Archiv für den Monat: September 2023

Eskalation (Teil 2)

…Daraufhin spreche ich nochmals explizit die ältere Frau an, die dann doch kurz den Blick hebt und mich wissen lässt, sie sei derart in ihr Buch vertieft und im Übrigen seien ihre Enkel nicht so. Diese würden so etwas nicht machen. Der Mann mittleren Alters schweigt weiter und die junge Frau steigt an der nächsten Station noch immer grinsend ohne Wortbeitrag aus.

Ich stelle fest, dass keiner der im Abteil Anwesenden mir beigestanden hat und meinen Appell an den Jungen unterstützte. Mein Eindruck ist, dass die Menschen bereit sind, alles hinzunehmen, zumindest solange, sie durch das Verhalten anderer nicht unmittelbar selbst betroffen werden. Und wie schätze ich mein eigenes Verhalten ein?

Ich fühlte mich jedenfalls hilflos, etwas wütend und auch traurig. Was vermag ich denn wirklich? Kurz hatte ich erwogen, den „Flegel“ zu fotografieren. Aber, was wäre das für ein Quatsch geworden! Sicher noch ein weiteres Zeichen meiner Hilfslosigkeit und dabei hätte ich noch riskiert, dass er mich entweder auslacht oder mich schlimmstenfalls auch angreift und ich in eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm verwickelt werden würde.

Menschen, mit denen ich meine U-Bahn-Erfahrung dieses Tages teilte, rieten mir, künftig auf solche Ermahnungen zu verzichten, da sie eskalieren könnten. Hier halte ich, wie ich dies auch in meiner kurzen Ansprache an meine Mitreisenden im Abteil versucht hatte, damit dagegen, dass wir alle eine auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung haben, derartige Vorkommnisse zu verhindern, da Gewalt, Rüpelhaftigkeit, Zerstörung, Missachtung der Werte anderer nicht zur Regel werden dürfen.

Ich führte auch an, dass wir alle ohnehin schon unter der rapiden Zunahme der Rücksichtslosigkeit leiden würden. Tatsächlich kann ich diese Gleichgültigkeit gegenüber dem durch den Jungen gezeigten Verhalten nicht hinnehmen. Sie sind vergleichbar mit den Pöbeleinen, die überall an der Tagesordnung sind, der Rücksichtslosigkeit gegenüber älteren Menschen und auch Behinderten. Dabei ist zu bedenken, was es für mich selbst und auch andere Menschen bedeuten würde, wenn ich meine Missachtung und die damit verbundene Abwehrhaltung aufgeben würde? Ich stelle mir dabei vor, was geschehen würde, wenn statt der von mir beschriebenen Anwesenden im Zug drei Rechtsradikale zugestiegen wären, den Jungen gesehen, diesen entweder angebrüllt oder gleich versucht hätten, ihn gewaltsam von der Bank zu ziehen. Dies zumal dann, wenn sie erkannt hätten, dass er einen Migrationshintergrund hat.

Was ich beschreibe, ist nicht nur vorstellbar, sondern es geschieht tatsächlich. Was würde ich tun? Ich würde versuchen, dem Jungen zu helfen und mich bemühen, die Radikalen von ihm abzuhalten. Das ist allerdings auch risikoreich und gefährlich. Hätte ich dann die Unterstützung der anderen Mitreisenden erhalten? Ich fürchte nein.

Es wäre bestimmt alles so verlaufen, wie ich es schon beschrieben habe. Wenn wir es allerdings nicht schaffen, als Gemeinschaft zu lernen, solidarisch zu handeln, für die von uns geschaffenen Regeln und Ordnungen einzutreten, für Deeskalation zu sorgen, dann droht uns eine Zunahme der Gewalt in jeglicher nur denkbaren Art und Weise. Das müssen wir im Interesse unserer Enkelkinder, Kinder, anderen Menschen und uns selbst verhindern.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Eskalation (Teil 1)

In der U-Bahn sitzt mir ein Junge gegenüber. Er ist etwa 10 bis 11 Jahre alt. Aufgrund seiner äußeren Erscheinung nehme ich an, dass er einen migrantischen Familienhintergrund hat. Er beachtet mich nicht, telefoniert und spricht, so ist meine Wahrnehmung, ein sehr gutes Deutsch. Er hat sich aber so hingesetzt, dass er seinen linken Schuh hoch und auf den übernächsten Sitzplatz gestellt hat, eine für ihn bequeme Lage zum Telefonieren.

Auf der Bank neben ihm sitzt eine junge Frau, deren Alter ich auf etwa 40 Jahre schätze. Neben mir sitzt eine etwas ältere Frau, etwa 60 Jahre alt und neben ihr noch ein junger Mann, etwa 30 Jahre, nehme ich an. Die junge Frau ist in ihr Smartphone vertieft, aufgrund der Sichtbehinderung durch die ältere Frau kann ich nicht sehen, was der junge Mann macht, wahrscheinlich dasselbe. Die ältere Frau liest in ihrem Buch, es steigt auch ein Mann, etwa im Alter von 50 Jahren zu, setzt sich aber nicht, sondern steht in unmittelbarer Nähe dabei.

Ich fordere bestimmt, aber durchaus höflich, den Jungen auf, seinen Schuh von dem Sitz zu nehmen und begründe dies mit dem Argument, dass später sicher andere Menschen dort sitzen mögen und für diese es nicht angenehm sei, wenn zuvor Straßenschuhe dort gelagert haben. Ich wiederhole zwei Mal meine Appelle. Der Junge reagiert aber nicht. Nach meinem dritten Versuch, ihn anzusprechen, stellt er auch seinen weiteren Schuh auf den Sitz und zeigt mir seinen „Stinkefinger“, und zwar dies wiederholt. Wohlwissend, dass dies nichts bringen wird, aber sozusagen als Ausdruck meiner Hilflosigkeit werfe ich ihm schlechte Manieren vor. Der Junge reagiert aber auch darauf nicht mit einer Korrektur seiner Haltung. Nach drei weiteren Stationen steigt er dann aus.

Während ich ihn angesprochen habe, schaute ich mich schon um, die junge Frau grinste, starrte aber weiter in ihr Smartphone, hob den Blick nicht. Die Reaktion des jungen Mannes kann ich nicht feststellen, da er weiterhin von der älteren Frau verdeckt ist. Während meiner ganzen Ansprache hebt diese nicht den Blick aus ihrem Buch, der Mann mittleren Alters scheint nur körperlich anwesend zu sein. Keiner der Anwesenden im Abteil zeigte irgendeine Reaktion, was mich veranlasste, nachzufragen, ob denn keiner mitbekommen habe, um was ich mich hier bemühte und wie die Reaktion des Jungen ausfiel. Keine Reaktion…

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zeitenwende

Einmal als politisches Schlagwort im Kontext des Angriffs auf die Ukraine 2022, insbesondere durch den Kanzler Olaf Scholz in Szene gesetzt, schaffte der Begriff es sogar, als Wort des Jahres zu reüssieren und schließlich als eine allzeit und allseits taugliche Beschreibung eines Befundes nicht nur in die Sprache, sondern auch in die Köpfe vieler Menschen, und zwar auf Dauer, einzuziehen.

Der Begriff Zeitenwende wird also heute fast ebenso inflationär, wie der Begriff Nachhaltigkeit genannt. In beiden Fällen hat dies zur Folge, dass sich dieser an sich unbestimmte Begriff inhaltlich abnutzt, ohne zuvor substantiell brauchbar Inhalte oder Nutzen für uns Menschen zu produzieren. Doch was könnte Zeitenwende denn verkörpern?

Eine Ära die zu Ende geht oder ein Neubeginn? Welcher Beginn könnte im geschichtlichen Kontext dann damit gemeint sein? Ist denn nicht alles, was überhaupt geschieht, neu und entsteht als Folge von etwas bereits Vorhandenem? Den Eintritt welcher Umstände könnte man denn als Zeitenwende bezeichnen?

Ich würde sagen, zum Beispiel die Entstehung des Lebens auf diesem Planeten, das Auftauchen der ersten Menschen und die Übernahme wesentlicher Funktionen durch die künstliche bzw. treffender artifizielle Intelligenz. Möglicherweise leitete das Jahr „0“ unserer Zeitrechnung eine Wende ein, wie auch hoffentlich bald die Beendigung des hemmungslosen Ressourcenverbrauchs unserer Erde durch den Menschen.

Zeitenwende sind meines Erachtens Zukunft gestaltende Zeitzeichen und markieren unsere jeweiligen politischen und damit auch gesellschaftlichen Verhaltensweisen, die so gravierend sein müssen, dass sie auch auf die gegenwärtige und künftige Geschichte bleibenden Einfluss nehmen. Bei Kriegen, so fürchterlich sie auch sein mögen und schlimme globale Verwerfungen hervorrufen, vermag ich daher keinen Zeitwendencharakter zu erkennen.

Wir versuchen eher durch solche Zuweisungen Phänomene zu bändigen, die sich nicht wieder in die Flasche zurückbringen lassen, aus denen der Geist deshalb entwich, weil wir verhängnisvollerweise die Flasche öffneten und dafür jetzt nicht mehr verantwortlich sein wollen. Die von uns so bezeichneten Zeitenwenden sind aber keine Umstände, die unserem verantwortlichen Handeln entzogen sind. Sie werden uns nicht aufgedrängt, sondern wir gestalten sie selbst, teilweise nachhaltig verheerend.

Zeitenwende oder eher ewig menschlich?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Krankheit

Krankheiten sind sehr populär. Sie erfahren eine große politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und private Beachtung, aber erstaunlicherweise ist damit nicht verbunden, dass Menschen Krankheiten als eine sehr persönliche Herausforderung begreifen und die Chance nutzen, sich mit diesen und der Wirkung auf ihren eigenen Körper auseinandersetzen.

Damit meine ich nicht nur die manifeste Erkrankung des Körpers an sich, sondern schon der Prozess, der zu einer Erkrankung führt, also die Lebensweise und unterlassene Prophylaxe durch bestimmte Maßnahmen. Für viele Menschen bedeutet Krankheit nur ein unvermeidbarer Zustand, dem sie ausgeliefert sind und dadurch zu entgehen hoffen, dass sie sich wieder anderen ausliefern, also Ärzten, Krankenhäusern und Wunderheilern. Dies alles in der Erwartung, dass der frühere scheinbar unbeschwerte Zustand wieder herbeigeführt werden kann. Um diesen Eindruck zu fördern, sorgt eine gigantische Gesundheitsindustrie dafür, dass diese Illusion beständig erhalten bleibt, denn Krankheit ist ein unverzichtbarer Wertschöpfungstreiber und je verfügbarer ein Mensch ist, umso vielfältiger ist es um die Möglichkeiten bestellt, seine Krankheit dauerhaft zu vermarkten.

Zwar werden eine gesunde Lebensweise, Sport und verschiedene weitere Maßnahmen prophylaktischer Krankheitsvermeidung immer wieder empfohlen, dies aber sicher wohlwissend, dass Appelle kaum Gehör finden, angesichts einer vollständig auf die Ich-Wohlbeförderung ausgerichteten allgemeinen Lebensanschauung, die dank aller Versprechen dafür sorgt, dass die Erwartungen so nicht versiegen und der Mensch lebenslang als Konsument zur Verfügung steht.

Daran wird sich auch nichts ändern, es sei denn, die wirtschaftliche Gesamtlage erfährt in der Folge klimatischer, politischer, pandemischer und auch kriegerischer Verschlimmerungen unserer objektiven Verhältnisse eine derartige Belastung, dass die Menschen sich den Verzicht auf eine auch persönliche Zuständigkeit in Fragen ihrer Gesundheit und Lebenserhaltung nicht mehr leisten könnten. Taucht der Versuch, den Menschen selbst in Verantwortung zu nehmen, gelegentlich schon in der öffentlichen Diskussion auf, so ist es erstaunlich, dass im Gegensatz zum abstrakten Allgemeindiskurs dann doch sehr persönliche Verbindungen zur eigenen körperlichen Wahrnehmung aufgebaut werden können.

Der Mensch ist lernfähig. Doch leider zeigt es sich, dass es bereits an der Ausbildung junger Menschen mangelt, die Notwendigkeit der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit des eigenen Körpers zu erfassen. Die Übernahme der persönlichen Verantwortung beim Konsumverhalten, wie Tabak, Alkohol und Fast Food würde zur Reduzierung von Krankheiten und zur Einsparung von Kosten führen. Krankheit ist kein nachhaltiges Geschäftsmodell und sollte dies angesichts der veränderten Erwartungshaltung an die Politik, die Wirtschaft und auch den einzelnen Menschen künftig nicht mehr sein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski