettina von Arnims „Frühlingskrank – Briefe an den Bruder“, „Briefe des Kindes an Goethe“ und „Briefe an den König“. Ich erinnere an Achim von Arnims „Mir ist zu licht zum Schlafen“. Ich erinnere an Rahel Varnhagens Briefwechsel usw. Gerade diese Briefe zeigen, dass die Romantiker nicht selbstversunken waren, sondern aktuell auf Tagesgeschehen reagierten, mutig und entschieden, wie Bettina von Arnim, die Obrigkeit herausforderten, sich aber auch offenbarten in ihren persönlichsten Empfindungen. Sie schämten sich ihrer Gefühle nicht.“ … „Romantik als ein starker Nenner in unserer Zeit, Romantik als ein starker Nenner in dieser Stadt, ein Nenner, in dem sich Künstler aus Ost und West zu den Fragen mit uns treffen können, die uns heute in ungeheurem Maße beschäftigen und auf die eine Antwort oft so verschlossen scheint: Wie nah ist uns das Fremde? Wie fremd ist uns die Obrigkeit? Wie neugierig macht uns das Leben? Fragen nach der Zeit, Fragen nach den Werten unserer Zeit.“

Das Stadtfest erfreute sich großer medialer Aufmerksamkeit und lockte mit rund 60 Veranstaltungen über 2.500 Besucher an.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Begegnung

In Corona-Zeiten erfahren die zwischenmenschlichen Beziehungen erhebliche Einschränkungen. Die selbstverständlichen Begegnungen mit anderen Menschen, das Treffen, das gemeinsame Essen und Feiern, der Handschlag, das Küssen, das Umarmen, all dies entfällt, der andere Mensch bleibt auf Sichtweite oder ist überhaupt nur über Telefon oder virtuell zugegen.

Können wir auf die persönliche Begegnung verzichten, ersetzen virtuelle Begegnungsformate die reellen? Finden wir nach der Corona-Zeit wieder zu unseren Gewohnheiten, die wir zuvor lustvoll pflegten, zurück? Es dürfte schwerfallen, jetzt schon schlüssige Antworten zu geben, aber sinnvoll ist es, sich vorbereitend damit auseinanderzusetzen, ob virtuelle Formate, Zoom-Konferenzen und Begegnungen auf Abstand ohne Weiteres in der Lage sind, unsere körperlichen Gewohnheiten der Begegnung zu ergänzen oder zu ersetzen.

Von Geburt an erfahren wir Menschen den realen Raum und orientieren uns durch Tasten, Sehen und Riechen. Alle unsere Sinne spüren Möglichkeiten und Grenzen auf, werden während unseres Lebens grandios darin geschult, uns in einer Wirklichkeit mit anderen Menschen zurechtzufinden. Dieses Zurechtfinden benötigt den Raum, der uns verloren geht, wenn wir uns digital raumlos begegnen, einen anderen Menschen weder berühren, noch riechen, ihm nicht ausweichen müssen, sondern ihn einfach wegdrücken können, so wie wir dies heute bei vielen Videokonferenzen ohnehin schon machen. Abstand gewinnen wir so nicht mehr durch Ausweichen, sondern durch Abschalten. Dies beansprucht unsere körperlichen Fähigkeiten nicht.

Der Raum, der im Internet für uns geschaffen wird, lässt vielleicht Avatare, aber den lebendigen Menschen nicht mehr wesentlich zu. Andere Menschen, denen wir bei Videokonferenzen begegnen, sind für uns körperlich unerreichbar. Wir können an ihnen deshalb unsere Fähigkeiten der Zuneigung nicht mehr erproben. Deshalb sollten wir uns eine Zeit wünschen, in der wir anderen Menschen tatsächlich wieder selbstbestimmt ausweichen können oder müssen, sie aber auch umarmen dürfen, wenn es für den anderen Menschen passt und für uns auch.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Lebensentwürfe

Ich will Philosophen, Naturwissenschaftlern, Schriftstellern und Politikern – um nur einige zu nennen – in keiner Weise absprechen, dass sie dazu fähig sind, grandiose Lebensentwürfe für die Gesellschaft, für alle Menschen und natürlich auch für mich zu fertigen. Doch wie ist diese Selbstermächtigung legitimiert?

Womöglich dadurch, dass ihre Einschätzungen und Entwürfe mehrheitsfähig sind, Erwartungen des Klientels befriedigt werden, ggf. auch einer politischen Zwangsläufigkeit Rechnung tragen. Ich kann es nicht und vielleicht kann niemand diese Frage schlüssig beantworten. Es hat sich so eingespielt, und solange Gleichgültigkeit herrscht, Vor- und Nachteile sich die Waage halten, nimmt niemand Anstoß an diesem Umstand. Wenn es allerdings knirscht zwischen den unterschiedlichen Perspektiven, dann pocht jeder auf seinen eigenen Entwurf und pfeift auf die schweigende Allgemeinverbindlichkeit einer Haltung. Was wäre dagegen zu tun? Etwa Lebensentwürfe exemplarisch zu sammeln, das Typische an diesen zu erkennen, diese mit anderen zu verhandeln und in einem Contrat Social als Leitentwurf zu verabschieden, der Orientierung erlaubt, aber auch mit Toleranzen für unterschiedliche Entwürfe ausgestattet ist?

Dies könnte zunächst regional und später zusammenfassend zentral erfolgen, um eine größtmögliche Schnittmenge unserer Gesellschaft dabei abzubilden. Zu glauben, Wissenschaftler und Politiker könnten dies alleine, miteinander oder gegeneinander auch schaffen, dürfte sich sehr bald als verhängnisvoller Irrtum erweisen. Spätestens dann, wenn die Kakophonie der Meinungen jeden Konsens in unserer Gesellschaft unmöglich macht, begreifen wir, dass eine Verständigung auf Pluralität, Interessensausgleich und der gemeinsamen Ermittlung von Schnittmengen diverser Lebensentwürfe beruht.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski