Archiv für den Monat: Juli 2022

Gender

Die Genderisierung unseres Lebens ist schon eine merkwürdige Angelegenheit, die mich beeindruckt, weil ich sie begreifen, aber nicht verstehen kann. Ich bin nicht „etwas“ und habe bei aller Selbstbetrachtung bisher nicht erkannt, dass ich gattungsmäßig sämtlichen Zuständen zu entsprechen habe. Dabei ist dies, so entnehme ich den Anforderungen, keine Entscheidung meinerseits, sondern verpflichtend und soll mittels der Sprache so auf mich einwirken, dass ich mich zumindest als Teil eines Ganzen empfinde.

Die Sprache ist dabei nur das prozessuale Mittel, um zu erreichen, dass wir alle nicht nur respektvoll miteinander umgehen, sondern uns auch nicht aussondern. Zu begreifen ist dabei allerdings wenig, dass in der Regel in Medien nur von dem Verbrecher oder dem Täter gesprochen wird und Verbrecherin nicht präsumtiv, sondern nur dann vorkommt, wenn im Einzelfall dies zur Debatte stehen sollte. Vielleicht handelt es sich hierbei um einen nicht abgeschlossenen Lern- oder Verstetigungsprozess.

Auch, wenn fast schon ermattet der Hinweis erfolgt, dass ein Student oder eine Studentin etwas anderes sei, als ein Studierender, weil Letzteres eine Tätigkeit darstelle, also prozessual wirke, trägt dies nicht zur Einschränkung des aufgenommenen Korrektureifers bei. Sprache ist sicher zum Gebrauch dar, aber stellt auch eine Herausforderung dar, über Sachverhalte nachzudenken, wie zum Beispiel über Denkmäler. Es ist vom Wachstum der Sprache die Rede und ihre Einzigartigkeit, die einem gesellschaftlichen Konsens entspricht. Besteht für das Gendern ein gesellschaftlicher Konsens? Ich weiß es nicht.

Wir müssen uns allerdings kritisch damit auseinandersetzen, welche Verluste damit einhergehen können, dass wir nicht nur die gegenwärtige Sprache, sondern auch all das, was bisher schon gesagt wurde, versuchen zu korrigieren, ungeschehen zu machen oder so zu verändern, dass es den gegenwärtigen Genderverpflichtungen entspricht. Bisher muss ich erkennen, dass die Anpassungsbereitschaft nicht Halt davor macht, bereits veröffentlichte Texte von der Genderisierung zu verschonen. Bisher konnte ich aber nicht feststellen, dass auch Gedichte in den Bannstrahl der gendergerechten Betrachtung gelangt sind.

Dies könnte sich ändern, zum Beispiel bei dem „Zauberlehrling“ von Johann Wolfgang Goethe, weil nicht einzusehen ist, dass es sich um einen Zauberlehrling und nicht um eine Zauberauszubildende handelt. Der Hexenmeister ist selbstverständlich auch eine Hexenmeisterin und in der vorletzten Strophe des Gedichts könnte man auch texten:

Herr*in und Meister*in! hör mich rufen! –
Ach, da kommt der/die Meister*in!
Herr*in, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
Werd ich nun nicht los.

Auch Matthias Claudius würde mit seinem „Abendlied“ nicht ungeprüft davonkommen, und zwar schon deshalb, weil er nur Brüder und keine Schwestern kennt, nur einen kranken Nachbarn und keine kranke Nachbarin. Ich versage mir hier, viele weitere Beispiele aufzulisten, denn sicher wird bald eine engagierte Arbeitsgruppe sich auch die Gedichte vornehmen, was ich insofern als überaus erfreulich empfinde, als dass die Korrektur auch stets mit der Lektüre einhergeht und in Zeiten, in denen Gedichte kaum noch rezipiert werden, so eine Renaissance ihrer Wahrnehmungen geschieht.

Aber: Noch eins aus Kurt Tucholsky „Augen in der Gross-Stadt“:


Es kann ein Feind*in sein,
es kann ein Freund*in sein,
es kann im Kampfe dein(e)
Genosse*in sein.
Es sieht hinüber
Und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verwehrt, nie wieder.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kontrolle

Ein Oppeln tut das nicht! Mit dieser Ermahnung meines Vaters waren eine Fülle durchaus attraktiver Möglichkeiten, sich nur zum eigenen Vorteil anderen gegenüber zu verhalten, erledigt. Die familiäre Kontrolle funktioniert. Dabei bin ich – wie jeder andere Mensch auch – zu allem fähig, aber, wie bereits die familiäre Kontrolle, vermag auch die genetische und die auf eigenen Erkenntnissen und Abwägungen beruhende Kontrolle einzugreifen, wenn die Bereitschaft, egozentrische Gedanken und Gefühle umzusetzen, zu mächtig wird.

Das Gewissen meldet sich. Zudem ist ergänzend die gesellschaftliche Kontrolle zu bedenken. Dafür gibt es zunächst einen einfachen Merksatz, dass man anderen nicht zufügen solle, was man selbst nicht erleiden möchte, der sehr passend ist. Selbstverständlich erschöpft sich diese Kontrolle nicht in dem Verhalten von Mensch zu Mensch, sondern umfasst auch Sitten und Gebräuche, regelt also Rituale, die im menschlichen Zusammenleben Orientierung verschaffen.

Dass dies vorteilhaft ist, scheint mir heutzutage nicht mehr einer allgemeinverbindlichen Ansicht zu entsprechen. Manche Kontrollen, wie man sich zum Beispiel an Feiertagen verhält und sich kleidet, mögen als veraltet gelten, aber jeglicher Kontrollverlust z. B. bei der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit oder bei der Nahrungsaufnahme schafft bei den Handelnden und Erlebenden Frust.

Das Ergebnis ist, dass die Eigenkontrolle allgemein erlahmt und sich jeder so verhält, wie es seiner augenblicklichen Eingabe entspricht. Der Mensch ist lernfähig, aber vor allem verlernfähig. Irgendwann, und zwar wahrscheinlich sehr bald, erodiert das Vertrauen in andere Menschen, insbesondere dann, wenn die Maßstäbe menschlichen Handelns völlig zur Disposition gestellt werden.

Dass dies sehr bald geschehen könnte, liegt auf der Hand. Sobald infolge des Klimawandels, der Energiekrise, der Überbevölkerung, der Migrationsströme und anderen Herausforderungen nur funktionierende, persönliche, familiäre und soziale Kontrollen noch ein ertragbares Miteinander ermöglichen, werden wir uns darauf besinnen müssen, dass die Freiheit, auch auf Kontrollen zu verzichten, den Vorteil sie zu haben, nicht übertrifft. Es ist gut, souveräner in den Grenzen, welche die Familie, die Gesellschaft, die ich mir selbst vorgebe, zu handeln.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Religion

Religion sei Opium für das Volk, meinte Karl Marx. In Scharen laufen der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland die Gläubigen davon. Die Kirchen geraten hierdurch in finanzielle Bedrängnis, stellen sich aber auch die Frage, ob ihre geistliche Betreuung noch zeitgemäß und nachgefragt ist.

Was passiert? Werden die Menschen spirituell abstinent? Das kann ich mir nicht vorstellen. Eher habe ich den Eindruck, dass die Kirche nicht mehr leisten kann oder leisten will, was sie verspricht. Glaube ist nicht Opium und kein Hokuspokus. Der Glaube als spirituelles Bindeglied ist nicht individuell, sondern kollektiv und bestätigt so auch verantwortlich den Sinn des Lebens jedes einzelnen Menschen mit anderen Menschen, der Natur und letztlich der ganzen Welt.

Wenn diese ans Religiöse gebundene Selbstvergewisserung erodiert, fressen die Zweifel nicht nur an der menschlichen Existenz, sondern allen Sinn des Lebens. Wahrheit ist in Bezug auf Religion völlig belanglos. Es geht um Bekenntnisse und Haltung, die zeitadäquat einen Sinn der Gemeinschaft bekräftigt, die Halt, Zuversicht und Freude bieten kann. Nicht die Religion ist Motor unseres Handelns, sondern wir nutzen religiöse Fähigkeiten, um unsere gesellschaftlichen Aufgaben zu bewältigen.

Deshalb sind Religion, unsere Symbole und Kirchen unverzichtbar für unsere Gemeinschaft, ob diese nun christlich, jüdisch, islamisch, hinduistisch oder buddhistisch sei. Auch diejenigen, die ihre Religion an einer aufklärenden Natur oder anderen Umständen festmachen, sind nicht weniger wichtig, soweit sie den Zusammenhalt einer verantwortungsbewussten Gesellschaft bestätigen.

Religionen, die auf Abgrenzung und Gegnerschaft aufbauen und Machtansprüche erheben, können keine Zukunftsmodelle liefern und werden scheitern, sei es an den Menschen, die sich abwenden oder am inneren Widerspruch zu den Stiftern aller Religionen. Wir müssen uns nichts vormachen. Ohne uns Menschen gibt es keine Religion. Es liegt also an uns, ob und wie wir für deren Erhaltung sorgen und sie nicht durch selbstgefällige Misanthropen zerstören lassen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski