Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist der Auffassung, es ginge in Europa auch ohne ein gemeinsames kulturelles Verständnis, d. h. jeder Staat präge seine eigene kulturelle Identität, die dann in einem Europa der Vaterländer miteinander konkurriert. Dies ist geschichtsvergessen, denn kein europäischer Staat hat je durchgängig eine umfassende eigene Identität aufweisen können, sondern wurde vielmehr stets beeinflusst durch andere, seien diese Eroberer, Migranten oder Visionäre. Ein Europa der Vielfalt weist folglich auch seine Identität durch ein gemeinsames kulturelles Grundverständnis aus. Dies sollte durch eine längst überfällige europäische Kulturverfassung zum Ausdruck kommen. Ich könnte mir deren Prinzipien wie folgt vorstellen:
Präambel
Die Europäischen Staaten sind sich sicher, dass die Garantie der kulturellen Entwicklung jedes einzelnen Menschen, von Gruppen und Ländern, in Vielfalt und gegenseitiger Achtung und Verständnis der Erhaltung, der Entwicklung und dem Fortbestand der Menschheit in Würde, Respekt und Bereitschaft zu friedlichen Problemlösungen dient.
Dies vorausgeschickt kommen die vertragsschließenden Staaten in Folgendem überein:
Artikel 1
Das Recht jedes einzelnen Menschen, sich kulturell frei und vielfältig im Rahmen dieser Verfassung zu entwickeln, ist unantastbar.
Artikel 2
Die kulturelle Betätigung von einzelnen Gruppen, Gebieten und Staaten steht unter dem Schutz der Gemeinschaft und zwar auch dann, wenn sie regional oder allgemein den jeweils herrschenden Auffassungen widersprechen.
Artikel 3
Es ist die Aufgabe jeder staatlichen Stelle, kulturelle Entwicklungen aber auch Visionen und Utopien aktiv zu fördern und sämtliche Errungenschaften vor der Zerstörung zu sichern.
Artikel 4
Jeder kann sich entsprechend seiner Fähigkeiten, seiner Visionen, seiner Utopien verwirklichen, solange er die Grundwerte der menschlichen Gemeinschaft respektiert.
Artikel 5
Die staatlichen Stellen und die Gemeinschaft insgesamt fördern nachhaltig den „Dritten Sektor“, d. h. die Entwicklung der Bürgergesellschaft durch deren uneigennütziges, ideelles Engagement, durch finanziellen Einsatz und Arbeitskraft und durch Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen.
Artikel 6
Staatliche Stellen schützen Kultureinrichtungen jeder Art, wobei die Freiheit der kulturellen Betätigung sowie Kunst und Kultur nicht am Geschmack oder der Einsicht von wenigen orientiert ist.
Artikel 7
Staatliche Stellen richten ein, bewahren und stellen der Allgemeinheit das gesamte kulturelle Erbe zur Verfügung, damit deren Erfahrungen einschränkungslos weitergegeben werden können.
Artikel 8
Kulturelles Engagement erfährt keine Begrenzung und erstreckt sich infolge dessen auf sämtliche Nationen, ethnische Gruppen, religiöse Zusammenschlüsse etc. dieser Welt. Soweit die kulturelle Betätigung sich im Rahmen des internationalen Kodex der Menschenrechte bewegt, besteht bei Maßnahmen des Kulturtransfers stets freies Geleit.
Artikel 9
Sämtliche staatlichen Einrichtungen gewähren Wissens- und Bildungsfreiheit, wissenschaftliche Freiheit wird ebenfalls umfassend gewährt im Rahmen der Festlegung der Ethikkommission der Vereinten Nationen. Die Grenzen sind dort zu ziehen, wo sich die menschliche Gemeinschaft selbst experimentell gefährdet. Dem wissenschaftlichen Forschungsdrang an sich sind insofern dort Grenzen gesetzt, wo er menschenfeindlich ist.
Artikel 10
Intoleranz, Gewalt, Terrorismus, Verfolgung von Minderheiten etc. stehen im Widerspruch zu den Grundzügen dieser Verfassung und werden geächtet und abgelehnt. Staatliche Stellen werden das Nötige tun, um dem entgegenzuwirken.
Artikel 11
Die Religionsausübung ist frei, soweit sie den Nächsten in der Gemeinschaft in seiner Würde achtet.
Artikel 12
Es besteht umfassende Informations- und Bildungsfreiheit. Zensur jeder Art findet nicht statt.
Wäre eine derartige europäische Kulturverfassung bei Zeiten geschaffen worden, wären Entscheidungen, wie sie in Ungarn und auch in Polen getroffen werden, eher unwahrscheinlich.
Hans Eike von Oppeln-Bronikowski