Archiv für den Monat: November 2021

Europäische Kulturverfassung

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist der Auffassung, es ginge in Europa auch ohne ein gemeinsames kulturelles Verständnis, d. h. jeder Staat präge seine eigene kulturelle Identität, die dann in einem Europa der Vaterländer miteinander konkurriert. Dies ist geschichtsvergessen, denn kein europäischer Staat hat je durchgängig eine umfassende eigene Identität aufweisen können, sondern wurde vielmehr stets beeinflusst durch andere, seien diese Eroberer, Migranten oder Visionäre. Ein Europa der Vielfalt weist folglich auch seine Identität durch ein gemeinsames kulturelles Grundverständnis aus. Dies sollte durch eine längst überfällige europäische Kulturverfassung zum Ausdruck kommen. Ich könnte mir deren Prinzipien wie folgt vorstellen:

Präambel

Die Europäischen Staaten sind sich sicher, dass die Garantie der kultu­rellen Ent­wicklung jedes einzelnen Menschen, von Gruppen und Län­dern, in Vielfalt und gegenseitiger Achtung und Verständnis der Er­haltung, der Entwicklung und dem Fortbestand der Menschheit in Würde, Respekt und Bereitschaft zu friedlichen Problemlösungen dient.

Dies vorausgeschickt kommen die vertragsschließenden Staaten in Folgendem über­ein:

Artikel 1

Das Recht jedes einzelnen Menschen, sich kulturell frei und vielfältig im Rahmen die­ser Verfassung zu entwickeln, ist unantastbar.

Artikel 2

Die kulturelle Betätigung von einzelnen Gruppen, Gebieten und Staa­ten steht un­ter dem Schutz der Gemeinschaft und zwar auch dann, wenn sie regional oder all­gemein den jeweils herrschenden Auffas­sungen widersprechen.

Artikel 3

Es ist die Aufgabe jeder staatlichen Stelle, kulturelle Entwicklungen aber auch Vi­sionen und Utopien aktiv zu fördern und sämtliche Er­rungenschaften vor der Zer­störung zu sichern.

Artikel 4

Jeder kann sich entsprechend seiner Fähigkeiten, seiner Visionen, sei­ner Utopien verwirklichen, solange er die Grundwerte der menschli­chen Gemeinschaft respek­tiert.

Artikel 5

Die staatlichen Stellen und die Gemeinschaft insgesamt fördern nach­haltig den „Dritten Sektor“, d. h. die Entwicklung der Bürgergesell­schaft durch deren unei­gennütziges, ideelles Engagement, durch fi­nanziellen Einsatz und Arbeitskraft und durch Schaffung der gesetzli­chen Voraussetzungen.

Artikel 6

Staatliche Stellen schützen Kultureinrichtungen jeder Art, wobei die Freiheit der kulturellen Betätigung sowie Kunst und Kultur nicht am Geschmack oder der Ein­sicht von wenigen orientiert ist.

Artikel 7

Staatliche Stellen richten ein, bewahren und stellen der Allgemeinheit das ge­samte kulturelle Erbe zur Verfügung, damit deren Erfahrungen einschränkungslos wei­tergegeben werden können.

Artikel 8

Kulturelles Engagement erfährt keine Begrenzung und erstreckt sich in­folge dessen auf sämtliche Nationen, ethnische Gruppen, religiöse Zu­sammenschlüsse etc. dieser Welt. Soweit die kulturelle Betätigung sich im Rahmen des internationalen Kodex der Men­schenrechte bewegt, besteht bei Maßnahmen des Kulturtransfers stets freies Geleit.

Artikel 9

Sämtliche staatlichen Einrichtungen gewähren Wissens- und Bil­dungsfreiheit, wis­senschaftliche Freiheit wird ebenfalls umfassend gewährt im Rahmen der Festle­gung der Ethikkommission der Verein­ten Nationen. Die Grenzen sind dort zu ziehen, wo sich die menschli­che Gemeinschaft selbst experimentell gefährdet. Dem wissenschaftli­chen Forschungsdrang an sich sind insofern dort Grenzen ge­setzt, wo er menschenfeindlich ist.

Artikel 10

Intoleranz, Gewalt, Terrorismus, Verfolgung von Minderheiten etc. stehen im Wi­derspruch zu den Grundzügen dieser Verfassung und werden geächtet und abge­lehnt. Staatliche Stellen werden das Nötige tun, um dem entgegenzuwirken.

Artikel 11

Die Religionsausübung ist frei, soweit sie den Nächsten in der Ge­meinschaft in sei­ner Würde achtet.

Artikel 12

Es besteht umfassende Informations- und Bildungsfreiheit. Zensur je­der Art findet nicht statt.

Wäre eine derartige europäische Kulturverfassung bei Zeiten geschaffen worden, wären Entscheidungen, wie sie in Ungarn und auch in Polen getroffen werden, eher unwahrscheinlich.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Prognosen

Faszinierend ist, dass wir uns gerne mit Erwartungen beschäftigen, die außerhalb unserer Beurteilung liegen müssen, weil wir weder die Kompetenz haben, den Gegenstand unserer Erwartungen richtig einschätzen und beurteilen zu können, noch sicher sind, zu leben, wenn künftig Entwicklungen eintreten, die sich auf den Gegenstand unserer Erwartungen beziehen können. Was legitimiert uns dennoch zu der Kühnheit, jenseits unseres Wahrnehmungshorizontes Prognosen abzugeben? Besitzen wir die Fähigkeit, künftige Entwicklungen zu deuten, indem wir uns das vorhandene Wissen erschließen?

Ausgeschlossen ist dies nicht. Schon vor 2.000 Jahren beschrieb Lukrez die „Natur der Dinge“ so verbindlich, dass wir, wenn wir diese aufgeschlossen lesen, das Maß unseres möglichen Verhaltens erkennen und daraus auch künftige Entwicklungen ableiten könnten. Jede Entwicklung im menschlichen Leben geschieht durch Nachahmung, und zwar angefangen vom Kleinkind bis zur Schaffung von Nationen auf allen Ebenen. Wenn man diesen Effekt auf die Probleme des Klimaschutzes und die Erhaltung unserer Umwelt überträgt, bedeutet dies, dass, wenn ein Mensch sich verpflichtet fühlt, andere Menschen durch sein Handeln anzustiften, Sinnvolles zu tun, sich aufgrund des Nachahmeeffekts diese auch veranlasst sehen, selbst dann mitzumachen, wenn damit für sie Einschränkungen und Verhaltensänderungen verbunden sind.

Da Dank Internet und Social Media die Bereitschaft wächst, andere nachzuahmen, geraten Verhaltensweisen, die auf Abgrenzung und Verweigerung beruhen, ins Hintertreffen. Singuläres Verhalten offenbart Hilflosigkeit und verdeutlicht die Einsamkeit desjenigen Menschen, der sich der Gemeinschaft verweigert. Nur in der Interaktion mit anderen Menschen können wir lernen, die Zukunft für kommende Generationen zu gestalten und zu erhalten, indem wir unsere eigene Handlungsmacht nicht von Attributen, wie zum Beispiel Geld und persönlicher Durchsetzungskraft ableiten, sondern von der durch Nachahmung erworbenen Fähigkeit, Sachverhalte neu einzuschätzen, zu bewerten und Prognosen für sinnvolle Veränderungen abzugeben.

Um dies erfolgreich zu bewerkstelligen, müssen wir erkenntnisfähig sein, bereit sein, eigene Fehler zu korrigieren und statt querzudenken, uns um Wissen bemühen, anstatt andere Menschen mit unserer Meinung zu bedrängen, zuzuhören. Wenn wir dies beherzigen, darf eine Zukunft, die wir weder schon kennen, noch möglicherweise altersbedingt kennen lernen werden, für uns schon jetzt erfahrungsoffen sein. Stärken wir nicht nur unser eigenes Bewusstsein, sondern dasjenige der Gesellschaft insgesamt, damit sie sich aufgrund dieser Wahrnehmung mutvoll und entschlossen, aber auch risikobereit und segensreich für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder engagiert.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zukunftsmodelle

Zur Gaudi des Wahlvolkes und Begeisterung der Medien war die Bundestagswahl 2021 durch einen wechselseitigen Abgleich von Peinlichkeiten, angeblichem oder tatsächlichem Versagen im persönlichen und beruflichen Umfeld und Standvermögen bei unzähligen Bewerbungsveranstaltungen geprägt. Letztere verschafften den Bewerbern Haltungsnoten, was angeblich von Bedeutung sein sollte bei der Bewältigung von politischen Aufgaben, politischen Krisen und Konflikten.

Von Angela Merkel hatte ich einmal, als sie zu ihrer Amtszeit befragt wurde, den bemerkenswerten Satz vernommen: „80 % meiner Tätigkeit im Amt als Bundeskanzlerin sah ich darin, das Schlimmste zu verhindern.“ Diese Aussage ist gut nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass nicht nur rational, sondern auch emotional unsere menschlichen Erwartungen und Handlungen auf das Situationsmanagement fokussiert sind. Dieser Bundeskanzlerin wurde unter anderem vorgeworfen, dass sie keinen wirklichen Plan für die Bundesrepublik Deutschland und deren unsere Gesellschaft gehabt habe, sondern situativ handelnd den Gefahren ausgewichen sei, die vergleichsweise die USA mit Donald Trump ereilten.

Der Einwand, dass es amerikanische Verhältnisse bei uns nie geben könnte, ist angesichts der Weltbedrohungslage, ob dies die Wirtschaft oder den Klimaschutz und kriegerische Auseinandersetzungen angeht, natürlich rein spekulativ. Tatsächlich konnte die bisherige Bundesregierung keinen Plan haben und auch die im Bundestag künftig vertretenen Parteien werden keinen Masterplan haben, wie es mit Deutschland weitergeht. Sie werden vermeiden, Zukunftsmodelle zu entwickeln, und zwar aus einem einfachen Grund: Sie wissen nicht, wie diese Modelle politisch, militärisch und gesellschaftlich aussehen sollen. Sie müssen einsehen, dass ein „America first“ des Donald Trumps ebenso wenig erfolgversprechend sein konnte, wie letztlich auch die wirtschaftliche Seidenstraße der Chinesenökonomie.

Es gibt allerdings viele Faktoren, die künftig unser Leben maßgeblich bestimmen werden. Sie sind sattsam bekannt und verlangen im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder, denen wir das Versprechen abgegeben haben, den Planeten zu retten, und zwar in den Bereichen Klimaschutz, Arterhaltung im Pflanzen- und Tierbereich, Bekämpfung des Hungers und Widerstand gegen jede sonstige Belastung und Zerstörung unseres Planeten zu handeln.

Es sind keine politischen Themen, die ausschließlich im Bundestag abgearbeitet werden, sondern vor allem menschliche und gesellschaftliche Probleme, die in einem Diskussionsprozess erarbeitet und zu einem Contrat Social führen müssen, und zwar nicht nur bezogen auf ein einzelnes Land, eine Nation oder gar Europa, sondern grundsätzlich, wie zum Beispiel durch die Bewegung „Fridays for Future“ schon angedeutet wird.

Politiker, die in den Bundestag gewählt werden, müssen künftig nicht nur in der Lage sein, Konflikten auszuweichen oder diese zu schlichten, sondern auch den gesellschaftlichen Diskussionsprozess um die Entwicklung von Zukunftsmodellen allumfassend vorzustellen und zu moderieren. Lebenssinn wird nicht durch Glaubensbekenntnisse geschaffen, sondern durch konkretes Engagement und durch Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte, denn dies haben wir künftigen Generationen versprochen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Männer

Wir leben in bewegten Zeiten, in denen Zuweisungen zur Tagesordnung gehören. Wenn ich etwas über alte, weiße Männer höre, fühle ich mich angesprochen, weil ich eine eher helle, in den Augen bestimmter Betrachter weiße Hautfarbe habe und irgendwie alt bin. Wie würde es mir gehen, wenn ich eine etwas dunklere Hautfarbe hätte, in den Augen mancher Betrachter schwarz oder gar eine Frau, weiß oder schwarz wäre?

Plötzlich scheint dann all das, was ich als völlig irrelevant betrachtete, nämlich die äußere Erscheinung, keinen äußeren Zustand zu beschreiben, sondern eine inhaltliche Zuordnung zu begründen. Die Zurückhaltung, die ich bei meiner Bewertung einzuhalten habe, irritiert mich allerdings sehr. Zu dem Leben eines dunkelhäutigen Menschen darf ich noch nicht einmal etwas vermuten, soll mir aber über meine Belastung als weißer Mann nicht nur im Klaren sein, sondern vor allem hinnehmen, dass andere Menschen genau wissen, wer ich sei.

Ähnliche Expertisen für schwarze alte Männer oder weiße alte Frauen zu verlangen, ist aus Sicht der mutmaßlich richtig Urteilenden bereits eine Anmaßung, die typisch ist für alte weiße Männer, die im Leben ohnehin schon viel Zerstörung angerichtet hätten und statt kollektiv zu bereuen ihre eigene Würde als alte Männer – Menschen einfordern.

Ob in der Sprache oder im Verhalten, wenn Diskriminierung einmal ein legitimes Instrument in den Händen von Ethik-, Moral- und Verhaltensaposteln geworden ist, dürfte es schwer für die menschliche Gesellschaft werden, sich Fehler zu verzeihen, Verhalten zu überprüfen und Korrekturen im Zusammenleben dort vorzunehmen, wo sie wirklich erforderlich und hilfreich sind.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski